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EIN AKKORD VERÄNDERT MEIN LEBEN
Briten bei Bartos. Die Musik der Sixties spricht zu mir. Help! Ein Winter in Berchtesgaden. Der Ernst des Lebens? Wie werde ich eine Band? Fotosession im Kinderzimmer. Franz, Klaus und ich. Band sucht Gitarristen und Schlagzeuger. Beat-Musik in Düsseldorf. Im psychedelischen Volkswagen-Bus. Schlagzeugunterricht bei Otto Weinandi. Meine erste Liebe. The Jokers. Abschied von zu Hause.
Briten bei Bartos
Das Jahr 1964 begann turbulent. Marietta hatte sich bei einem Tagesausflug im Wald verlaufen. Nachdem sie bis in die Dunkelheit herumirrte, sah sie in einiger Entfernung ein Licht, ging darauf zu und erreichte eine Kaserne, in der die britischen Streitkräfte untergebracht waren. Der Zufall wollte es, dass in dieser Nacht Lance Corporal Peter Hornshaw Dienst hatte. Als er die Tür öffnete und Marietta weinend vor ihm stand, verliebte er sich – wie er mir später einmal sagte – auf den ersten Blick in sie.
Schon den ganzen Abend hatten wir uns große Sorgen gemacht. Umso erleichteter waren wir, als es gegen 23 Uhr an der Tür klingelte und zwei britische Soldaten, die in ihrer Militärpolizei-Uniform recht beeindruckend aussahen, meine Schwester unversehrt ablieferten. Peter und Terry, so hießen die beiden, bekamen den besten Tee, den Rosa zu bieten hatte, und jeder von uns bedankte sich mindestens tausend Mal bei ihnen: »Thank you, thank you very much.
«
In der nächsten Zeit schaute Pete, wie er von allen genannt wurde, verdächtig oft bei uns vorbei, um sich nach dem Wohlbefinden von Marietta zu erkundigen. Ich wusste natürlich sofort, was los war. Naja, ich hatte zumindest so eine Ahnung … Tatsächlich freundeten sich die beiden an und kamen sich näher. Rosa und Hans-Joachim blieben locker – es gab keine Berührungsängste gegenüber dem sympathischen Briten. Pete bemühte sich auch sehr um mich, den kleinen Bruder. Schon bald hatte er meine ganze Sympathie. Als ich obendrein im Landrover der britischen Militärpolizei mitfahren durfte, war auch das letzte Eis geschmolzen.
Pete, damals einundzwanzig, brachte einen wohltuenden nordenglischen Wind in unsere Familie. Ich weiß nicht, wie oft er mit Terry zum Tee oder Abendbrot vorbeikam. Manchmal hatten sie vorher etwas im Supermarkt der Streitkräfte eingekauft, zum Beispiel Blumen für meine Mutter, eine Flasche Whiskey für meinen Vater oder für mich eine Tafel Cadbury-Schokolade. Die beiden waren total in Ordnung. Mir gefielen die englische Sprache und ihr Humor.
Bald wurde uns klar, dass sich zwischen Marietta und Pete etwas Ernstes anbahnte und sich das Leben unserer Familie verändern würde. Aber noch etwas anderes nahm seinen Lauf, dessen Auswirkungen mein Leben grundsätzlich und für immer verändern sollten. Rosa hatte sich von einem Vertreter eine Mitgliedschaft im Bertelsmann-Lesering aufschwatzen lassen. Für einen monatlichen Mitgliedsbeitrag konnte man dort Bücher beziehen – besonders günstig, wie es hieß. Neben Büchern gab es aber auch Plattenspieler und Schallplatten. Rosa liebte Musik und schlug zu. Denn zusammen mit Cliff Richards »Living Doll« und Elvis’ »Return To Sender« schien es ein perfektes Geburtstagsgeschenk für Marietta zu sein. Der neue Philips-Plattenspieler hatte ein cremefarbenes Gehäuse, einen türkisfarbenen Drehteller und Abspielarm. Über ein
Kabel mit zwei Bananensteckern wurde der Plattenspieler mit unserem Grundig-Radiogerät verbunden. Das klang für uns damals perfekt. Jeden Monat bestellten Marietta und meine Mutter nun bei Bertelsmann Musik. Wir hörten jetzt von Ronny: »Hundert Mann und ein Befehl«, »Geisterreiter«, »Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand«, von Leonard Bernstein: West Side Story
, oder von Max Greger: Kellerparty
mit jeder Menge Swing-Musik – passend zu »gepflegten Getränken und Tanz«. Das ist natürlich nicht die Veränderung, von der ich gesprochen habe. Die ließ noch etwas auf sich warten, aber dann traf sie mich unerwartet und frontal.
Die Musik der Sixties spricht zu mir
Bei einem seiner nächsten Besuche brachte Pete eine neue Schallplatte mit und legte sie mit den Worten »Listen to the new Beatles album« auf den Plattenspieler, setzte die Nadel auf die Anfangsrille der schwarzen Vinylscheibe und sah uns erwartungsvoll an. Es knisterte zunächst ein wenig, aber dann ging’s los: Bäng! – »It’s been a hard day’s night, and I’ve been working like a dog …« Wir hörten die Songs der A-Seite. Pete sang hin und wieder ein paar Textzeilen mit. Marietta bewegte sich, wie ich fand, sehr seltsam zur Musik. Wir drei lachten die ganze Zeit. Bis heute kann ich mich daran erinnern, wie beeindruckt ich von der Leichtigkeit dieser Musik war. Vor allen Dingen die schnelleren Upbeat-Nummern hatten es mir angetan. Das Schlagzeug hämmerte eindringlich, die Gitarren klangen unglaublich frisch, und die Stimmen – laut und selbstbewusst – schienen direkt an mich adressiert zu sein. Klar: Die Inhalte der Texte konnte ich nicht verstehen, die Worte waren reiner Klang, aber ich verstand den Ausdruck des Gesangs.
Dann drehten wir die Schallplatte um, und ohne Pause ging
es weiter bis zum letzten Titel »I’ll Be Back«. Dann nochmal umdrehen und von vorne – immer wieder. So etwas hatte ich noch nie gehört, es haute mich um.
Ich hatte keine Ahnung, wer diese Leute waren, die sich The Beatles nannten. Das Albumcover brachte auch nicht so wahnsinnig viele Erkenntnisse. Ja, gut, Engländer mit merkwürdigen Frisuren, das waren sie wohl. Aber das stand für mich nicht im Vordergrund. Ich hörte einfach nur zu – sonst nichts. Die Musik von diesem Elvis Presley hatte mich zwar auch irgendwie interessiert. Aber bei den Beatles war das noch etwas anderes, sie waren eine Gruppe, eine Gang, eine Band. Irgendetwas bei mir hatte jetzt auf Empfang geschaltet. Dabei war es nur der Klang von Musik, den die Schallplatte wiedergab. Dieser Klang hatte keine Geschichte, stand für mich in keinem Zusammenhang, außer dass Pete ihn mitgebracht hatte. Nicht dass er versucht hätte, mir diese Musik anzudrehen, sie zu erklären oder schönzureden und mich zu missionieren. Ich glaube, er wollte einfach nicht mehr »Geisterreiter« oder »Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand« hören, wenn er bei uns war.
Kurz darauf kassierte ich unsere Musikanlage ein: Der Philips-Plattenspieler und das Radiogerät wanderten in unser Kinderzimmer. Marietta arbeitete auch nach ihrer Lehre bei Foto Geller und kam erst abends nach Hause. Ich hatte also den ganzen Nachmittag Zeit, Musik zu hören. Wie es üblich war, kaufte ich von meinem Taschengeld 7″-Singles, und meine Schallplattensammlung wurde schnell größer.
Für viele Jugendliche in meiner Generation war die Beat-Musik eine Art Rebellion gegen ihre Eltern oder die Autoritäten der Nachkriegsgesellschaft. In unserer Familie aber bot sie keinen Anlass zu irgendwelchen Streitigkeiten. Der soziale und kulturelle Wandel der Sechziger wurde von mir gefühlt, aber nicht bewusst wahrgenommen. Ich war jung und unschuldig und staunte über die Empfindungen, die diese neue Musik in mir weckte.
Marietta gefiel der Sound der Beatles, meine Mutter liebte vor allem die langsamen Songs. Kämpfe um die »Lufthoheit« – welche Musik man hören darf und welche nicht – wurden bei uns nicht ausgetragen. Im Gegenteil: Gemeinsam bestellten wir jetzt bei Bertelsmann weitere Schallplatten: The Rolling Stones No.2
(1965) und später Aftermath
(1966). Pete brachte noch weitere Beatles-Platten mit: Please Please Me
(1963), With The Beatles
(1963) und Beatles For Sale
(1964).
