19.40 Uhr
Mit der Schwebebahn war er von der Station Loh aus bis zur Endstation in Oberbarmen gefahren. Hier hatte er sich in eines der wartenden Taxen gesetzt und dem Fahrer die Zieladresse genannt, bevor er jetzt sichtlich erschöpft in die Kunstlederpolster des alten Mercedes zurücksank. Der Fahrer beobachtete seinen Fahrgast eine Zeitlang im Innenspiegel, dann verlor er das Interesse an dem unheimlichen Mann mit dem langen schwarzen Wintermantel und dem hochgestellten Kragen. Sein Gesicht lag im Schatten der breiten Hutkrempe. Natürlich hatte er den Lieferwagen nicht mehr zur Spedition gebracht, sondern in einer ruhigen Seitenstraße in Unterbarmen abgestellt. Der Weg zur Firma war zu riskant geworden, denn es lag auf der Hand, dass er dort von der Polizei in Empfang genommen worden wäre. Viehring musste sich die Kiste schon selber abholen, wenn er seinen Sprinter unbedingt brauchte. Er würde seinen Arbeitgeber wohl sowieso niemals wiedersehen. Aber er war sicher, dass es zig andere Möglichkeiten gab, um Geld zu verdienen.
Was bedeutete schon Geld?
Macht, Macht und noch mal Macht? Nein, es gab mehr. Und auch die Macht würde er auf anderem Wege erreichen. Mit einem zufriedenen Grinsen sank er auf die Rückbank und betrachtete die heruntergekommenen Häuserzeilen der Schwarzbach, die an ihm vorüberzufliegen schienen. Ein sozialer Brennpunkt. Armut, Arbeitslosigkeit und der völlig wirre Mischmasch der unterschiedlichsten Kulturen prallten hier täglich aufeinander. Die Kriminalitätsrate in diesem Teil von Oberbarmen lag denkbar hoch. Schon bald wurde die Bebauung spärlicher, und das Taxi passierte die Stadtgrenze.
Niemand würde ihn finden.
Die Gegend wurde im Norden der Stadt ländlicher. Eine Landstraße führte kilometerweit geradeaus, vorbei an Waldstücken und ausgedehnten Weidelandschaften. Er ließ sich mit dem Taxi bis nach Gevelsberg bringen, wo er am Freizeitbad ausstieg. Nachdem er die Rechnung beglichen hatte, betrat er die Eingangshalle des Spaßbades und ließ sich von einer jungen Angestellten, die ihn mit seltsamen Blicken bedachte, ein Taxi rufen. Immerhin stellte sie keine Fragen.
Das Taxi fuhr vor, diesmal mit einem Fahrer, den er auf Anfang zwanzig schätzte. Die blonden Haare hingen ihm strähnig ins Gesicht, als er ihn durch die runden Gläser seiner rahmenlosen Brille nach dem Ziel fragte. Nickend nahm der Fahrer die Adresse zur Kenntnis und setzte seine Dieselkutsche in Bewegung.
Er schlug Haken wie ein Hase, doch auch das war Teil seines Plans. Niemand sollte seine Spur verfolgen können. Und er war auf dem besten Wege, sein Ziel zu erreichen. Es vergingen kaum zwanzig Minuten Fahrt, bis das Taxi vor der genannten Adresse stoppte. Der Fahrer hielt den Wagen mit tuckerndem Motor am Kreisverkehr zwischen der Wittener Straße, die bereits auf Wuppertaler Stadtgebiet lag, und der Schmiedestraße. Hier würde sich seine Spur verlaufen. Vom Kreisverkehr aus konnte er sich in alle vier Himmelrichtungen wegbewegt haben.
Sie würden ihn nicht finden.
Ein wenig erschüttert über die Summe entrichtete Kötter den Fahrpreis, bevor er ausstieg. Es war ein kalter, aber klarer Abend, das monotone Rauschen der nahen Autobahn erfüllte seine Ohren. Nachdem das Taxi wieder in der Dunkelheit verschwunden war, setzte er sich in Bewegung. Niemand interessierte sich für ihn. Gemächlich spazierte er über den Bürgersteig, vorbei an dem Fischrestaurant, in dem tagsüber Hochbetrieb herrschte. Dann hielt er sich rechts und bog in den Eichenhofer Weg ein. Einzelne Häuser lagen, umzäunt von mehr oder minder großen Gärten, am Rand der kleinen Straßen. Hier hatte man mit dem Einbruch der Dunkelheit die Bürgersteige hochgeklappt. Aber auch das konnte ihm recht sein, und so genoss er nach den hektischen Tagen und Nächten, die hinter ihm lagen, die Stille hier draußen vor den Toren der Stadt. Der Vollmond tauchte die Szenerie in ein kaltes Licht. Sekundenlang stand er einfach da und starrte fasziniert auf die bleiche Scheibe des Mondes. Er glaubte, jeden einzelnen Krater auf der Oberfläche des Erdtrabanten erkennen zu können. Heute erschien ihm der Mond der Erde noch näher als sonst zu sein. Fast glaubte er die magische Anziehungskraft des Mondes zu spüren, fühlte sich davon in den Bann genommen. Dann riss er sich von dem faszinierenden Anblick los. Vor ihm lag eine parkähnliche Anlage.
