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HÖREN, FÜHLEN, SPIELEN, DENKEN
Das Percussion-Ensemble. Die Zukunft der Musik. Deutsche Oper am Rhein. Wolfgang und mein schwarzer Dienstanzug. Der Tristan-Akkord. Prélude à l’après-midi d’un faune. Le Sacre du Printemps. Daphnis et Chloé. Studentenbude Oberkassel. Minimal Music. Jazz. Detox.
Das Percussion-Ensemble
Mit Beginn des Sommersemesters 1972 hatte das Konservatorium mich wieder fest im Griff. Außerdem nutzte ich ein zusätzliches Angebot und belegte einige Kurse, um die mittlere Bildungsreife zu erreichen: Stilkunde, Deutsch, Geschichte, Geometrie, Mathematik, Biologie. Aber im Zentrum meines Lehrplans stand natürlich der Unterricht am Instrument bei Ernst Göbler. Ihm blieb nicht verborgen, wie viel ich arbeitete. Göbler wurde mein Förderer und Mentor. In diesem Semester erhielt meine Ausbildung eine weitere, sehr wichtige Komponente: das Percussion-Ensemble.
Unser Ensemble war anfangs ziemlich überschaubar und bestand lediglich aus dem Quintett. Mehr Studenten hatten sich nicht für Schlagzeug immatrikuliert. Der Titel des ersten Stücks Sonic Boom
– das Göbler mit uns einstudierte – klang wie ein Hip-Hop-Track aus den Neunzigerjahren. Doch hinter diesem Namen verbarg sich eine leichte Trainings-Etüde im 5/4-Takt von Duane Thamm. Was mir sofort gefiel, war die Transparenz der Stimmen, die sich bei einem Schlagzeug-Quintett automatisch
ergibt. Dieser Sound war mir von Anfang an vertraut, als wäre er schon immer in mir gewesen.
Zu den bekanntesten Werken für Percussion-Ensemble zählte auch schon damals die Komposition Ionisation
für dreizehn Schlagzeuger von Edgard Varèse. Schlaginstrumente sind in vielen Kulturen der Welt ein fundamentaler Bestandteil der Musiktradition. In der klassischen Musik hatte sich das Schlagzeug im Verlaufe des 20. Jahrhunderts etwas entwickelt, ohne aber das Niveau der anderen Instrumente zu erreichen. Seit der Uraufführung von Ionisation
in der New Yorker Carnegie Chapter Hall 1939 war aber klar, dass die Schlagzeuger nicht mehr hinter den anderen Instrumentengruppen zurückstehen müssen, sondern dass ihnen eine besondere Aufgabe in der Musik des 20. Jahrhunderts zukommt.
Carlos Chávez’ Toccata
aus dem Jahr 1942 für sechs Schlagzeuger war die erste namhafte Komposition, die wir mit unserem Percussion-Ensemble aufführten.
Die Zukunft der Musik
Beim Stöbern in der Musikbibliothek entdeckte ich die Noten von Construction in Metal
(1939) eines mir damals völlig unbekannten US-amerikanischen Komponisten namens John Cage. In den nächsten paar Semestern tastete ich mich an seine Musik heran.
Cages Technik, ein Klavier zu präparieren, erinnerte mich an ein Percussion-Ensemble. Und dann war da natürlich sein stiller Superhit 4
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″ aus meinem Geburtsjahr 1952, bei dem der Ausführende für vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden nichts spielt, keinen einzigen Ton. Irgendjemand erklärte mir damals, dass Cage die Sounds des Konzertsaals, die während der Aufführung hörbar wurden, als die eigentliche Komposition d
efinierte. In jungen Jahren fand ich diese Idee eher exzentrisch. Auch sein berühmter Essay »Die Zukunft der Musik – Credo« von 1937 ging zunächst an mir vorbei. Aber irgendwann verstand ich dann doch die Dimension seiner bahnbrechenden Gedanken.
In der Düsseldorfer Kunstakademie wurde in diesen Jahren in der Reihe Musik des 20. Jahrhunderts
selbstverständlich auch die Musik von Cage aufgeführt. Ich liebte diese Konzerte, und obwohl es mich einige Überwindung kostete, sonntagmorgens schon um 10:00 Uhr dort aufzukreuzen, wurde ich ein regelmäßiger Besucher der Veranstaltungen. Es gab schließlich nicht viele Möglichkeiten in Düsseldorf, avantgardistische Musik zu hören. Diesem Kreis der Eingeweihten anzugehören war mir wichtig.
Dass Cage bei seinen Imaginary Landscapes
Schallplattenspieler und Radiogeräte als Instrumente einsetzte, war für mich im Kontext der kontemporären klassischen Musik eine Offenbarung. Als ich schließlich bei einem der Konzerte in der Kunstakademie erlebte, wie Cage in Landscape No. 2
das Gießen von Wasser in einen Metalleimer instrumentierte, war ich restlos von der Musik des Komponisten überzeugt. Ich will nicht behaupten, dass ich mit Anfang zwanzig die Zusammenhänge im vollen Umfang verstand – es war vielmehr Begeisterung und ein Herantasten an die Gedanken der Avantgarde.