Wenn es einen Zeitpunkt gibt, an dem ich mich das erste Mal in meinem Leben von Musik wirklich angesprochen fühlte, dann war es der vieldeutige Akkord am Anfang von »A Hard Day’s Night«. Er war Weckruf und Einladung zugleich. Aber wofür?
Help!
Es muss 1965 gewesen sein, als Pete eines Tages den Marschbefehl erhielt, an einer militärischen Operation in Nordafrika teilzunehmen. Wir waren alle betroffen und völlig überfordert. Marietta stand unter Schock. Die genauen Umstände der Mission waren geheim. Ich habe keine Ahnung, was damals dort abgelaufen ist, aber bei diesem Einsatz wurde Pete an der Schläfe verwundet und in ein Lazarett gebracht. Mit großem Glück überlebte er. Nach fünf langen Wochen der Ungewissheit war er endlich wieder bei uns. Er sprach nicht viel über diesen Einsatz. Sicher ist, dass er nicht spurlos an ihm vorübergegangen war. Sobald es ihm möglich war, verließ er die Armee. Pete trug für den Rest seines Lebens nie wieder eine Uniform.
In der Weihnachtszeit 1965 lief im Rex-Kino am Hauptbahnhof der zweite Film der Beatles: Help!
– in Deutschland mit dem schwachsinnigen Titel Hi-Hi-Hilfe!
Den durfte ich mir mit Pete und Marietta anschauen. Der Film hat mich völlig umgehauen. Nicht die Handlung – diese Klamotte war mir zu aufgesetzt
komisch –, aber jetzt sah ich die Jungs das erste Mal ihre Instrumente spielen und ihre Songs singen. Ich war wie hypnotisiert von der Gruppendynamik ihrer Performance. Bisher hatte ich das Musikmachen als eine Tätigkeit wahrgenommen, die von anonymen Personen – beispielsweise den Musikern eines Unterhaltungsorchesters während einer Fernseh-Show – ausgeführt wird. Das war jetzt plötzlich anders. Die Beatles waren selbstverständlich John, Paul, George and Ringo, sie spielten ihre Musik mit ihrem eigenen Sound. Und das taten sie mit einer ganz besonderen Haltung – die war gleichzeitig ernsthaft und humorvoll. Nach dem Film gingen wir zufällig bei Musik Kunz auf der Karlstraße vorbei. Die Instrumente im Schaufenster – Gitarren, Bässe, Schlagzeuge, Mikrofone, Verstärker – wirkten auf einmal völlig anders auf mich. Alles ergab plötzlich einen Sinn, die Gegenstände hatten durch die Beatles eine Bedeutung bekommen: Sie wurden zu Musikinstrumenten – fast konnte ich durch die Fensterscheibe ihren Klang hören. Es muss unglaublich toll sein, in einer Band zu spielen, dachte ich. Alles in meinem Kopf drehte sich auf einmal nur noch darum.
Marietta und Pete hatten im November geheiratet, und meine Schwester war mittlerweile von zu Hause ausgezogen. Was in meinem Zimmer blieb, war ihre Gitarre, die sie sich einmal gewünscht und geschenkt bekommen hatte. »Da war irgendwie Elvis Presly im Spiel«, erklärte sie mir später einmal. Ein oder zwei Jahre hing das Instrument dann dekorativ auf ihrer ehemaligen Seite des Zimmers an der Wand. Plötzlich erschien mir auch diese verstaubte Gitarre in einem anderen Licht. Es war eine einfache Schlaggitarre, dunkelbraun-sunburst, mit zwei F-Löchern und einem weißen Schlagbrett. Aber wenn ich einen Schaller-Tonabnehmer dranschraube, überlegte ich, lässt sie sich vielleicht verstärken. Nun nahm ich sie von der Wand, staubte sie ab und … tja, und jetzt? Die sechs Saiten waren zwar aufgezogen, aber es klang gruselig. Wie stimmt man eine Gitarre? Ma
rietta hatte keine Ahnung, sie konnte mir nicht helfen. Mein Vater wusste noch irgendwoher die Grundstimmung E-A-D-G-H-E, aber wie ging es jetzt weiter?
Ich besorgte mir alle Informationen im Musikhaus Jörgensen auf der Berliner Allee, dem größten Musikgeschäft in Düsseldorf. Für mich war der Laden das gelobte Land. Die Bläser-Abteilung war ausgestattet mit Saxofonen, Trompeten, Posaunen, Klarinetten und Flöten. Unzählige Gitarren und Bassgitarren hingen an einer Wand oder standen auf Ständern herum, Streichinstrumente aller Art hatten ihre spezielle Ecke vor dem großen Schaufenster, einige Schlagzeuge unterschiedlicher Hersteller befanden sich im ersten Stock. Orgeln von Philicorda, Farfisa und Hammond waren direkt daneben aufgereiht.
Aus irgendeinem Grund übte besonders die Notenabteilung eine starke Anziehungskraft auf mich aus. Hier gab es auch die neusten Songs der Beatles und der Rolling Stones in Notenheften. Zwar konnte ich damals noch keine Noten lesen, aber die Grifftabellen für Gitarre waren ebenfalls abgebildet. Das schien ein Weg zu sein. Wie viele Anfänger meiner Generation lernte ich die Griffe der Akkorde aus den beiden Büchern Grifftabellen für Schlaggitarre Band 1
und Band 2
. So gut ich konnte, versuchte ich zu Hause, mit Noten, Grifftabellen und Lyrics klarzukommen. Ich stellte fest, wenn ich den Text verfolgte und die Akkordsymbole im Auge behielt, ergab sich die Struktur der Songs von selbst. Diese Notenhefte und meine Schallplattensammlung, die immer weiter anwuchs, waren meine ersten Referenzen. Ich hörte nicht nur Musik – ich spielte mit so gut ich konnte und versuchte anhand der Grifftabellen zu verstehen, wie sie gemacht wird. Dabei stellte ich schon sehr früh fest, dass ich über die Akkorde eines bestimmten Songs auch eine Melodie singen konnte, die mir gerade dazu einfiel. Neben meinen autodidaktischen Übungen besuchte ich von nun an regelmäßig das Musikhaus Jörgensen, einfach, um mich in dieser Umgebung aufzuhalten,
Musikinstrumente zu sehen und in den Noten zu stöbern, auch wenn meine finanziellen Mittel begrenzt waren.
Ich erlebte meine Pubertät natürlich nicht bewusst, aber vermutlich habe ich so stark auf Musik reagiert, weil ich in dieser Lebensphase war, in der die Hormone mit mir eine emotionale Achterbahnfahrt veranstalteten. Zwei Dinge passierten bei mir auf einmal: Mein Blick auf Mädchen veränderte sich, und gleichzeitig erreichte mich Musik in dieser für mich noch nie gehörten Sinnlichkeit – das passte zusammen.
Die neuartige Beat-Musik lag damals im wahrsten Sinne des Wortes in der Luft. Neben den Soldatensendern BFBS und AFN war Radio Luxemburg der heiße Sender der Stunde. Dort lief die angesagte Musik, das sprach sich schnell herum. Und es gab wirklich jede Menge tolle Musik, auch von anderen, nie zuvor gehörten Bands. Leider war der Empfang nicht besonders gut, aber immerhin war die Qualität ausreichend, um zwischen den atmosphärischen Störungen Teile der Songs zu hören: »Pretty Woman«, »House Of The Rising Sun«, »Stop! In The Name Of Love«, »Wooly Bully«, »Mr Tambourine Man« oder »Like A Rolling Stone«, »Help Me Rhonda«, »I Got You Babe«, »Hang On Sloopy«, »Tired Of Waiting For You« und von den Stones »The Last Time« und »Satisfaction« – was für ein Sound! Und natürlich die aktuellen Songs der Beatles: »I Feel Fine«, »Eight Days A Week«, »Rock And Roll Music«, »Ticket To Ride« und »Long Tall Sally« … Schließlich konnten die Fernsehanstalten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht mehr länger ignorieren, dass dieses Genre mehr und mehr die Deutsche Hitparade bestimmte, und am 25. September 1965 übertrug Radio Bremen das erste Mal die Fernsehsendung Beat-Club
.