Es war gut, dass er nicht mit dem Taxi vorgefahren war. Somit war seine Spur nicht bis hierhin zu verfolgen, und die Polizisten würden ihn hier so schnell nicht vermuten. Nein, nicht hier. Nicht bei ihr.
Er hatte sein Ziel erreicht. Das schmiedeeiserne Tor war nur angelehnt und quietschte leise in den Angeln, als er es aufstieß und passierte. Der Kies knirschte unter den grobstolligen Sohlen seiner Stiefel. Das Haus schälte sich aus der Dunkelheit. Es ähnelte einem kleinen Schloss - die Türmchen an den Ecken wirkten fast verspielt, und die zahlreichen windschiefen Schornsteine erinnerten ihn an ein englisches Cottage, das er in einem seiner früheren Leben einmal bewohnt hatte. Beinahe ehrfürchtig schritt er auf das prächtige Portal zu. Eine breite Treppe führte zum Eingang hinauf; die Stufen waren von zwei steinernen Löwen flankiert. Durch das bunte Tiffany-Glas in der schweren Haustür sah er, dass drinnen Licht brannte. Er fühlte sich ein wenig, als käme er nach Hause.
Kai Kötter betrat die Treppe und wollte soeben einen Finger auf den vergoldeten Klingelknopf zu seiner Rechten legen, als die Tür wie von Geisterhand geöffnet wurde und lautlos nach innen aufschwang.
»Du hast lange gebraucht.« Lächelnd gab sie den Eingang frei. Sie sah wundervoll aus.
Fast ein wenig wie Luzifer.
Ein langes schwarzes Kleid, das ihre trotz des fortgeschrittenen Alters atemberaubende Figur vorteilhaft betonte, ein tiefer Ausschnitt, der auf mehr neugierig machte, und ein Parfüm, das ihm schon im ersten Augenblick den Verstand raubte.
»Jetzt bin ich ja da.« Er trat ein, sah ihr zu, wie sie die Tür verschloss, den Schlüssel zweimal im Schloss drehte, einen Riegel und schließlich noch eine Sicherheitskette vorlegte.
Sie war einen Kopf kleiner als er, und so beugte er sich zu ihr herab, um ihr den Mund mit einem leidenschaftlichen Kuss zu verschließen. Sie zog ihn ins Schlafzimmer, wo sie unter dem Austausch von Zärtlichkeiten auf das breite Bett sanken. Auf das Bett, das sie bis vor kurzem noch mit ihrem Mann geteilt hatte. Nun war sie wieder frei. Eine Fürstin, die niemandem Rechenschaft ablegen musste.
Er schloss die Augen, als er ihre Lippen auf seiner Haut spürte. Diesmal war er es, der sich den Zärtlichkeiten einer Frau hingab. Als er die Augen öffnete, sah er ihr Gesicht überdimensional über seinem. Etwas war mit ihren Augen geschehen: Die Pupillen hatten eine eigenartige gelbliche Färbung angenommen und glichen den Augen einer Katze.
»Deine Kontaktlinsen …«, murmelte er, doch sie legte den Zeigefinger an die Lippen und bedeutete ihm zu schweigen. Er verstummte ehrfürchtig und lehnte sich zurück. Als sie den Mund einen Spalt breit öffnete, glaubte er zu träumen: Kötter sah spitze Eckzähne, die ihm entgegen blitzten und erschauerte.
»Was … was hast du vor?«, stammelte er und versuchte sich unter ihr weg zu winden. Doch sie hatte ihn fest im Griff. Trotz ihrer zierlichen Statur zeigte sie eine unglaubliche Stärke und umklammerte ihn mit ihrem Blick.
»Aber, Junge. Das weißt du doch ganz genau.« Sie beugte sich über ihn. »Du hast versagt, auf der ganzen Linie.«
Er wollte etwas Sinnvolles antworten, sich rechtfertigen, doch dazu fand er keine Gelegenheit, denn im nächsten Augenblick sauste ihr Kopf auf ihn herab, und er hatte keine Chance, sich zu wehren. Kötter spürte ihre spitzen Zähne, die sich unnachgiebig in sein Fleisch bohrten, dann spürte er den saugenden Schmerz. Ihm war, als saugte sie ihm das Leben aus den Adern. Kai Kötter, der Mann, der drei Frauen gedemütigt und zwei von ihnen getötet hatte, der zwei Männer aus dem Weg geräumt hatte, weil sie zu einer Gefahr geworden waren, wurde immer kleiner. Als sich ihre Zähne in seine Halsschlagader bohrten, spürte er, wie er von innen heraus explodierte. Es war, als fing sein Körper gerade Feuer. Ein gellender Schrei kam über seine Lippen, bevor er sich ein letztes Mal aufbäumte, um dann leblos zurück in die Laken zu sinken.