Deutsche Oper am Rhein
In seiner Funktion als 1. Solopauker der Düsseldorfer Symphoniker war Ernst Göbler auch für die Dienstpläne der Schlagzeuggruppe in der Oper verantwortlich. Es entsprach seiner Vorstellung von Ausbildung, mich in die Arbeit des Orchesters einzubinden, und er beschäftigte mich, so gut er konnte. Auf diese Weise lernte ich einen beachtlichen Teil der europäischen
Orchestermusik des 18., 19. und 20. Jahrhunderts im Orchestergraben und als Bühnenmusiker kennen. Wenn interessante Werke auf den Spielplan kamen, an denen ich nicht mitwirken konnte, setzte ich mich einfach in die Ecke beim Schlagzeug und hörte zu. Göbler hatte recht: In der Tat waren die Orchesterproben für mich der beste Unterricht. Natürlich ließen mich die Kollegen nicht ins offene Messer laufen, ich durfte zunächst in ihrem Windschatten einige Stellen aus der Schlagzeug-Stimme übernehmen, bis ich im Laufe der Zeit besser wurde.
Meine Buchungen in diesem kulturellen Umfeld wuchsen rapide an. In den Jahren 1972 und 1973 wirkte ich bei über 200 Aufführungen und Proben mit – im Opernorchester, bei Bühnenmusiken, Sinfoniekonzerten und Messen. Unter anderem waren das so unterschiedliche Konzerte wie Manon Lescaut
von Giacomo Puccini, Sergej Prokofjews Romeo und Julia, Die Soldaten
von Bernd Alois Zimmermann oder Aufstieg und Fall der Stadt Mahagony
von Kurt Weill.
Aber auch im Hochschulorchester lernte ich in dieser Zeit die moderne Musik kennen. Wir führten Anfang 1973 Prokofjews Peter und der Wolf
im Robert-Schumann-Saal auf. Kinder mit den Instrumenten des Sinfonieorchesters vertraut zu machen ist der Sinn dieser Komposition. Jede der Figuren der Geschichte wird durch ein Instrument repräsentiert und erhält ein eigenes musikalisches Leitmotiv: Vogel – Querflöte, Ente – Oboe, Katze – Klarinette, Peter – Violinen, Wolf – Hörner, Gewehr – Pauke und so weiter. Ich erlebte, wie begeistert, geradezu verzückt, Hunderte Schulkinder auf das musikalische Märchen reagierten. Außerdem stand Carl Orffs Carmina Burana
in der Version für zwei Klaviere und Schlagzeug auf dem Programm. Mein Terminkalender war randvoll, und langsam wuchs mir die Arbeit über den Kopf
.
Wolfgang und mein schwarzer Dienstanzug
Mit Franz von den Jokers sprach ich über meinen Stress. Schließlich schaute sich die Band nach einer Art ständigen Vertretung für mich um. Ich war heilfroh, als ich erfuhr, dass hin und wieder ein gewisser Wolfgang Flür für mich einspringen sollte.
Wolfgang war damals in der Düsseldorfer Musikerszene sehr bekannt. Schließlich hatte er in den letzten Jahren bei den Beathovens, Spirits of Sound oder Fruit am Schlagzeug gesessen. Und dort – am Ludwig-Schlagzeug – gab er eine sehr gute Figur ab. Ohne Zweifel wäre er in jedem Fellini- oder Truffaut-Film als Italiener oder Franzose durchgegangen. Ein wenig später trug er eine Zeit lang einen D’Artagnan-Schnurrbart. Als sich dann ein Gig ergab, den ich nicht wahrnehmen konnte, übernahm er für mich das Schlagzeug. In dem Zusammenhang besuchte mich Wolfgang, um sich meinen Anzug zu leihen. Und siehe da: Er passte wie angegossen, denn wir waren beide einen Meter fünfundsiebzig groß und brachten maximal fünfundsechzig Kilo auf die Waage.
Wolfgang war freundlich und nahbar, wir verstanden uns sofort und hatten natürlich beide nicht die geringste Ahnung, dass wir uns in absehbarer Zeit unter völlig anderen Bedingungen wiedersehen würden. Ich gab ihm noch mit auf den Weg, bei der Musik der Jokers zurückhaltend zu trommeln, dann zog Wolfgang mit meinem schwarzen Dienstanzug in der Hand ab.
Der Tristan-Akkord
Aus heutiger Sicht ist es für mich erstaunlich, wie groß das musikalische Spektrum war, das ich während meines Studiums kennenlernte. Oft hatte ich an einem Tag mit Musik aus mehreren Jahrhunderten zu tun. Eine ganz besondere Rolle spielte damals
die Musik von Johann Sebastian Bach. Wie für viele meiner Kollegen beginnt auch für mich die Musik, mit der wir leben, mit ihm. Es ist das Fundament, auf dem das Haus der europäischen Musik errichtet wurde. Bisher habe ich noch keinen Musiker getroffen, der nicht aufrichtige Bewunderung für Bachs Werk zum Ausdruck bringt. Musikwissenschaftler unterteilen die folgenden dreihundert Jahre der Evolution in die Epochen Barockmusik, Klassik, Romantik und die sogenannte Neue Musik. Ich finde, für diese relativ kurze Zeitspanne hat eine ziemlich rasante Entwicklung stattgefunden.