Anfang Dezember 1965 erschien Rubber Soul
von den Beatles, und noch obendrauf die Doppel-A-Single »Day Tripper«/»We Can Work It Out«. Das Riff von »Day Tripper« war für mich der Inbegriff der ganzen neuen Musik-Sache und ein akustisches
Weltwunder. Was ich hörte war gleichzeitig neu, rau und emotional, aber es folgte auf wundersame Weise bestimmten Regeln und Ordnungsprinzipien – die ich zwar nicht verstand, aber alles darüber lernen wollte.
Die Musik wurde sehr schnell zu meinem Lebensmittelpunkt. Klar war auch: Ich wollte nicht nur Musik hören, nein, ich wollte sie auch machen. Dazu gab es keine Alternative. Dessen war ich mir aus irgendeinem Grund absolut sicher, von Anfang an.
Ein Winter in Berchtesgaden
Über Weihnachten und Neujahr 1965/66 fuhr ich wieder mit meinen Eltern im Ford Taunus 17M nach Berchtesgaden, um Onkel Sepp und seine Frau Liesel am Hintersee zu besuchen. Eines Abends, es war schon dunkel, lief ich durch den eingeschneiten Ort. Abrupt blieb ich vor einem Schallplattengeschäft stehen. Da lag die neue Single der Stones: »Get Off Of My Cloud«. Ohne eine Sekunde nachzudenken, investierte ich mein gesamtes Taschengeld für den Weihnachtsurlaub in diese Single. Das Dumme war: Ich konnte mir sie noch nicht mal anhören, Onkel Sepp besaß keinen Plattenspieler. Egal. Schließlich waren es die Rolling Stones, und diese Jungs würden nach »Satisfaction« selbstverständlich keine zweitklassige Musik veröffentlichen. Jedes Mal war es ein ganz besonderes Gefühl, sich eine neue Platte zu kaufen, sie zu hören und sie sich anzueignen – wie ein Upload ins System.
Abends saßen wir dann im Haus von Onkel Sepp und Liesel in der Küche vor einem riesigen Kachelofen. Sepp spielte Zither und sang gemeinsam mit meiner Mutter Rosa bayerische Volksmusik. Ich hörte gebannt zu … Dieser unwiederbringliche, wunderbare Moment, wie sie sich beim Singen begeistert anschauten und lachten, und dann, als sie fertig waren, umarmten, und Rosa Fr
eudentränen weinte, werde ich nie vergessen. Natürlich war es eine andere Musik als die der Beatles oder der Rolling Stones, aber ihr liebevolles Musizieren berührte mich damals sehr. Immer wenn Menschen hingebungsvoll zusammen Musik machen, entsteht etwas Besonderes. Das wurde mir damals immer klarer.
Der Ernst des Lebens?
Im März 1966 sollte ich die Schule verlassen. Schon lange vor meinem Abschluss war klar, dass ich beim Fernmeldeamt 2 eine Lehre als Fernmeldetechniker absolvieren und Beamter im Fernmeldedienst der Post werde. Vor allen Dingen mein Großvater Alfred, der ja früher Lokführer bei der Deutschen Bahn war, hatte diese Laufbahn vorgeschlagen. »Sicheres Einkommen und sichere Pension«, höre ich ihn noch sagen. Zu der Planung meiner Eltern und Großeltern hatte ich keine Alternative auf Lager. Musik bestimmte zwar mein tägliches Leben, aber für den Beruf eines Musikers – wenn ich überhaupt so weit gedacht hätte – kannte ich kein Modell, dem ich hätte folgen können.
Mir war nicht wirklich bewusst, dass ich am Anfang einer beruflichen Laufbahn stand, die über den Rest meines Lebens entscheidet. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, über Musik nachzudenken. Das mag jetzt vielleicht etwas großspurig oder sogar eingebildet klingen, aber genau so war es. Vielleicht waren es keine besonders tiefen Gedanken. Ich wollte mich mit Musik vertraut machen und verstehen, was ich höre, und gleichzeitig versuchen, auf der Gitarre ein paar Töne zu spielen, die passen. Ich sang die Melodien nach und übersetzte die Akkordsymbole in die Griffe auf der Gitarre. Für mich waren Akkorde wie e-Moll, G-Dur, A-Dur, a-Moll nur irgendwelche Akkorde, die rein zufällig diese Namen trugen. In welcher Beziehung sie zueinander
standen, welche Funktionen sie hatten, war mir nicht bewusst. Woher sollte ich das auch wissen?
Wie werde ich eine Band?
Eines Tages sprachen wir im Unterricht über die neue Beat-Musik. Unser Klassenlehrer Maas stellte die Frage, was denn das Besondere an dieser Musik sei und warum wir sie denn so gerne hörten. Zu gerne würde ich diese Situation noch einmal erleben. Denn es ist mit Sicherheit ein sehr gutes Beispiel dafür, wie schwer es ist, über Musik zu sprechen. Ich habe ganz schön rumgestottert. Jedenfalls endete es damit, dass ich eine Strophe von »My Generation« der britischen Band The Who wie ein Gedicht aufsagte: »People try to put us down« – so geht’s ja bekanntlich los, und mein Klassenkamerad Achim ergänzte spontan »Talking ’bout my generation«. Dabei wurde mir klar, dass Achim auf meiner Linie lag, die gleiche Blutgruppe hatte und Bescheid wusste. Ich glaube, er sagte noch »Das ist unsere eigene Musik« oder so etwas in der Art. Bis »Hope I die before I get old« sind wir gar nicht gekommen – und das war gut so.
Nach dieser Stunde begleitete ich Achim nach Hause. Wir wurden Freunde, sogar so etwas wie Komplizen, und von nun an tauschten wir uns in Sachen Popmusik aus. Achim war Fan von The Who. Ihr Bassist John Entwistle gefiel ihm. Falsch: Seine Rolle in der Band gefiel ihm. Nun wollte auch er Bassist werden. »Ich spare eisern auf einen Framus-Bass«, erzählte er mir mit glühender Begeisterung. »Vielleicht kriege ich von meinen Eltern einen Zuschuss und kann mir zu meinem nächsten Geburtstag einen Bass leisten.«
Achim hatte gute Chancen. Denn sein Vater war Musikliebhaber, der einer Skiffle-Band erlaubte, in seiner Garage zu proben. Und wir durften dabei zuhören. Sie spielten Dixieland-Jazz – ein
Knaller. Denn die Jungs hatten das richtig drauf! Was sie machten, war laut und fetzig. Mich interessierten das Banjo und das Waschbrett am meisten. Und wieder übertrug sich dieses Gefühl der Interaktion einer Gruppe auf mich. Die Körpersprache der Musiker beim Spiel. Das wollte ich auch erleben. In einer Band spielen und mit anderen Musik machen war mein Traum.
Fotosession im Kinderzimmer
In der Schule und Nachbarschaft forschte ich, ob jemand Lust hatte, eine Band zu gründen. Heiko aus der Parallelklasse gab zu erkennen, dass ihm die Idee gefiel. Auch Karl, der mit seinen Eltern in der ersten Etage unseres Hauses lebte, wollte mitmachen. Der Gitarrist Jürgen, der ein paar Straßen entfernt wohnte, zeigte ebenfalls Interesse. Jürgen war schon wesentlich weiter auf der Gitarre als ich. Er hatte Unterricht bei einem Kapellmeister, wie er uns erklärte.
Vorsorglich, ohne uns auch nur für eine einzige Probe getroffen zu haben, verabredete ich mit meiner Schwester eine Fotosession in meinem Zimmer. Marietta gab ihre Anweisungen, und wir posierten. Das musste sein, denn Bandfotos gehören schließlich dazu. Auf einem Foto kann man gut erkennen, dass ich mein Zimmer mit aus Zeitschriften ausgeschnittenen Bildern von Musikern und Bands zugekleistert hatte: Vor allen Dingen die Stones sind in allen Variationen zu erkennen. Aber auch Donovan, ein gewisser Barry McGuire und die Kinks sind an den Wänden sichtbar. Nach diesem ersten »Promo-Shooting« fehlte uns noch ein aussagekräftiger Bandname. Ich hoffe, ich war nicht derjenige, der sich »The Hotbacks« ausgedacht hat. Auf keinen Fall verstanden wir damals ein Rückendekolleté darunter – eher so etwas wie heiße Typen. Ich befürchte, was heutzutage nach Ironie klingt, war damals total ernst gemeint
.
