19.10 Uhr
Er war verschwunden. Er war nie in der Spedition angekommen. Er war einfach untergetaucht, und es schien, als hätte es Kai Kötter alias Clay auf diesem Planeten niemals gegeben. Es gab den Beamten auch Rätsel auf, dass Kötter in keiner einzigen Datenbank auftauchte - nicht einmal in der des Einwohnermeldeamtes. Es gab keinen Telefonbucheintrag auf seinen Namen, kein Fahrzeug, das auf ihn zugelassen war und keine Geburtsurkunde auf diesen Namen.
Kötter blieb auch, nachdem sie ihn als Täter entlarvt hatten, ein Phantom.
»Er verschwindet in der Nacht, wie eine Fledermaus«, murmelte Franka und trank ihren inzwischen kalt gewordenen Kaffee. Micha hatte am Schreibtisch gedöst; die Füße auf die Platte und den Kopf auf die Brust gelegt. Nun schreckte er hoch, murmelte eine Entschuldigung und nickte. »Ein Wesen der Nacht, das ist das, was er den Frauen immer vorgab zu sein. Im wahren Leben ein Kurierfahrer, der nachts arbeitete und an seinen freien Tagen leicht bekleidete Frauen fotografierte, um sich sein Gehalt aufzubessern.«
»Und um seinen perversen Trieb zu befriedigen«, stimmte Franka gallig zu.
Es war spät geworden, und die Fahndung nach Kötter war bislang ergebnislos verlaufen. Zwar hatte Bever, nachdem Kötter nicht wie angekündigt auf dem Speditionshof aufgetaucht war, den Fahndungsdruck erhöht - er hatte jeder Streifenwagenbesatzung den Ausdruck mit Kötters Konterfei mitgegeben - aber es schien, als gebe es Kötter gar nicht.
Zwei Büros weiter war Georg Brackwede damit beschäftigt, den Computer von Bernd Wiesinger auszuwerten, den die Kollegen von der Sitte am späten Nachmittag in U-Haft gesteckt hatten. Hans Schimpf verdächtigte Wiesinger, Frauen zur Prostitution angestiftet zu haben, um sich an deren Provisionen zu bereichern. Brackwede hatte bereits mit seiner Frau Renate telefoniert und ihr angekündigt, dass er wohl die Nacht im Präsidium an der Friedrich-Engels-Allee verbringen würde, da sich die Arbeit aufgrund der schrecklichen Mordreihe in seinem Büro häufte. Tatsächlich war in Wiesingers Rechner eine Zwei- Terrabyte-Festplatte verbaut, und es würde seine Zeit dauern, den Massenspeicher zu spiegeln, bevor er sich ans Werk machen konnte. Erschwerend kam hinzu, dass Wiesinger die relevanten Daten mit Passwörtern geschützt hatte, die es zu umgehen galt.
Micha streckte sich und gähnte herzhaft.
»Lass uns Schluss machen für heute«, schlug Franka vor. »Das bringt alles nichts. Wir müssen einfach abwarten, bis Kötter den Kollegen ins Netz geht. Er kann sich ja nicht in Luft aufgelöst haben.«
»Nichts da, so leicht lasse ich mich von dem Kerl nicht an der Nase herumführen.« Micha schüttelte den Kopf und zündete sich eine Zigarette an. Der würzige Geruch von Tabak erfüllte das Büro. Unten auf der Friedrich-Engels- Allee floss der Verkehr zügig vorbei. Das Tief der letzten Tage war weitergezogen und hatte die schweren Wolken mitgenommen. Auch wenn der Asphalt noch feucht war, so herrschte zumindest keine Straßenglätte mehr. Die Temperatur war in den letzten Stunden um mehr als fünf Grad angestiegen. Die Männer vom Winterdienst konnten in dieser Nacht wohl ihr Schlafdefizit der letzten Tage nachholen. Erst waren graue Regenwolken über der Stadt aufgezogen, die jedoch von einem starken Ostwind vertrieben worden waren.
»Nun kann Weihnachten kommen«, brummte Micha. »Erst wenn es mehr als fünfzehn Grad sind, dann ist in Wuppertal Heiligabend.«
»Bis dahin will ich Kötter im Gefängnis wissen«, erwiderte Franka und erhob sich. Ihre Glieder schmerzten, sie versuchte die bleierne Müdigkeit abzuschütteln und marschierte ein paar Schritte durch das Büro, in dem nur die kleine Arbeitslampe auf Michas Schreibtisch für Helligkeit sorgte. »Wie wäre es mit einem kleinen Ausflug?«
Micha starrte sie an, als würde Franka an geistiger Umnachtung leiden, doch sie nahm bereits die dicke Jacke vom Haken und gab ihm ein Zeichen, mitzukommen. Er war zu müde, Widerstand zu leisten und erhob sich seufzend, nachdem er den Rest der Zigarette im Aschenbecher ausgedrückt hatte.