Im Vorspiel von Richard Wagners Tristan und Isolde
hören Experten die ersten Anzeichen der Musik des 20. Jahrhunderts. Bei der Uraufführung des Musikdramas 1865 nahm der berühmte Tristan-Akkord
bereits im zweiten Takt durch seine harmonische Vieldeutigkeit alles Kommende vorweg. In vielen Texten wird dieser Akkord als der Anfang des langen Abschieds von Dur und Moll beschrieben. Die Musik ist danach nicht mehr die Alte, heißt es, und es wäre schwer sich vorzustellen, wie die Kompositionen von Debussy, Bruckner, Strauss, Mahler und Schönberg ohne Wagner geklungen hätten.
Prélude à l’après-midi d’un faune
In der Folge besuchte ich Rainer Sennewald ziemlich regelmäßig. Dann tranken wir Tee, zogen uns Plätzchen rein und tauschten unsere Gedanken aus. Er spielte mir Claude Debussys Deux Arabesques
für Klavier von einer alten, leicht verkratzten Schallplatte vor, die ihm seine Freundin Marlis mitgebracht hatte. Ich war sofort begeistert, und seitdem ist die Musik des französischen Komponisten nicht mehr aus meinem Leben wegzudenken. Leider sind meine technischen Fähigkeiten nicht genügend entwickelt, seine Klaviermusik zu spielen
.
Eines Tages entdeckte ich ein mir noch unbekanntes Orchesterwerk Debussys im Programm der Düsseldorfer Symphoniker. Ein billiges Studententicket war schnell besorgt, und schon bald saß ich unter den Zuhörern der Rheinhalle. An die anderen Darbietungen des Abends kann ich mich nicht mehr erinnern, aber schließlich begann die erste Flöte mit den Tönen der Introduktion, und ich hörte zum ersten Mal das schwerelose Prélude à l’après-midi d’un faune.
Ich dachte damals, dort oben auf dem Podium sitzen lediglich Holzbläser, Streicher, zwei Harfen, und das Schlagzeug besteht nur aus zwei Cymbales antiques – wie kann es sein, dass diese Musik klingt, als wäre sie aus einer anderen Welt?
L’Après-midi
gehört heute zum Kanon der Musik. Es ist kaum vorstellbar, wie es 1894 für die Ohren der Menschen bei seiner Uraufführung in Paris geklungen haben muss. Irgendwo habe ich gelesen, das Publikum habe anfangs wirklich geglaubt, das Orchester sei noch beim Stimmen, sodass die Musiker das Werk wiederholen mussten.
Le Sacre du Printemps
Während meines Studiums interessierte mich vor allen Dingen die sinfonische Musik neueren Ursprungs, wie beispielsweise die Werke Igor Strawinskys, der für mich wie kein anderer die Musik des 20. Jahrhunderts verkörpert. Um 1900 war Paris das kulturelle Epizentrum Europas. Dort lebten einige der wichtigsten Künstler ihrer Zeit – Maler, Musiker, Schriftsteller, Poeten. Damals beauftragte Sergej Diaghilew – der berühmte Impresario der Ballets Russes – Strawinsky, Musik für sein Ensemble zu komponieren. Der 28-jährige Komponist reiste 1910 zur Uraufführung von L’Oiseau de feu
nach Paris und wurde über Nacht ein weltberühmter Star. Auch die nächste Auftragsarbeit für die Ballets Russes, Petruschka
, wurde ein großer Erfolg. In seinen
Orchesterstücken macht der russische Komponist die Schlaginstrumente populär. Mehr noch, er transformiert streckenweise das gesamte Orchester in eine gewaltige Schlagzeugmaschine.
Bei seinem wohl bahnbrechendsten Werk Le Sacre du Printemps
kam es 1913 bei der Uraufführung zu einem Skandal, denn Strawinsky zog allen Hörern eiskalt den akustischen Teppich unter ihren Füßen weg. Warum?
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war es in der westlichen Musik allgemein üblich, dass ihr Metrum in einem regelmäßigen Betonungsmuster wiederkehrt. Die Takte notierte man meistens in Zweier- oder Dreiergruppen: 2/4, 3/4, 4/4, 6/8 usw. Genau wie in der Popmusik unserer Zeit gab die regelmäßige Wiederholung dieser Takte den Hörern ein sicheres Gefühl. Heute beschreibt man das vielleicht mit »Groove«. Auch damals hatten sich alle daran gewöhnt, Harmonien und Melodien in einer gleichmäßig unterteilten Zeit zu hören.
Das ist vielleicht so ähnlich wie das Grundgesetz, auf das unsere Gesellschaft heute aufgebaut ist, und das wir, wenn alles gut läuft, im täglichen Leben vergessen. Aber setzt man es außer Kraft, bricht Anarchie aus. In Strawinskys Sacre
gibt es keine Anarchie, aber er riss kurzerhand alle Seiten des Grundgesetzes heraus und fügte sie in einer neuen Reihenfolge, in einer neuen Ordnung wieder zusammen. Ins Musikalische übersetzt heißt das: Zwei- und dreiteilige Taktarten werden von ihm nach keinem erkennbaren Muster aneinandergefügt und lassen nicht zu, dass man sich nur eine Sekunde lang in diesem Zeitablauf zurechtfindet. Außerdem verzichtet er auf jede vorhersehbare Wiederholung.
Die berühmteste Stelle der Komposition befindet sich im Satz Les augures printaniers – Danses des adolescentes.