Neben einem Bandnamen gehörte selbstverständlich auch ein Schlagzeuger zum Line-up, das war ein Naturgesetz. Jede Band hatte einen Drummer. Also bettelte ich so lange bei meinen Eltern, bis sie schließlich weich wurden und mir ein Schlagzeug schenkten. Ich hatte mich bereits umgeschaut und ein erschwingliches Teka-Schlagzeug bei Musik Kunz im Schaufenster entdeckt. Teka stand wohl irgendwie für Theo Kunz, glaube ich, und war eine Eigenproduktion der Firma. Mein erstes Set bestand aus Bass Drum, Tom Tom, Snare Drum, Hi-Hat und zwei Becken. Farbe: Türkisblau. In meinem Zimmer durfte ich natürlich nicht üben, und so legte ich Kissen auf die Trommeln, setzte mich auf den Schlagzeughocker und schlug auf die Kissen, dass es nur so staubte. Ich konnte mich aber nicht endgültig entscheiden, der Schlagzeuger der Hotbacks zu sein, und übte weiterhin Gitarre und lernte die Texte der Songs.
Irgendwie scheiterte die erste Besetzung der Band jedoch an künstlerischen Differenzen, und bevor wir die erste Probe hatten, änderte sich das Line-up in: Karlheinz Bartos – jetzt Vocals und Rhythmusgitarre, Adolf Krebs – Sologitarre, Achim Bauer – Bassgitarre. Einen Schlagzeuger, der für mich das Trommeln übernehmen sollte, konnten wir nicht auftreiben. So probten wir ohne Drums im Kohlenkeller des Hauses, in dem Adolf wohnte. Manchmal besuchte mich Achim mit seinem Framus-Bass, den er tatsächlich von seinen Eltern geschenkt bekommen hatte. Gemeinsam gingen wir dann in meinem Kinderzimmer einige Songs durch, bis Mutter Rosa in der Tür stand und fragte: »Wer von euch möchte ein Tomatenbrot?«
In jeder freien Minute übte ich Gitarre und Schlagzeug. Außerdem machte es Laune, sich mit den Jungs in der Band zu treffen. Ich habe damals nicht daran gedacht, eigene Musik zu spielen. Alles, worum es mir ging, waren diese Songs, die ich im Radio hörte oder die ich auf meinen Schallplatten besaß.
Franz, Klaus und ic
h
Am 1. April 1966 begann meine Lehre als Fernmeldetechniker in der Ausbildungsabteilung des Fernmeldeamts 2 am Fürstenwall. In der dreieinhalb Jahre dauernden Ausbildung würde ich verschiedene Bereiche wie die Apparate-, Löt-, Fernmelde- und Nebenstellenwerkstatt durchlaufen, außerdem die Grundlagen der Elektrotechnik und Schaltungstechnik lernen, so stand es jedenfalls im Lehrplan. Es ging los mit neun Monaten Metallverarbeitung. U-Stücke feilen, drehen, sägen, bohren und so weiter.
Im Grunde war die Lehre der Schule sehr ähnlich: Ungefähr zwanzig Jungs in blauen Arbeitsanzügen – jeder vor seiner Werkbank – feilten an ihren U-Stücken herum und machten zwischendurch jede Menge Unsinn. Ehrlich: An Eisen herumzufeilen lag mir schon damals nicht – ich habe zwei linke Hände. Ich war – dessen war ich mir bewusst – auf einer völlig falschen Veranstaltung gelandet. Aber ich wusste einfach nicht, wie ich aus dieser Nummer wieder rauskam. Mein einziger Trost war: Um 16:30 Uhr würde ich wieder in mein wirkliches Leben zurückkehren und Musik machen.
Dieser schizophrene Zustand dauerte zum Glück nur ein paar Wochen. Eines Morgens erschien ein Mitarbeiter der Direktion in unserer Werkstatt und fragte in die Runde, ob jemand von uns ein Musikinstrument beherrscht. Anlässlich einer Festlichkeit sollte aus den Auszubildenden eine Band zusammengestellt werden, um das Programm des Abends feierlich zu gestalten. Ich meldete mich umgehend im Büro des Direktors. Scheinbar war ich der Einzige aus meinem Jahrgang, der ein Instrument spielen konnte oder es zumindest behauptete. Aber da waren Franz-Joseph Krähhahn und Klaus Rybinski aus dem zweiten Lehrjahr, die sich ebenfalls gemeldet hatten und bereits im Büro warteten. Ich sah mir die beiden Jungs an und dachte, das könnte klappen. Als ich erfuhr, dass sie beide Gitarre spielten, hörte ich mich in
einem Anflug von Größenwahn sagen: »Ich bin Schlagzeuger.« Wie kam ich nur dazu, das zu behaupten? Aber am Schlagzeug war ich auf jeden Fall besser zu gebrauchen als an der Werkbank, das wusste ich schon damals.
Der Direktor gefiel sich in der Rolle des Impresarios und strahlte über das ganze Gesicht. Wir Jungs machten uns miteinander bekannt und verabredeten uns für den nächsten Tag. Tatsächlich wurden wir von unseren normalen Pflichten freigestellt, denn ab sofort bestand unsere einzige Aufgabe darin, das Programm für die Betriebsfeier zu erarbeiten. Am nächsten Morgen transportierte ich mein Schlagzeug ins Fernmeldeamt 2, baute es in einem leerstehenden Raum auf, der uns für unsere Proben zur Verfügung gestellt wurde, und wartete auf meine Kollegen. Schon bald trafen sie mit ihren Instrumenten und Verstärkern ein.
Klaus war freundlich und bescheiden, und immer wenn es um Musik ging, auch absolut sicher. Wie sich schon bald herausstellen sollte, waren seine musikalischen Fähigkeiten von uns allen am weitesten entwickelt. Auf seiner Höfner-E-Gitarre spielte er jede Menge Akkorde, von deren Existenz ich nicht die geringste Ahnung hatte. Sein Repertoire war umfangreich, und er schlug dann ein paar Stücke vor, die wir übten. Franz übernahm die Lead-Vocals. Ich erinnere mich, wie er uns die Schnulze »Dear Mrs. Applebee« von David Garrick, die gerade in den deutschen Charts war, vorsang. Dabei begleitete er sich auf einer E-Gitarre. Ein weiterer Kollege, der schon die Lehre abgeschlossen hatte, stieß gelegentlich mit seiner Klarinette zu uns. Er spielte auf unserem ersten Gig einige Stücke wie »Petite Fleur« aus dem Repertoire von Mr. Acker Bilk.
Es kam, wie es kommen musste: Das Betriebsfest war ein voller Erfolg, und schon bald wurden wir die Vorzeigeband des Fernmeldeamt 2. Von diesem Zeitpunkt an war alles gut. Wir probten während der Arbeitszeit mehrmals in der Woche im
Rahmen des Programms »Jugendpflege« und hatten deshalb eine Art Freifahrtschein.
Schon bald beherrschten wir ein Repertoire, mit dem wir länger als eine Stunde auftreten konnten. Darunter waren Songs wie »I Saw Her Standing There«, »Then I Kissed Her«, »Black Is Black«, »San Francisco« oder Instrumentals wie »Apache«. Klaus, Franz und ich hatten eine rein handwerkliche Herangehensweise an die Musik. Über die Bands, deren Lieder wir spielten, sprachen wir nie. Auch nicht über die Musik oder die Inhalte der Texte. Es waren halt Titel, Songs oder Nummern, die populär waren, die wir gut fanden und in unserer Besetzung realisieren konnten. Bei uns passten die Shadows zu den Beatles, Hermann’s Hermits zu den Kinks und die Beach Boys zum One-Hit-Wonder Los Bravos. Genau wie in der Hitparade. Wir konnten die Unterschiede in der Haltung der Musiker oder in den Texten auch gar nicht erkennen, so naiv waren wir. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was mit »Drive My Car«, »Day Tripper« oder »Norwegian Wood« überhaupt gemeint war.
Ambitionen, eigene Stücke zu komponieren, hatten wir nicht. Das war eine andere Dimension. Uns ging es nur darum, die gerade angesagten Songs gut nachspielen zu können. Und genau das machte uns wahnsinnigen Spaß! Schon bald hatten wir den ersten Gig außerhalb des Fernmeldeamts: Wir spielten zum Tanz im Kolpinghaus auf der Bilker Straße in der Altstadt und erhielten sogar eine richtige, wenn auch bescheidene Gage.
