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MIT KRAFTWERK NACH AMERIKA
Auf der Autobahn in die US-Charts. Mein polyphones Leben. Drei Warm-up-Gigs. Take off. New York, New York. On Broadway. Itinerary April, May, June.
Auf der Autobahn in die US-Charts
Ohne Atempause ging es bei mir 1975 an der Duisburger Oper mit den Proben von Puccinis Tourandot
und der anschließenden Premiere weiter. Es folgten Der Tod in Venedig
, danach eine La Bohème-
Bühnenmusik und der jährliche Auftritt mit den Jokers auf dem Presseball in Bochum. Gemessen daran erschien mir die sechste Session im Kling Klang Studio wenig bedeutsam. Aber dann, Ende Januar, klingelte das Telefon. Ralf war dran. Er sagte, dass Florian und er gerne etwas mit mir und Wolfgang besprechen würden. Ganz offensichtlich wollte er am Telefon nicht so recht mit der Sprache heraus, und so verabredeten wir uns für den Nachmittag.
Mit Ralfs VW Käfer fuhren wir in ein Café in der näheren Umgebung. Die Spannung stieg: Ralf lächelte hintergründig, räusperte sich und stellte uns schließlich die Frage, ob wir uns vorstellen könnten, ein paar Gigs in Amerika zu machen. Autobahn
sei dort in die Charts eingestiegen und bewege sich unaufhaltsam auf die vorderen Plätze zu. Nun läge eine Anfrage für eine Tournee auf dem Tisch. Wie viele Konzerte es sein würden, war noch nicht absehbar, aber einen Monat würden wir uns sicher in den Staaten aufhalten. Vorher noch zwei bis drei Warm-up-Gigs, und im April sollte es dann losgehen
.
Die neue Perspektive hatte die Stimmung gelockert, wir überlegten, welche Künstler aus Deutschland schon einmal in den USA erfolgreich gewesen waren. Jemand brachte Horst Jankowski ins Spiel. Sein »A Walk Through The Black Forest« erreichte 1965 die Nummer 1 der US-Charts. Frank Sinatra hat das von Bert Kaempfert komponierte »Strangers In The Night« gesungen, fiel mir noch ein. Und Wolfgang wusste, dass Klaus Doldinger in den Sechzigern mit seiner Band in Amerika getourt hatte. Dann war Schluss. Andere deutsche Musiker wollten uns nicht einfallen. Der Erfolg von Autobahn
war also wirklich eine ganz heiße Sache.
Ich überlegte: Was mein Studium anging, fühlte ich mich einigermaßen sicher. Außerdem würden am 1. April sowieso die Semesterferien beginnen. Das passte also.
Dann sprachen Ralf und Florian das Thema Geld an. Sie würden Wolfgang und mir eine Pauschale anbieten, egal für wie viele Konzerte wir gebucht werden. Ich verdiente das Geld für meinen Lebensunterhalt zu dieser Zeit in der Oper und mit Unterhaltungsmusik. Vielleicht würde ich durch die Kraftwerk-Tour ein oder zwei Monate verlieren. Und wenn schon, damit konnte ich leben. Die Gage für die US-Gigs war für mich zweitrangig. Das Angebot schien mir eine einmalige Chance, das Land kennenzulernen, in dem die Popmusik erfunden wurde. Es war unwahrscheinlich, dass ich in absehbarer Zeit dorthin reisen würde. »Ich bin dabei«, hörte ich mich sagen.
Aber zunächst war für das Frühjahr ein Konzert mit dem Hochschulorchester geplant, bei dem ich als Solist auftreten konnte. Unbedingt wollte ich diese Erfahrung machen. Im Programm befand sich auch ein Stück des zeitgenössischen Komponisten Friedrich Zehm: Carpriccio für einen Schlagzeuger und Orchester.
Nach zwei Orchesterproben führten wir die Komposition im Februar im Robert-Schumann-Saal auf. Zum ersten Mal las ich meinen Namen in einem solchen kulturellen Kontext in der
Lokalpresse: »Der exzellente Schlagzeuger Karlheinz Bartos – Klasse Ernst Göbler – spurtete leichtfüßig zwischen Xylophon, Bongos und Jazz-Schlagzeug umher und demonstrierte seine virtuosen Fähigkeiten.« Ich war stolz darauf, im Kulturleben Düsseldorfs wahrgenommen zu werden.
Mein polyphones Leben
Im Februar war es offenbar an der Zeit, ein offizielles Bild der Gruppe Kraftwerk in der neuen Besetzung fotografieren zu lassen. Zu diesem Zweck verabredeten wir uns zu einem Fototermin bei Foto Frank auf der Blumenstraße. Herr Frank, ein Fotograf der alten Schule, hatte bereits das Portrait des Ralf und Florian
-Albums aufgenommen. Auch das Gruppenbild des vorigen Line-ups, zu der Klaus Röder gehörte, kam aus seinem Atelier.