Das Tempo giusto
klingt für mich wie der perfekte Soundtrack zu Fritz Langs Metropolis
(1927). Mit irregulären Betonungen der Achtel-Akkorde in den Streichern erzeugt Strawinsky einen völlig
unvorhersehbaren Rhythmus. Durch die Bitonalität seiner Harmonik baut sich eine dissonante Spannung auf, die sich aber nirgendwohin auflöst. Ohne eine Taktart erkennen zu lassen, bewegt sich dieser stampfende Rhythmus in unregelmäßigen Perioden unaufhörlich nach vorne.
Und das ist das wirklich Neue am Sacre:
Strawinsky rhythmisiert die Betonungsmuster, wechselt permanent das Metrum. Diesen Trick auf ein ganzes Musikstück anzuwenden war damals eine unglaublich kühne Idee. Das Publikum der Uraufführung muss seine Musik als totales Chaos empfunden haben.
Daphnis et Chloé
Wahrscheinlich hatte ich es einer Unregelmäßigkeit im Dienstplan zu verdanken, dass ich unerwartet die Musik von Maurice Ravel kennenlernte. Ernst Göbler hatte mir am Telefon den Termin von einer Daphnis
-Aufführung im März 1973 durchgegeben, ohne aber weiter darauf einzugehen. Er ließ mir auch keine Noten zukommen. Vielleicht ging er davon aus, dass ich Daphnis
kenne? Ich ging sehr lässig mit dem Termin um. Viel zu lässig. Denn ich hatte nicht die geringste Ahnung, was mich erwartete:
Gegen 18:30 Uhr betrete ich am Tag der Aufführung wie immer das Opernhaus durch den Bühneneingang. Der Pförtner kennt mittlerweile mein Gesicht und winkt mich durch. Ich steige direkt links die schmale, Metall-Wendeltreppe nach unten, hänge im Schlagzeugraum meinen Dufflecoat auf, binde mir die silberne Krawatte um, setze mich in die fast leere Kantine. Während ich mir einen Tee und ein Sandwich zum Abendbrot reinziehe, lese ich in einem zufällig herumliegenden Programmheft den vollständigen Titel des Balletts des heutigen Abends: Daphnis et Chloé
von Maurice Ravel
.
Nach und nach trudelt die Schlagzeugtruppe ein: Ernst Göbler, Hans-Joachim Schacht, Friedbert Haus, Günther Klein, Konni Ries und drei weitere Kollegen des WDR Sinfonieorchesters Köln. Mit mir eingeschlossen sind wir heute neun Schlagzeuger, also fast eine Fußballmannschaft. Wieder bin ich der Jüngste, und die Kollegen kennen mich nicht.
Langsam wird mir bewusst, dass Daphnis
eine große Nummer für die Schlagzeuggruppe ist, und ein ungutes Gefühl macht sich in der Magengegend breit. Ich frage mich, warum ich mich nicht vorbereitet habe. Schließlich mache ich mich unauffällig an Friedbert Haus heran, ziehe ihn zur Seite und erkläre ihm, dass ich Daphnis et Chloé
gar nicht kenne. Friedbert – übrigens der Sohn von Fritz Haus, mit dem ich meine erste Bühnenmusik spielte – lässt sich nichts anmerken, schiebt mich jedoch langsam in Richtung Ausgang. Im Orchestergraben zeigt er auf die große Trommel und sagt ruhig: »Lass uns mal zusammen in deine Stimme schauen.«
Was ich lese, lässt mich den Atem anhalten: rasante Tempi, zusammengesetzte Taktarten, unzählige Taktwechsel und auf allen Notenblättern jede Menge handschriftliche Eintragungen. Schluck! Vielleicht sieht Friedbert die Panik in meinen Augen. Auf jeden Fall verspricht er, mir bei der Aufführung an den entscheidenden Stellen zu helfen, damit ich nicht aussteige: »Ich zeige dir, wie der Dirigent das schlägt. Wir kommen da heute schon klar, und für die Vorstellung am 23. März schauen wir uns das noch mal zusammen an, dann hast du’s drauf.«
Als es fast 19:30 Uhr ist, setze ich mich mit den Musikern in den Orchestergraben. Zwar werde ich erst fürs Finale gebraucht, aber ich will mir unbedingt anschauen, wie alles abläuft. Langsam gehen die Lichter im Zuschauerraum aus. Nur die Notenpulte der Musiker sind jetzt noch beleuchtet. Der Dirigent kommt herein, tritt an sein Pult und wird vom Publikum mit einem Applaus begrüßt. Es wird still. Das Geschehen auf der Bühne ist für die
Schlagzeuger unsichtbar. Konzentration. Dann erhebt sich Ravels Musik aus der Stille.
Am eindrucksvollsten ist für mich die berühmte Stelle, die die Stimmung beim Sonnenaufgang – »Lever du jour« – in Musik umsetzt. Millionen kleiner Partikel ergeben ein schillerndes, sich ständig veränderndes Muster. Das Orchester verdichtet diesen Klang immer mehr, bis er seinen Höhepunkt erreicht, sich wie eine gigantische Welle bricht und wieder langsam abschwillt. Dieser Moment ist von einer solch unfassbaren Schönheit und Intensität, dass ich fast vergesse zu atmen.