Band sucht Gitarristen und Schlagzeuger
Es muss 1967 gewesen ein, als mir Franz eines Tages den Inhalt einer Annonce in der größten Düsseldofer Lokalzeitung Rheinische Post
vorlas: »Die Düsseldorfer Band The Anthonies’ String Group sucht einen Gitarristen – mit Gesang – und einen
Schlagzeuger.« Er machte den Kontakt und fuhr zu einer offiziellen Audition. »San Francisco« und »Then I Kissed Her« waren zwei der Songs, die er vorsang, berichtete er. Franz bekam den Job, holte auch mich in die Band, und schon bald fuhren wir beide regelmäßig mit dem Bus ein paar Stationen in den Düsseldorfer Vorort Itter zur Probe.
Günther Hilgers, der Chef der Band, war ein ziemlicher Fuchs mit einem ausgeprägten Geschäftssinn, wodurch er für den Job als Bandleader prädestiniert war. Günther spielte eine Fender Jaguar, besaß eine Echolette-Gesangsanlage und machte in seinem dunkelgrünen Samtjacket – als wäre er aus dem Film Blow-Up
gefallen – einen sehr professionellen Eindruck. Die dunkle Klangfarbe seiner Stimme war angenehm und mischte sich gut mit Franz’ hellerer Stimme. Ihr Harmoniegesang bei »Needles And Pins« konnte sich hören lassen. Zur Band gehörte noch Jörg »James« Hünsche, der einen Fender J-Bass spielte. Er hatte als Einziger eine amtliche Beatles-Frisur. Im großen Hobbykeller des Hauses seines Vaters hatte Günther einen Proberaum eingerichtet. Der Raum war groß, warm und sauber, und wir konnten mit der aufgebauten Anlage wie unter Live-Bedingungen üben.
Am 1. Juni 1967 erschien Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band
von den Beatles und mischte alles auf. Ich war total begeistert von dieser großartigen Musik. Allerdings war ich mit meinen 15 Jahren einfach noch zu jung, um die psychedelische Ebene des Albums zu begreifen. Schon der Sinn von »Tomorrow Never Knows« auf ihrer letzten Platte war an mir vorbeigeflogen wie die darin vorkommenden Tape Loops von McCartney. Die Drogen in unseren Kreisen waren nicht Marihuana, Haschisch oder gar LSD, sondern bestenfalls ein paar Bier oder Whiskey-Cola – und das waren natürlich auch keine Drogen, sondern eben Bier und Whiskey-Cola. Wir versuchten uns an einigen Songs. »With A Little Help From My Friends«, »When I’m Sixty-Four« und »
Lovely Rita« blieben länger im Repertoire. In dieser Zeit probte ich nun parallel mit der Band des Fernmeldeamts 2 (»FA2-Band«), der Anthonies’ String Group und den Hotbacks.
Beat-Musik in Düsseldorf
Dann war es endlich so weit: Am 10. Oktober 1967 spielten die Hotbacks ihren ersten Gig in einem Jugend-Tanzcafé. In diesem Line-up war ich der Leadsänger. Ich klampfte auf meiner Höfner-Gitarre herum und sang mich sofort heiser. Adolf an der Solo-Gitarre lieferte zum Glück eine solide Arbeit ab, und John-Entwistle-gleich fingerte Achim auf seinem Framus-Bass herum und unterstützte mich in den Refrains mit seiner Stimme. Wir hatten für den Auftritt einen Gastschlagzeuger eingeladen. Der Gig wurde ein Erfolg, und wir wurden direkt noch mal für den 14. November gebucht. Ich will mir lieber nicht vorstellen, wie unsere Musik geklungen hat. Zum Glück hört man auf den Fotos, die an dem Abend gemacht wurden, keinen Sound.
In der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre war die Beat-Musik endgültig in der Düsseldorfer Live-Szene angekommen, und es etablierten sich verschiedene Live-Clubs. Bands schossen wie Pilze aus dem Boden. Eine Düsseldorfer Supergroup jener Zeit waren ohne Zweifel die Spirits of Sound, mit Michael Rother – später mit Neu!, Harmonia und als Solokünstler unterwegs – an der Leadgitarre. Ebenfalls zum Line-up gehörten Wölfi Riechmann und der sagenumwobene Houschäng Nejadepour, Sohn eines persischen Teppichhändlers. Am Ludwig-Schlagzeug saß eine Zeit lang Wolfgang Flür.
Damals erweiterte ich langsam meinen Radius und hörte mir viele Bands an – wenn ich mir den Eintrittspreis leisten konnte. Im Liverpool Club spielten jeden Abend englische Bands wie zum Beispiel Casey Jones and the Governors, die mit »Jack The
Ripper« und »Don’t Ha Ha« in den Charts waren und durch Deutschland tourten. Im Vergleich zu den deutschen Bands klangen sie eisenhart und superlaut. Das hatte eine maschinelle Qualität, so sehr hämmerten sie uns ihren Rhythmus um die Ohren. Oder ich erlebte im Studio B die neue Band The Smash von Houschäng Nejadepour. Der wahnsinnige Perser spielte »Jeff’s Boogie« von der Jeff Beck Group und »Strange Brew« von Cream und war damals ein unglaublicher Virtuose auf der Gitarre. Ich stand nur ein paar Meter von ihm entfernt und traute meinen Ohren nicht. Er spielt direkt vor einem Marshall-Turm und verwandelt den ganzen Laden in einen Resonanzkörper für seinen Gitarrensound.
Wirklich, die Live-Szene Düsseldorfs war in diesen Jahren exzeptionell. Überall war etwas los …
Im psychedelischen Volkswagen-Bus
Auch mit der Anthonies’ String Group ging es gut voran: Wir bekamen die ersten Gigs, und ich sparte auf ein professionelles Schlagzeug. Bald gab ich im Laden von Theo Kunz meine Teka-Kiste in Zahlung und bestelle das original 1964er-Kit von Ludwig in Black Oyster Pearl Finish mit Becken von Zildjian. Mein Geld reichte sogar noch, um mir Cases von Premier zu leisten. Ich hatte das Gefühl, in eine andere Liga aufgestiegen zu sein.
Günther war als Manager der Anthonies’ String Group sehr engagiert. Wir nahmen am Beat-Wettbewerb Chance 67
in der Stadthalle Neuss teil und schafften es sogar auf den zweiten Platz. 1968 ging es dann so richtig los. Fast jedes Wochenende traten wir auf. Mittlerweile hatte Günther für uns und das Equipment einen gebrauchten Volkswagen-Bus angeschafft, der lustig bemalt war – schließlich befanden wir uns in der Flower-Power-Zeit. Unser Repertoire wurde umfangreicher und besser. Da wir
in den Kasernen der British Army auftraten, mussten wir die britischen Charts schon gut draufgehabt haben, sonst wären wir sicher dem beißenden Spott des Fachpublikums ausgesetzt gewesen.
Übrigens: In meinem Tagesjob war ich mittlerweile im dritten Lehrjahr und durch die FA2-Band mehr oder weniger pausenlos mit Musik beschäftigt. Franz, Klaus und ich konnten uns dort alles erlauben. Während unsere Kollegen dem Lehrplan folgten, traten wir bei Lossprechungen, Meisterfeiern oder einer Festlichkeit der Direktion auf. Die Hotbacks waren sanft eingeschlafen, aber ich übte weiter wie verrückt Gitarre.
Um meinen sechzehnten Geburtstag herum erschien »Jumping Jack Flash«, die neue Single der Rolling Stones. Ich hörte sie zuerst im Radio – und es war eine Offenbarung! Nachdem ich mir die Single gekauft hatte, spielte ich das Stück eigentlich ununterbrochen mehrere Tage lang. Das gab mir den Rest – jetzt führte kein Weg mehr zurück. Musik gab meinem Leben Sinn und Ordnung, alles andere brachte mich nicht weiter, interessierte mich nicht.
Bei meinen musikalischen Aktivitäten machte sich auch langsam ein interessanter Nebeneffekt bemerkbar, an den ich vorher gar nicht gedacht hatte: Mit der Anthonies’ String Group verdiente ich Geld. In den Sechzigerjahren gab es noch keine Discotheken, in denen DJs Schallplatten auflegten. Am Wochenende gingen die Jugendlichen in Stadthallen, Jugendzentren, Lokale, Kneipen oder Clubs, um zu tanzen. Wir wurden meistens Freitag, Samstag und Sonntag gebucht. Abwechselnd spielten wir dreißig Minuten Musik, machten zehn Minuten Pause – so ging das fünf bis sechs Stunden lang bis ein Uhr. Getränke waren für uns frei, irgendwann gab es eine Bockwurst mit Kartoffelsalat oder etwas ähnlich Gehaltvolles. Für einen Auftritt in der britischen Kaserne Rheydt oder im News Club bekamen wir pro Nase hundert Mark, das war damals eine Menge
Geld! Nicht nur für mich, einen sechzehnjährigen Fernmeldelehrling.