Schließlich posierten wir vier vor einem grauen Vorhang – der Klassiker. Herr Frank trat an seine riesige, altmodische Kamera, die auf ein Holzstativ montiert war, und erklärte uns freundlich lächelnd: »Jetzt lege ich den Spezialfilm ein.« Gemeint war eine Fotoplatte aus Glas. Dann verschwand sein Kopf unter dem Vorhang, der an der Kamera befestigt war, er drückte ab, und fertig war das erste Bandfoto mit Ralf, Karl, Wolfgang und Florian.
Die erste Februar-Hälfte war dann vom Rheinischen Karneval bestimmt. Ich besuchte eine Fête an der Robert-Schumann-Hochschule, spielte drei Tage hintereinander mit den Jokers bis in die frühen Morgenstunden im Düsseldorfer Hilton, und am Rosenmontag traf ich mich mit zwei befreundeten Musikern in der Altstadt. Wir hatten beschlossen, uns als Samba-Kapelle – in der etwas seltsamen Besetzung mit zwei kleinen Trommeln und Piccoloflöte – ein paar Drinks in Lokalen zu verdienen. An den Anfang unserer »virtuosen« Darbietungen kann ich mich noch erinnern. Dann hatte ich einen Filmriss und wachte am nächsten
Nachmittag in meiner Oberkasseler Dachwohnung auf – die Trommel auf meinem Bauch. Für Rheinländer eine ganz normale Episode aus dem Epizentrum des Karneval.
Die siebte Kling-Klang-Session war am 18. Februar. Wir probten zu viert, die Warm-up-Gigs in Leverkusen, Paris und Köln waren schon gebucht. Nervös machte mich allerdings ein anderes Ereignis, das auf mich zukam: Am nächsten Morgen hatte ich mein Klavierexamen in den Räumen des Konservatoriums. Monatelang hatte ich dafür drei Musikstücke geübt.
Vormittags in einem großen, mit Holz getäfelten Raum am Steinway-Flügel zu sitzen und einem Komitee vorzuspielen war eine sonderbare Erfahrung. Ich hatte das Gefühl, die Klaviatur sei aus Gummi und bewege sich unmerklich hin und her. Zum Glück waren meine Hände trocken, und ich wurde ruhiger. Mein Programm bestand aus drei Stücken, die ich auswendig spielte: Die Sonate G-Dur
von Ludwig van Beethoven, Der kleine Neger
von Claude Debussy und Johann Sebastian Bachs Invention in H-Moll.
Mein kleiner Vortrag wurde vom Komitee mit einem gut
bewertet. Das war geschafft. Am folgenden Tag schrieb ich Klausuren in Kontrapunkt und Gehörbildung.
Ende Februar waren wir am frühen Abend zu den Kraftwerk-Sessions acht und neun verabredet. Irgendwann während der Vorbereitungen besprachen Ralf und Florian im Studio das Plakat für die Amerika-Tournee. Es sollte, daran kann ich mich noch gut erinnern, die Optik von Fritz Langs Film Metropolis
aufgreifen: Die Stadt der Zukunft, Transport, Elektrizität und das Hauptthema des Films, die Koexistenz von Mensch und Maschine. Auf dem Autobahn
-Tourplakat, das ein Grafiker in den USA nach ihren Vorgaben gestaltete, tauchte dann auch schon der Begriff »Mensch-Maschine« auf
.
Drei Warm-up-Gigs
Meinen ersten Kraftwerk-Gig spielte ich am 27. Februar 1975 im Forum Leverkusen. Beim Aufbau kümmerte sich jeder um sein eigenes Equipment, ich also um mein Vibraphon und das Elektro-Schlagzeug. Das Anschließen der Anlage war neu für mich: Ein Gewirr von Kabeln, Instrumenten, Mikrofonen und Effektgeräten – ein wildes Live-Elektronik-Set-up – nahm langsam Gestalt an. Beim Soundcheck dann eine böse Überraschung: Florians Synthesizer funktionierte nicht mehr. Wir waren ziemlich entsetzt. Zum Glück – oder vielleicht in kluger Voraussicht – hatte Florian jedoch die Telefonnummer des Synthesizerstudio Bonn in der Tasche. Er rief dort an und bat Dirk Matten und Hajo Wiechers, ihm aus der Klemme zu helfen.
Als der neue ARP schließlich eingetroffen war, konnte es losgehen. Der Bühnenaufbau bei den ersten Shows war simpel. Ralf – auf der linken Seite – spielte Farfisa Professional Piano und den Minimoog. Auch ein Mischpult und Echogerät gehörten zu seinem Equipment. »Autobahn« sang er über ein Sennheiser MD 421 Mikrofon. Ihm gegenüber – also rechts – war Florian mit dem ARP Odyssey positioniert. Zu seinem Instrumentarium gehörten noch F-Querflöte, Saxophon, Mikrofon, Mischpult und Echogerät. Lässig stand er mit aufgekrempelten Ärmeln vor dem Synthi. Zum ersten Mal war ich am Vibraphon oder Elektro-Schlagzeug der Zweite von links. Neben mir Wolfgang, der auf dem Prototyp des Percussion-Multipad spielte. Bei diesen ersten Konzerten im klassischen Line-up saßen wir beide, denn wir benutzten noch den Fußschalter für die Bass Drum. Wir vier trugen dunkle Hosen und helle Hemden, T-Shirt oder Pullover. Unser Bühnenaufbau glich mehr einer Aufführung live-elektronischer Musik als einer Popmusik-Veranstaltung.