Meinen Einsatz in dem anschließenden furiosen Finale habe ich wirklich nur mit Friedberts Hilfe halbwegs hingekriegt. Und als ich mich irgendwann einmal im Spiel verliere, bringt er mich zurück auf die »Eins« im Takt und verhindert sogar einmal einen Fehlschlag, indem er sich mit seinem Körper dazwischenstellt. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn gemacht hätte.
Ravel bezeichnete Daphnis et Chloé
als eine choreografische Sinfonie, denn auch sie war eine Komposition für die Ballets Russes
, die Sergej Diaghilew in Auftrag gegeben hatte. Diaghilev war einer der wichtigsten Katalysatoren der Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Talent des russischen Impresarios lag darin, die besten Tänzer, Choreografen, Maler und Musiker zu einer Zusammenarbeit zu bewegen. Dabei zeigte er einen erstaunlichen Instinkt für erfolgreiche Produktionen. Noch heute zählen Daphnis et Chloé, Le Sacre du Printemps
und Prélude à l’après-midi d’un faune
für mich zu den wunderbarsten und einflussreichsten Werken der Musikgeschichte überhaupt.
Studentenbude Oberkasse
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Im August 1972 beschlosssen Bodo und ich, unsere Wohngemeinschaft auf der Nordstraße aufzulösen. Wir waren Freunde, aber wir spürten, dass wir unsere Unabhängigkeit brauchten. Vorübergehend wohnte ich bei Rainer in einem Gästezimmer. Freitagnacht, kurz vor 24 Uhr, holte ich mir beim Pförtner der Rheinischen Post
die frisch gedruckte Samstagsausgabe mit den Kleinanzeigen und dem Wohnungsmarkt. Ich hatte Glück: Eine Wohnung in Oberkassel, drei Zimmer im Dachgeschoss, auf der Steffenstraße 36 war annonciert. Direkt am Samstagmorgen um 9:00 Uhr hing ich am Telefon und machte einen Besichtigungstermin aus.
Die Steffenstraße ist eine kleine Nebenstraße in der Nähe des Belsenplatzes. Das Haus mit der Nummer 36 war ein Altbau, es roch nach Kohle. Die ausgetretenen Stufen knarrten beim Hochsteigen. Im Dachgeschoss war ein langer Gang mit drei Türen. Die drei Zimmer – zusammen vielleicht 60 Quadratmeter – hatten Dachschrägen, aber ein richtiges Fenster in jedem Raum. Holzfußboden. Im hintersten Raum ein Waschbecken mit kaltem Wasser, dann ein leeres Zimmer und im größten Raum Regale und ein Kohleofen. Die Toilette war im Treppenhaus.
Ich setzte mich auf einen Stuhl in dem größten Raum, schloss die Augen und hörte … nichts. Die Wohnung war mucksmäuschenstill. Gut! Am Ende des Korridors war noch eine Tür, hinter der sich ein riesiger Trockenraum befand. Es ging eine Leiter nach oben in einen Turm. Sofort kletterte ich hoch und stand auf diesem Türmchen, hielt mich am Geländer fest und hatte einen 360-Grad-Rundblick. Großartig! Die Miete für die Wohnung betrug monatlich 188,80 Mark. Ich war fest entschlossen, sie zu nehmen, am besten noch heute. Alles andere würde sich schon finden. Ich hatte Glück, bekam die Wohnung und zog am 1. Oktober 1972 ein
.
Drei Räume ohne Heizung und Bad – meine erste eigene Wohnung. Ich strich die Wände, Boden, Fenster und Türen und besorgte mir günstig ein paar Möbel. Gegenüber direkt an der Ecke Glücksburger Straße war damals ein Kolonialwarenladen mit einem Rundum-sorglos-Angebot. Schon bald war ich dort Stammkunde. Auf dem Weg zum Belsenplatz konnte ich in einer Wäscherei auf der Sonderburgstraße meine Wäsche waschen lassen. Mittlerweile hatte ich mir nämlich ein gutes Dutzend weiße Hemden für die Opernvorstellungen zugelegt.
Mein Musikerleben lief wirklich rund, und so traf mich am Ende des Jahres das Aus meiner ersten Liebe völlig überraschend: Nach dreijähriger Beziehung trennte sich Margot von mir. Als sie es mir schonungsvoll beibrachte, war ich ziemlich geschockt – offenbar war ich blind gewesen, hatte es wirklich nicht kommen sehen. Aus heutiger Sicht habe ich wahrscheinlich nur noch in der Musik gelebt und nicht mit ihr. Margot hatte sich an der Werkkunstschule in Krefeld eingeschrieben, um dort Keramik zu studieren. Sie war neugierig auf das Leben und offen für alles, was noch kommen würde. Offensichtlich brauchte sie jemanden, der sie besser verstand als ich.