Die Gagen investierte ich direkt in weitere Instrumente: Eine gebrauchte Farfisa-Orgel und einen ebenfalls gebrauchten Höfner-Bass – ja, den Paul McCartney Violinen-Bass. Damit besaß ich das Basis-Instrumentarium einer Rockband und spielte Gitarre, Bass, Orgel und Schlagzeug.
Alles lief wirklich gut, aber ich fragte mich, wie es nach der Lehre weitergehen sollte, wenn wir den geschützten Raum, unser Musik-Biotop verlassen mussten. Was dann? Bricht dann alles zusammen? Fängt dann der sogenannte Ernst des Lebens an? Und wenn ja, wie sieht der aus? Werde ich jeden Tag acht Stunden ins Fernmeldeamt einfahren und eine langweilige Arbeit machen, die nicht das Geringste mit mir zu tun hat? Ein Albtraum. Meine Bedürfnisse gingen in eine völlig andere Richtung. Auf einmal tauchten in meinen Überlegungen Begriffe wie »Berufsmusiker« oder »Profi« auf. Damals verstand ich darunter Musiker, die in Tanzorchestern, Combos oder Bigbands nach Noten spielen. Ich erkannte, dass Notenlesen die Grundvoraussetzung für einen Richtungswechsel in meinem Leben war. Diese Hürde musste ich nehmen. Als ich wieder einmal bei Musik Kunz ein paar Trommelstöcke kaufte, erfuhr ich nebenbei, dass sie auch Musikunterricht vermitteln. Das wollte ich versuchen, durch unsere Gigs würde ich mir den Unterricht leisten können. Kurzentschlossen meldete ich mich bei Otto Weinandi, so hieß mein neuer Schlagzeuglehrer, an.
Schlagzeugunterricht bei Otto Weinandi
Weinandi unterrichtete seine Schüler bei sich zu Hause. Als ich seine Wohnung im ersten Stock betrat, befand ich mich mitten in der Küche, die ihm auch gleichzeitig als Wohnzimmer diente.
Neben dem Fenster ein Fünfzigerjahre-Resopal-Küchenschrank, wie er damals in jeder deutschen Küche stand. Gegenüber war der Küchentisch mit einer Eckbankbank, auf deren Plastiksitzflächen wir saßen. Unterrichtet wurde auf einem schwarzen, runden Practice Pad von Premier. Zum Üben musste ich mir auch ein solches Pad besorgen.
Ich sehe Otto Weinandi heute noch vor mir, mit seinem dunklen, etwas zu langen Haarkranz, seinem freundlichen Gesicht, das noch eine weitere, tiefere Ebene erkennen ließ. Offensichtlich lebte er allein und verdiente sein Geld damit, auf Hochzeiten, Partys und Geselligkeiten zu musizieren und Schüler zu unterrichten. Meistens trug Weinandi, damals etwa Mitte fünfzig, ein Hemd und darüber eine dunkelgraue Strickjacke. Die zog er während des Unterrichts aus und wieder an und wieder aus – je nach Schwierigkeitsgrad der Etüde, die er mir zunächst selbst vorspielte.
In den nächsten Unterrichtsstunden arbeiteten wir die Knauer Schule für kleine Trommel
durch. Zunächst, wie es sich gehört, die Schlägel- und Körperhaltung: »Man übe immer im Sitzen, indem man die Trommel schräg auf einen Stuhl stellt (oder Trommelständer). Dabei gerade, ungezwungen ohne das Rückgrat zu krümmen, sitzen.« Dazu zeigte eine Illustration einen jungen Mann mit sehr akurat geschnittenen Haaren und kurzen Hosen, der eine schräg auf einem Stuhl stehende kleine Trommel spielt. Okay, diese Methode war also ziemlich old school
. Ich musste schon ein paar Mal kräftig schlucken. Es war sehr seltsam, aber auch irgendwie cool, weil ihr Ursprung in einer anderen Zeit lag und deshalb absolut nichts mit Popmusik zu tun hatte, sondern ein anderes in sich geschlossenes System repräsentierte: die Welt der klassischen Musik.
Weinandi versuchte mir zu erklären, wie das mit den Notenwerten funktionierte. Ganze Noten, halbe Noten, Viertel, Achtel und so weiter. Eigentlich verstand ich nicht viel von dem, was
er mir erklärte: Tempo, Metrum, Takt, Rhythmus, Notenwerte, Synkopen, Triolen … die Begriffe purzelten durcheinander. Doch obwohl Sender und Empfänger nicht wirklich kompatibel waren, lernte ich auf wundersame Weise zu spielen, was in den Noten stand. Ich verstand den Zusammenhang zwar nicht intellektuell, aber intuitiv: Die Achtelnoten haben ein Fähnchen oder Balken und die Sechzehntel zwei Fähnchen oder ebenfalls Balken, und eine Anordnung der grafischen Symbole klingt in einem Viervierteltakt so und so. Auf den letzten Seiten der Knauer-Schule
befanden sich die sogenannten Orchesterstudien für kleine Trommel, die alle ziemlich kompliziert aussahen, deren Namen Fra Diavolo, Scheherazade oder Rienzi
aber meine Fantasie extrem anregten. Ich mochte die Notenschrift von Anfang an. Die fünf Linien des Systems waren für mich keine Gitterstäbe, die mir die Freiheit nahmen, sondern ein Fenster, durch das ich in meine Zukunft sah.
Und dann war da noch der Trommelwirbel – die Mühle. Der Moment, wo die langsam und bewusst ausgeführten Schläge – zwei rechts, zwei links – schneller werden und zurückfedern und in eine fließende Bewegung übergehen, war eine ziemliche Hürde für mich. Aber ich habe einfach tagelang nichts anderes gemacht, als die Mühle zu üben, bis sie gleichmäßig schneller wurde und rollte. Natürlich lernte ich bei Weinandi die altmodische Haltung der linken Hand – der traditionellen Griffweise –, wo der Trommelstock zwischen dem dritten und vierten Finger geführt wird.
Währenddessen war Günther Hilgers weiter fleißig und sorgte für Promotion: Keine Ahnung wie, aber er schaffte es, die legendäre Gerda Kaltwasser – die große Journalistin der Rheinischen Post
– für die Anthonies’ String Group zu interessieren. Zum Interview erschien sie mit einem Fotografen in unserem Proberaum in Itter. Die Headline ihres Artikels lautete: »Sie suchen Ruhm mit Stimme und Gitarre – Anthonies’ String Group
will noch viel lernen.« Weiter unten im Text heißt es: »Jörg ist der Einzige, der vom Blatt spielen kann, Schlagzeuger Karlheinz nimmt zwar Unterricht, kann aber ›die Pünktchen noch nicht lesen‹.« Natürlich schnitt ich meine erste Pressemeldung sorgfältig aus und klebte sie in ein Fotoalbum …
Meine erste Liebe
Zu Ostern 1969 traten wir mit der Anthonies’ String Group in der Stadthalle Wegberg auf. Mit unserem psychedelischen Volkswagen-Bus – der allerdings auch schon mal die eine oder andere profane, nicht-psychedelische Panne hatte – fuhren wir die vierzig Kilometer von Düsseldorf in Richtung Holland. Als wir ankamen, wurde uns klar: Die Stadthalle hat das Flair provinzieller Bedeutungslosigkeit. Ich konnte mir gut vorstellen, wie hier bei einer Gemeindeversammlung oder einem Schützenfest Reden von Kommunalpolitikern gehalten werden, die man nur mit 2,5 Promille halbwegs übersteht, und im Quartal abwechselnd Flohmärkte oder Treffen von Kaninchenzüchtervereinen stattfinden. Eher ein unwichtiger Gig also, ich würde ihn auch nicht in meiner Chronologie erwähnen, wenn nicht vor der Bühne ein Mädchen in schwarzer Kleidung getanzt hätte.
Mit ihren kurzen dunklen Haaren, großen Augen und einem unbefangenen Lächeln war sie eine Schönheit, aber offensichtlich auch noch sehr jung. Komisch, dachte ich, offenbar interessiert sie sich für mein Schlagzeug, denn sie schaut während unseres Sets immer wieder in meine Richtung. Unsere Blicke trafen sich ein paarmal. Sonst verhielten sich Mädchen immer so, als wäre ich gar nicht da, aber dieses
Mädchen unten auf der Tanzfläche schaute mir direkt in die Augen und lachte mich an. Das war neu. Nach dem Ende unseres Auftritts kamen wir ins Gespräch. »
Ich heiße Margot und werde schon bald fünfzehn«, ließ sie mich wissen.
Am nächsten Tag – Ostermontag – spielten wir den zweiten Tag in der Stadthalle Wegberg, und die Dinge nahmen ihren Lauf: Margot Heimbuchner wurde meine erste echte Freundin. Mit meinen sechzehn Lenzen war ich völlig unerfahren, was Mädchen angeht, und so erlebten wir in den nächsten Wochen unschuldig wie die Kinder unsere ersten intimen Berührungen. Verliebt, frei und ohne Scham schlossen wir ein Bündnis und wussten, dass wir das Richtige taten. Die kommenden Jahre blieben wir zusammen.
Als ich wieder einmal meine Schlagzeugstunden bei Musik Kunz bezahlte, lernte ich Reiner, den Sohn von Theo Kunz kennen. Wir kamen über das Thema Musikunterricht ins Gespräch, und er erwähnte irgendwann das »Kon«, wo man Musik studieren konnte. »Das Kon?«, fragte ich zurück. »Ja, das Konservatorium«, antwortete Reiner und fügte ernsthaft hinzu: »Wenn du wirklich eine gute Ausbildung willst, musst du dort Musik studieren.«
Vom »Kon« hatte ich bisher noch nie gehört. Und auch noch nicht ernsthaft daran gedacht, klassische Musik zu studieren. Ich? Es gab die Orchesterstudien in der Knauer-Schule
, von denen ich nicht wusste, wann wir sie im Unterricht durchnehmen würden, aber sonst? Tja, sonst war es eine unbekannte, für mich unerreichbare Welt. Noch nie in meinem Leben hatte ich ein klassisches Konzert besucht. Meine Eltern hatten mir den Eingang in diese Welt nicht zeigen können – sie kannten ihn selber nicht. Für mich bestand die Klassik nur aus vagen Vorstellungen in meinem Kopf. Aber ich war, das gebe ich zu, auch extrem neugierig geworden. Ich wollte mehr darüber wissen. Wie konnte ich herausfinden, welche Möglichkeiten es für mich gab? Hatte ich überhaupt genügend Talent? Waren es nicht ausschließlich hochbegabte Wunderkinder, die klassische Musik studierten
?
Diese neue Option wollte ich auf jeden Fall testen. Ich musste herausfinden, was es damit auf sich hatte. Also fasste ich einen einsamen Entschluss und schrieb einen handschriftlichen Brief an das Robert-Schumann-Konservatorium der Stadt Düsseldorf, in dem ich mich für eine Aufnahme in die Klasse Schlagzeug bewarb. Meinen Eltern erzählte ich davon nichts. Schon nach einer Woche erhielt ich die Antwort: Selbstverständlich könne ich mich für das Fach Schlagzeug bewerben. Allerdings sollte ich mir zuerst die Grundkenntnisse aneignen und im September vorspielen. Ich war einigermaßen verblüfft, dass es so einfach war, eingeladen zu werden, und beschloss alles zu tun, um das Vorspielen zu bestehen. Von diesem Tag an ging ich in einem ganz anderen Bewusstsein zum Unterricht bei Herrn Weinandi. Denn ich wusste: Ich muss wirklich begreifen, was Noten bedeuten, und vor allen Dingen den Trommelwirbel perfektionieren. Ich hatte sechs Monate Zeit, und ich war fest entschlossen, sie zu nutzen.
Im Volkswagen-Bus fuhr die Anthonies’ String Group weiter zu den Gigs in der näheren Umgebung. Mittlerweile war Günthers jüngere Schwester Brigitte bei uns als Sängerin eingestiegen. Sie hatte eine sehr zarte Stimme, und leider veränderte sich dadurch unser Repertoire drastisch in Richtung Schlagermusik. Der zweite Artikel über uns in der Presse – diesmal in der Neuen Rhein Zeitung
– war dementsprechend: »Beat-Steckbrief: Anthonies’ String Group, Brigitte ist der Clou.« Und im Text: »Seit einem Jahr sind sie nun zusammen. Ihr Repertoire umfasst die gesamte Unterhaltungsmusik, angefangen vom Beat über Pop, Soul bis zur klassischen Tanzmusik. Es ist kein Wunder, daß sie fast jedes Wochenende ausgebucht sind.«
In jeder Band mit einer Sängerin stellt sich früher oder später die Frage: Mit wem fängt sie was an? Brigitte und Franz … naja, plötzlich waren sie ein Paar. Das wiederum veränderte die Atmosphäre in der Band. Okay, wir hatten Jobs am Wochenende un
d machten Geld – auf der anderen Seite wurde unser Repertoire immer glatter und langweiliger. Mein Interesse ließ nach.
The Jokers
Im Juli wurden die Karten neu gemischt. Ich war einer der 600 Millionen Fernsehzuschauer, die sahen, wie die Raumfähre Apollo 11 landete, und Neil Amstrong als erster Mensch in der Geschichte der Raumfahrt den Mond betrat und dabei seine berühmten Worte sprach: »Das ist ein kleiner Schritt für den Menschen … ein … riesiger Sprung für die Menschheit.« Genau in diesem Sommer entschloss sich Klaus Rybinski von der FA2-Band, bei Musik Kunz eine Orgel zu kaufen. Das erwies sich im Rückblick als ein großer Sprung für uns alle. Denn eigentlich war Klaus Pianist und Akkordeonspieler. Jetzt fand er den Weg zurück zu den Keyboards.
Inzwischen war jedem von uns klar geworden, dass Klaus ein echtes Wunderkind war. Ein Virtuose auf den Tasten, der jeden Song, den es auf dieser Welt gab, kannte und auch wusste, wie er gespielt wird. Er las vom Blatt, war ein fabelhafter Arrangeur und konnte darüber hinaus frei improvisieren. Klaus war ein wirkliches Musik-Genie. Bei Musik Kunz kaufte er sich eine Farfisa-Orgel. Ich nehme an, dass Reiner, als er ihn spielen hörte, ihm direkt das Angebot machte, bei seiner Band The Jokers als Organist einzusteigen. So einfach war das damals. Als er Franz und mir von dem Angebot berichtete, wurden wir ganz schön neugierig. Und als er an einem der nächsten Tage, die Band besuchte – sie spielten damals in irgendeiner Kneipe –, begleiteten wir ihn. Das wollten wir uns natürlich nicht entgehen lassen.
Der Laden war fast leer, als wir eintrafen. Es roch etwas muffig. Unser erster Blick galt dem Equipment auf der Bühne:
Sologitarre, Rhythmusgitarre, Bassgitarre – alle von Burns und genau wie bei den Shadows in Weiß. Die beiden Vox AC30 Verstärker standen auf Holzstühlen. Daneben auf dem Boden der Vox-Bassverstärker, ein Schrank. Ludwig-Schlagzeug, na klar, das gleiche, das auch ich spielte. Drei Sennheiser MD 421 Mikrophone und eine Echolette-Gesangsanlage mit Bandecho komplettierten die Anlage. Nicht weniger als das amtliche Instrumentarium, mit dem sich musikalisch alles realisieren ließ, was gerade angesagt war. Wir waren schwer beeindruckt.
Die Jokers spielten die letzten drei Songs ihres Sets: »Carrie Anne«, »I’m A Believer« und »Help!«. Wolfgang Keller, der Leadsänger und Leadgitarrist, war absolut brillant. Er spielte grandios Gitarre, und die Lyrics hatte er in perfektem Englisch mit guter Intonation drauf. Sein Repertoire umfasste – wie ich später lernte – die klassischen Rock ’n’ Roll-Songs von Elvis, Carl Perkins, Little Richard, Jerry Lee Lewis, Chuck Berry und die Songs der Beatles. Alles brachte er absolut authentisch rüber. Darüber hinaus sah er mit seinen dunklen Haaren recht gut aus. Typ Mädchenschwarm. Aber es war sofort klar: Wolfgang Keller ist seriös, kein schleimiger Schürzenjäger. Wenn er nicht auf der Bühne stand und Musik machte, arbeitete er in seinem Beruf als Fotolaborant. Reiner Kunz an der Bassgitarre. Ein Rhythmusgitarrist und Schlagzeuger vervollständigten die Band.