Die für mich unerwartete Trennung haute mich erst mal völlig aus der Bahn. Ich schloss mich zu Hause ein, ging nicht mehr zum Unterricht ins Konservatorium. Bei mir waren alle Sicherungen durchgebrannt. Das blieb einige Tage so. Plötzlich stand Ernst Göbler vor meiner Tür. Ich machte ihm in ziemlich übler Verfassung auf. Als er eine leere Flasche Chianti auf dem Tisch sah, schüttelte er den Kopf und erklärte mir, dass ich mich von nichts in der Welt davon abbringen lassen darf, Musik zu machen. Er sagte, er spüre, dass Musik eine entscheidende Rolle in meinem Leben einnehmen wird. Mein Talent sei eine Gabe, an die ich glauben solle und die ich nicht leichtfertig aufs Spiel setzen dürfe. Es passierten im Leben eben Dinge, die man nicht kontrollieren kann, entscheidend sei jedoch, wie man sich
verhält. Denn das könne jeder selbst bestimmen. Ernst Göbler erzählte mir von seiner Scheidung, die ein paar Jahre zurücklag, und dass er Halt und Frieden in der Musik und bei Gott fände, dabei holte er einen Rosenkranz aus der Hosentasche und hielt ihn mir vors Gesicht. Damals war ich ihm für seine Fürsorge dankbar. Als er nach einiger Zeit meine Wohnung wieder verließ, ging es weiter in meinem Leben.
Ich fühlte mich schnell in Oberkassel zu Hause. Es war toll, linksrheinisch zu wohnen, den Charme einer altmodischen, etwas verschlafenen Kleinstadt zu erleben – so kam mir der Stadtteil jedenfalls vor.
Vom Springbrunnen auf dem Barbarossaplatz war man in wenigen Minuten in einer der wichtigen Anlaufstellen des Stadtteils: im Café Muggel auf der Dominikanerstraße. Mit den Wandspiegeln über den mit Kunstleder überzogenen Bänken, den weißen, runden Lampen, die von der Decke herunterhingen, der großen, den Raum bestimmenden Bar mit den aufgereihten Schinken- und Käse-Baguettes auf der gläsernen Anrichte, der Espressomaschine und den drei Stehtischen mit Barhockern hätte dieses Café auch gut in Paris oder Amsterdam sein können. Auf jeden Fall war es der beste Ort für ein Bistrofrühstück vor dem Konservatorium. Dabei schaute ich in meine Noten und ging mein Programm für den Tag durch. Auf dem Schallplattenspieler drehte sich meistens eine exzellente Jazzplatte. Ich erinnere mich an Miles Davis’ Kind Of Blue
oder Virgo Vibes
von Roy Ayers mit einer seiner feinsten Aufnahmen: »The Ringer«. Musik in der Gastronomie ist immer problematisch. Im Café Muggel hatte es jedoch den Anschein, dass man sich gerade in einem Film von Louis Malle – beispielsweise Fahrstuhl zum Schaffot
– befindet und leise den Soundtrack hört. Abends öffnete im Souterrain ein kleines Programmkino mit wenigen Sitzplätzen.
Ein Oberkasseler Hotspot ganz anderer Art war das Brauereilokal
Vossen am Belsenplatz, ein ehemaliges Bahnhofsgebäude mit großen und hohen Räumen.
Hier traf ich mich abends oft mit Reinhold Nickel, einem Kommilitonen aus der Toningenieur-Klasse. Wir aßen etwas und sprachen über die Dinge, »die besprochen werden mussten«. Reinhold studierte im Nebenfach Schlagzeug bei Ernst Göbler und war daher auch Mitglied im Percussion-Ensemble. Er war geerdet und humorvoll. Wir hatten immer etwas zu lachen.
Zum Beispiel über Kellner Manfred. Es war ein Brauch, Manni für mindestens ein Bier pro Besuch einzuladen. Er bedankte sich, indem er das Bier über den Kopf hielt, »zum Wohl« sagte, es dann in einem Zug austrank, das leere Glas auf sein rundes Aluminiumtablett knallte und abzog. So trieb er seinen Tagesumsatz in schwindelerregende Höhen.
Minimal Music
Damals hatten Marlis, Rainer und ich die unverhoffte Chance, das Steve-Reich-Ensemble in der Düsseldorfer Kunsthalle zu erleben. Die zahlreichen Orgeln, Xylorimbas und Trommeln und die zwischen ihnen umhergehenden Musiker vermittelten den Eindruck eines heillosen Durcheinanders. Etwas verwirrend, wie ich fand. Aber als dann die charakteristischen Reihen der Musikbausteine den Raum erfüllten und sich die Luft in ein klingendes Raster verwandelte, erklärte sich mir Reichs linearer Ansatz der scheinbar endlosen Loops ohne ein einziges Wort.
Die Musik versetzte mich in eine Art Hypnose. Plötzlich – wie in einer ungefährlichen Variante des Sekundenschlafs hinter dem Steuer eines Autos – wachte ich auf und bemerkte, dass sich das polyphone Muster der ornamentalen Figuren verändert hatte, ohne dass ich genau sagen konnte wann und wie. Die psychologische Wirkung dieser Musik beruht darauf, vertraut
klingendes musikalisches Material durch unablässige Wiederholung, Übereinanderschichtung und Verschiebungen zu einem klingenden, sich verändernden Ornament werden zu lassen. Durch den Verzicht auf traditionelle motivisch-thematische Entwicklungen führt dieser sich scheinbar auf der Stelle bewegende Klang zu einem neuen Erleben der Zeit. Wenn man sich darauf einlässt, entwickelt sich ein musikalischer Sog, der den Zuhörer in einen trance-ähnlichen Zustand versetzt. Diese amerikanische Musik erschien mir wie eine befreiende Antwort auf die seriellen Techniken, bei denen ich oft den Eindruck hatte, ein Konzept würde im Vordergrund stehen und die Musik sei lediglich die Folge einer berechneten Konstruktion.