In der Pause setzten sich Reiner und Wolfgang an unseren Tisch, gaben eine Runde Altbier aus, und wir plauderten lässig im Musiker-Fachidiotenslang über Equipment. Ich hielt mich zurück und tat so cool, wie ich konnte. Danach hörten wir uns ihr Set weiter an. Als wir uns verabschiedeten, war uns längst klar geworden: Wir spielten in der Regional-, die Jokers in der Bundesliga. Kurz darauf stieg Klaus tatsächlich bei ihnen als Organist ein, und es geschah das Unglaubliche: Er holte auch Franz und mich in die Band. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Das neue Line-up brachte einen großen Vorteil: Wolfgang und Franz
hatten beide einen ziemlich großen Stimmumfang, trafen die Töne und waren ausgesprochen gute Leadsänger. Mit anderen Worten, wir konnten alle Stücke der weißen Popmusik in ihrer Originaltonart spielen. Reiner, Klaus und ich sangen die Dopplungen und Chorstimmen. Ich glaube, Günther Hilgers war sehr, sehr sauer auf uns, als wir uns dann von ihm und der The Anthonies’ String Group verabschiedeten. Zu Recht.
Ein bis zweimal in der Woche probten wir jetzt abends mit den Jokers in Reiners Musikgeschäft zwischen all den Instrumenten. Ich trommelte lediglich leise auf der kleinen Trommel, Hi-Hats und einem Cymbal. Die Verstärker wurden auch nur andeutungsweise aufgedreht, die Vocals blieben unverstärkt. Das Niveau unseres Zusammenspiels verbesserte sich ständig. Deshalb habe ich unsere Zusammenkünfte auch nie als Arbeit empfunden. Beim Schreiben wird mir bewusst, dass ich damals durch die Schaufenster von Musik Kunz auf die Mintropstraße geschaut habe. Die Straße, wo sich im Gebäude mit der Hausnummer 16 ein seltsames Rolltor befand.
Den ersten Job mit den Jokers hatten wir am 4. Juli 1969 im Ranch House, Kettwig. Es war ein Monatsengagement – wir traten dort jeden Samstag und Sonntag im Juli auf. Danach engagierte uns ganz unerwartet der in Düsseldorf lebende Schlagersänger Sven Jensen als Begleitband für einen TV-Auftritt der Sendung Drehscheibe
im ZDF. Und während wir ihn anschließend bei einigen Gigs in die Provinz begleiteten, schrieb – von mir allerdings völlig unbemerkt – im August 1969 das Woodstock Music and Arts Festival in den USA Geschichte.
Den Vorspieltermin am Robert-Schumann-Konservatorium hatte ich von September ’69 auf März 1970 verschoben. Denn ich musste mich auf meine Gesellenprüfung vorbereiten. Als ich am 5. September 1969 im Kolpinghaus auf der Bilkerstraße meine Lossprechung als Fernmeldetechniker erfuhr, spielte natürlich die FA2-Band zu diesem Anlass, und ich verpasste die Übergabe
meines Gesellenbriefes und den Handschlag des Direktors, weil ich auf der Bühne gerade mit »Peter Gunn« oder »Wipe Out« beschäftigt war.
Abschied von zu Hause
Am 28. September 1969 besorgte ich mir das neue Album der Beatles, Abbey Road
, und war sofort im »Come Together«-Fieber. Der Song hatte geradezu eine magische Wirkung auf mich. Gebannt hörte ich ihn mir immer wieder an. Als Ringo mit einem seiner typischen Drumfills das Solo einleitet, auf sein Cymbal wechselt, das nur von einigen Fills durchbrochen ein fast durchgängiges Hintergrundrauschen erzeugt, hob ich total ab. Ich fand, dieser Rhythmus hat eine völlig neue Qualität, er gleitet geradezu nahtlos nach vorne. Meine Euphorie für das neue Album wurde allerdings schon am nächsten Tag abrupt unterbrochen. Denn es kam zu einem Riesenkrach zwischen meinem Vater Hans-Joachim und mir.
Meine Eltern hatten keine Ahnung, dass ich mich am Robert-Schumann-Konservatorium beworben hatte. Sie hätten mir – dessen war ich mir sicher – niemals erlaubt, Musik zu studieren. Instinktiv wusste ich, dass ich eine solche Entscheidung allein treffen muss. Ich hatte sie getroffen und wollte ihnen an diesem Samstagnachmittag davon erzählen. Ich bat meinen Vater in mein Zimmer und zeigte ihm den Schriftverkehr mit dem Konservatorium. Er las die Schreiben und blickte mich fragend an. Jetzt konfrontierte ich ihn mit meinen Gedanken und dem Plan für meinen weiteren Lebensweg: »Ich kann mir nicht vorstellen, den Rest meines Lebens im Fernmeldedienst zu arbeiten, Papa. Okay, die Ausbildung habe ich durchgezogen und auch beendet, aber in Wahrheit liegt mir dieser Beruf überhaupt nicht. Es war eine glatte Fehlentscheidung, ihn zu ergreifen. Diese
Arbeit macht mich krank.« Ungläubig hörte mein Vater zu. Ich fuhr fort: »Ich will Musik machen, das macht mich glücklich, und darin sehe ich meine Zukunft.« Schließlich verkündete ich ihm, dass ich den Vorspieltermin am Konservatorium im nächsten Frühjahr wahrnehmen würde, und brachte es auf den Punkt: »Versteh doch, ich will Musiker werden!«
Diese unerwartete Selbstständigkeit und auch meine Entschlossenheit, mit der ich auftrat, das war zu viel für meinen alten Herren, der mit seinen sechsundvierzig Jahren noch gar nicht so alt war. Natürlich betrachtete er meine Kritik und mein Handeln als Verletzung seiner Autorität und machte mir unmissverständlich klar, ich könne eine solche Entscheidung mit siebzehn Jahren nicht treffen. Womit er natürlich recht hatte, denn damals wurde man in Deutschland erst mit 21 Jahren volljährig.
Für ihn hatte Arbeit nichts mit Erfüllung und Glück zu tun, sondern war eine Pflicht, der man nachkommen musste, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Mein Wunsch, Musiker zu werden, war für ihn geradezu eine Utopie. Ich war nicht in der Lage, ihn zu überzeugen. Wir waren beide mit dieser Situation restlos überfordert – rhetorisch und emotional. »Ich werde Musiker, ob du es mir erlaubst oder nicht«, argumentierte ich stur. Aus der Küche hörte ich das Weinen und Schluchzen meiner Mutter. Schließlich rastete mein Vater komplett aus. Es kam sogar zu Handgreiflichkeiten. Aber ich hatte nicht die geringste Lust, mir das gefallen zu lassen, und setzte mich zu Wehr. Am Ende musste ich die Wohnung verlassen, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Beim Rausgehen sah ich aus den Augenwinkeln, wie mein Vater meiner am Boden liegenden nagelneuen akustischen Gitarre die Decke eintrat. »Ich hau ab!«, schrie ich wütend. Und warf die Tür ins Schloss.
Dieser Samstagnachmittag im September war der dramaturgische Höhepunkt – in Wahrheit natürlich der absolute Tiefpunkt – in unserer Familiengeschichte! Völlig durch den Wind
lief ich ziellos durch die Straßen von Unterbilk. Zum Glück hatten wir am Abend einen Gig mit den Jokers. Hier fühlte ich mich in Sicherheit.
Nach diesem extremen Streit wusste ich: So konnte es nicht weitergehen. Ich musste weg von zu Hause. In meiner Verzweiflung sprach ich mit meinen Großeltern über die verfahrene Situation. Dass ich Musiker werden wollte, brachte sie merkwürdigerweise nicht im Geringsten aus der Fassung. Sie verstanden mein Problem, sie kannten ja ihren Sohn. Plötzlich hatte Martha eine wirklich gute Idee: Bei ihnen im Haus auf der Rethelstraße gäbe es ein leeres Zimmer im Dachgeschoss – da könne ich ja erst mal wohnen. Ich sei zwar erst 17, aber das würde schon in Ordnung gehen, weil sie in der Nähe lebten und auf mich aufpassten. Ja, das war mein Notausgang! Martha überzeugte meine Eltern, dass es wohl das Beste für uns alle wäre, wenn ich in das Dachzimmer einziehen würde. Daraufhin schlossen mein Vater und ich für die nächsten Wochen einen Waffenstillstand und gingen uns aus dem Weg. Bis zu seinem Tod sprachen wir nie wieder über diesen Vorfall.