Zum ersten Mal erlebte ich die Lässigkeit der Schlagzeuger, die sich wie bei einem Schichtwechsel am Fließband an den Instrumenten ablösten, ohne ihren Part zu unterbrechen, und wie Jazzmusiker während der Performance Cola tranken, miteinander sprachen und auch lachten. Dieses Konzept und die zwanglose Performance der Musiker – technisch über jeden Zweifel erhaben – blieben mir im Gedächtnis.
Neben meinen Diensten und Bühnenmusiken in der Oper, den Konzertreihen und Kirchenmusiken nahmen 1973 die Gigs mit den Jokers immer weiter zu. Wir spielten im Hilton Hotel, beim Presseball Bochum, auf der Novea
-Messe, in den Rheinterrassen oder bei einem großen Düsseldorfer Bauunternehmer. Über das Jahr verteilt waren es ungefähr dreißig Gigs mit Gagen zwischen 300 und 500 Mark pro Nase. Auch der Schlagersänger Sven Jensen – »Eine Lederhose braucht keine Bügelfalten« –, mit dem wir ja schon Ende der Sechzigerjahre gearbeitet hatten, engagierte uns für eine Schallplattenproduktion. Gerade aus den USA zurückgekehrt, nahm er mit uns eine Version von »Spinning Wheel« auf. Für mich war dieser Studiojob durchaus eine Herausforderung, die Arbeit war neu und spannend. Und das Honorar versetzte mich obendrein in die glückliche Lage,
meinen weniger lukrativen musikalischen Projekten nachgehen zu können. Mit finanziellen Problemen hatte ich während meines Studiums grundsätzlich nicht zu kämpfen. In meinem Kultur-Netzwerk ergab sich immer alles völlig mühelos und wie von selbst.
Jazz
Die Zeit in Oberkassel verbinde ich – neben meinem Studium – auch mit meinem wachsenden Interesse am Jazz. Das lag wahrscheinlich daran, dass ich den Schwerpunkt meiner Ausbildung immer mehr auf die Stabspiele – Xylophon und Glockenspiel – und auch auf das Vibraphon legte.
Nach 1945 erfreute sich das Vibraphon bei den Komponisten der sogenannten Hochkultur einer großen Beliebtheit. Bekannt wurde es aber zunächst durch seine Anwendung im Jazz. Als ich mich mit dem Instrument beschäftigte, landete ich naturgemäß bei den Aufnahmen von Lionel Hampton, Red Norvo, Milt Jackson, Terry Gibbs, Cal Tjader, Roy Ayers und letztlich bei Gary Burton. Burton ist zweifellos der herausragendste Vibraphonist unserer Zeit. Und die Schallplatten, die er mit Keith Jarrett und Chick Corea eingespielt hatte, drehten sich damals endlos auf meinem Plattenteller. Ich hörte sie mir immer wieder an, vom ersten bis zum letzten Ton.
Um unabhängig von den Räumlichkeiten des Konservatoriums üben zu können, kratzte ich all mein Geld zusammen und kaufte mir ein Vibraphon, ein Xylophon und ein halbwegs passables Klavier. Endlich. Schon bald tauchte ich in meinem Musikzimmer bis zu den Haarwurzeln nicht nur in die Bach’schen Preludien und Fughetten
ein, sondern auch in das sogenannte Real Book
. In einer vereinfachten Notenschrift enthält die Sammlung alle relevanten Jazzstandards, die das Genre hervorgebracht hat
.
Beim Jazz ging es früher meistens darum, zunächst ein musikalisches Thema zu etablieren und es dann in Echtzeit zu verarbeiten. Je ausgefuchster dieses Thema in einer Improvisation umspielt oder sogar bis zur völligen Unkenntlichkeit aufgelöst wird, desto cooler klingt es. Obwohl das Metrum den Zusammenhalt liefert und sich alle Musiker exakt an die Akkordstruktur halten, lässt sich die Grundmelodie des Songs bestenfalls noch erahnen. Wenn dann nach den Improvisationen der Instrumente das Originalthema wieder erklingt, ist es verblüffend, wie alle wieder nach Hause gefunden haben. Eigentlich gilt dieses Prinzip schon seit dem New Orleans Jazz oder dem Dixieland. Dort gibt jedes Instrument nach dem Thema seine Improvisation zum Besten. Aber alle entfernen sich nicht allzu weit vom Ausgangsthema – es klingt immer noch als Subtext mit. Auch in der Swing-Musik hört man eher Ornamente und formelhafte Konventionen. Als einige Jazz-Musiker dieses Prinzip im Bebop mit waghalsigen Tempi, erweiterter Harmonik und mit akrobatischer Technik vorgetragenen Improvisationen auf die Spitze trieben, wurde es abenteuerlich.
Das Level der Original-Musiker des Modern Jazz würde ich nicht erreichen, das war klar, aber Improvisieren machte mir auch auf meinem Niveau großen Spaß. Ich verbrachte Tage damit, das Spiel von Vibraphonisten, die ich mochte, von Schallplatten zu transkribieren und nachzuspielen, bis ich sie auswendig konnte.
Immer mehr interessierte ich mich für Harmonielehre und Kontrapunkt. Eine Modulation am Klavier auszuprobieren und aufzuschreiben, ließ mich alles um mich herum vergessen. Oft saß ich stundenlang am Klavier, probierte »Changes« und komponierte.
Neben der Musik hatte ich das Gefühl, meine Allgemeinbildung könnte ein weiteres Upgrade vertragen, und besuchte ab August montags, mittwochs und freitags die Franz-Jürgens
Fachoberschule. Die Unterrichtsstunden lagen in den Abendstunden und passten einigermaßen in meinen Zeitplan am Konservatorium. Ich dachte, die Aufführungen an der Oper würde ich schon irgendwie hinkriegen. Was eine Fehleinschätzung war: Es wurden immer mehr Dienste, sodass es dann doch nicht funktioniert hat. Trotzdem war es, bis ich die Schule nach einem Jahr wieder verließ, eine nicht sehr aufregende, aber doch sinnvolle Zeit.
Detox
Gelegentlich ging ich nach einer Vorstellung im Opernhaus noch auf ein Bier oder eine Cola in die Altstadt, um im Ratinger Hof den Abend ausklingen zu lassen.
Eines Abends – ich war gerade auf dem Weg von der Kunsthalle in Richtung Ratinger Straße – hörte ich aus der Entfernung den Sound von Livemusik. Da spielt eine Band im Creamcheese, dachte ich. Jemand improvisierte in einer offenen Stimmung auf seiner Gitarre. Je näher ich dem Laden kam, desto lauter wurde der Sound. Irgendwie klang es orientalisch. Ich ging hinein. Drinnen war es bis auf eine Neonröhre, die irgendwo unruhig flackerte, ziemlich dunkel. Schemenhaft erkannte ich die Musiker. Klar, es waren die üblichen Verdächtigen, die immer für eine Jamsession zu haben waren. Das wird lustig, freute ich mich. Dann entdeckte ich ein Vibraphon, dass schräg im Raum stand. Ich stellte mich an das Instrument und nahm die Mallets, die auf den Klangstäben lagen, und legte los.
Doch halt! Irgendetwas stimmte nicht. Die Musik rauschte an mir vorbei, es fiel mir schwer einzusteigen. Und auch die Jungs der Band nahmen keinerlei Notiz von mir. Oder bildete ich mir das bloß ein? Nein. Offensichtlich hatten sie sich vorher gründlich mit diversen »Rauchwaren« oder anderen Substanzen auf die
Session vorbereitet. Und ohne eine solche gewissenhafte Vorbereitung fiel es mir erkennbar schwer »mitzuhalten«. Wir waren nicht kompatibel.
Bei Musikern haben Drogen eine lange Tradition, nicht nur im Jazz oder in der Popmusik. Sei es, sich von den Fesseln der Wirklichkeit zu befreien, in einen anderen, unbewussten Zustand zu wechseln, von dem man sich künstlerische Inspiration erhofft – oder einfach nur, um gut drauf zu sein. Bisher waren auch viele unserer Jamsessions kleine hedonistische Feste gewesen, zu deren Verhaltenskodex fröhliches Kiffen so selbstverständlich gehörte wie ein Martini – geschüttelt, nicht gerührt – in einem James Bond-Film. Es hatte damals sogar zwei oder drei Gigs gegeben, bei denen ich zu weit gegangen war. Ich weiß also, wovon ich rede. An diesem Abend jedoch waren die Karten anders gemischt. Ich kam gerade aus dem professionellen Umfeld des Opernhauses, trug meinen Dienstanzug – die silberne Krawatte hatte ich zusammengerollt in die Tasche gesteckt – und befand mich in einer völlig anderen Verfassung als meine Spielgefährten. Wir hätten paradoxerweise einen Dolmetscher benötigt, um musikalisch zu kommunizieren.
Ich fragte mich: Ein Joint kann doch nicht die Voraussetzung für eine inspirierte Session sein, oder doch? Mit Haschisch, Marihuana, Alkohol oder sonst etwas im Blut ist man möglicherweise relaxed, hat Spaß beim Spielen, da ist dieses Kribbeln im ganzen Körper, man fuchst sich rein, alles ist subjektiv großartig und bedeutungsvoll – aber ist es das auch wirklich? Objektiv?
Eigentlich ist mir auf diese Art und Weise noch nie etwas Vernünftiges gelungen, dachte ich beim nach Hause gehen über die Oberkasseler Brücke. Vor allem bleibt das Urteilsvermögen auf der Strecke. Geht es doch nur noch darum, seinen eigenen alterierten Zustand zu erleben und wenn möglich, immer noch weiter zu steigern. Ich bin weit davon entfernt, neunmalkluge Ratschläge zu erteilen, aber für mich ist das Musizieren – die
Kombination aus Hören, Fühlen, Spielen und Denken – ein hochkomplexer Vorgang, an dem alle Sinne und Fähigkeiten des Musikers beteiligt sind. Deshalb ist nichts so wichtig wie ein klarer Kopf. Das gilt sowohl fürs Machen als auch für die Rezeption. Denn auch Zuhören hat etwas mit Denken zu tun.
Ich traf in dieser Nacht mitten über dem Rhein die Entscheidung, dass für mich diese Phase nun zu Ende geht und ich mich nicht mehr beim Musizieren beeinflussen lassen werde. Musik ist viel zu wichtig für meine Existenz, um sie nicht bei vollem Bewusstsein zu erleben. So viel dazu.