Das Programm bestand aus »Ruckzuck«, »Tanzmusik« und »Tongebirge«. Autobahn
spielten wir komplett
.
Drei Tage später trafen wir uns abends zur Session Nummer zehn im Kling Klang Studio. Ralf und Florian hatten sich schon für ihr gleichnamiges Album 1973 ihre Namen als Neonlicht-Schriftzug anfertigen lassen. Bei Konzerten standen die Neon-Namen vor ihnen. Eigentlich wie die Leuchtreklame in einem Ladengeschäft. Die beiden hatten vor, auch für Wolfgang und mich einen Namenszug aus Neon anfertigen zu lassen. Ganz vorsichtig fragten sie mich, ob ich mit »Karl« einverstanden wäre. »Karlheinz« hätte doch neun Buchstaben und sei recht teuer … Karl dagegen koste nur die Hälfte. Natürlich stimmte ich zu. Und so hieß ich fortan Karl.
Das nächste Ziel war Paris. Am Morgen des 11. März trafen wir uns im Kling Klang Studio und packten unsere Instrumente in zwei geliehene Lieferwagen. Mit mehreren Autos brachen wir nach Paris auf, wo wir am nächsten Tag im Bataclan – das durch die Terroranschläge im November 2015 auch bei nicht Musikinteressierten zu trauriger Berühmtheit gelangen sollte – unseren zweiten Warm-up-Gig in Frankreich spielten.
Während des Konzerts – bei dem wir von den Rauchschwaden unzähliger Marihuana-Joints, die vom Publikum zu uns auf die Bühne wehten, eingenebelt wurden – setzte sich unvermittelt ein junger Mann aus dem Publikum zu Ralf an die Orgel. Der bekiffte Monsieur lächelte glücklich in sich hinein. Wir hatten damals weder eine Crew noch Security und schon gar keinen Manager, die solche Situationen sonst regeln. Doch Ralf ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, sprach mit Monsieur, und der verließ verständnisvoll die Bühne.
Den nächsten Tag verbrachten wir gemeinsam in Paris. Die Stimmung war gelöst, als wir vier auf dem Champs-Élysées umherstreunten. Plötzlich entdeckte Florian in einem Geschäft ein Paar Schuhe. Völlig aus dem Häuschen stürmte er in den Laden und kam nach einigen Minuten freudestrahlend mit den Schuhen wieder raus. Das war schon ein skurriler Moment, zumal
die exklusiven Treter extrem teuer waren, jedenfalls aus meiner Sicht. Außerdem sahen sie mit einem geflochtenen Vorderblatt ziemlich kurios aus. Florian war überglücklich, und das übertrug sich auf uns alle.
Hier auf dem Champs-Élysées wurde mir klar, dass ich keine Ahnung davon hatte, welche Gage Kraftwerk für einen Gig erhielt. Das war anders als in meinen sonstigen Bands. Doch eigentlich war das auch nicht wichtig. Wir hatten großen Spaß zusammen, und Ralf und Florian ließen sich nicht lumpen und luden Wolfgang und mich abends zu einem opulenten Geschäftsessen mit Champagner, Austern, Filet Mignon, Sauce Béarnaise und Profiteroles ein.
Am Tag darauf machten wir uns auf den Rückweg nach Düsseldorf, und am Sonntag hatte ich einen Gig mit den Jokers. Leider musste ich meinem Band-Kollegen Franz erklären, dass ich die nächsten Jobs nicht mitspielen konnte, weil ich mit der Gruppe Kraftwerk eine Tournee durch die USA machen würde. Ein Angebot, das ich natürlich nicht abschlagen konnte, das war auch Franz klar. In den Siebzigerjahren war eine USA-Reise für unsereins unbezahlbar. Er wünschte mir Glück.
Bei der elften Kraftwerk-Session im Kling Klang Studio besprachen wir noch ein paar musikalische und logistische Dinge. Zwei Tage später trafen wir uns wieder alle dort. Wir beluden die Autos mit unserem Equipment und fuhren nach Köln. Im WDR Sendesaal – in dem schon Karlheinz Stockhausen den Gesang der Jünglinge
uraufgeführt hatte – spielten wir unseren dritten und letzten Warm-up-Gig. Mit einer Unterrichtsstunde bei Ernst Göbler am 25. März und der Aufführung von Donizettis Liebestrank
verabschiedete ich mich in die Ferien. Auf nach Amerika!
Take-of
f
29. März 1975, Düsseldorfer Flughafen: Als ich Wolfgang sah, fiel mir sofort auf, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung war. Sein Gesicht war fast weiß. Er hatte sich beim Parken seines roten Opel Kadett böse verletzt. Beim Zuschlagen der Fahrertür erwischte diese unglücklich seinen linken Daumen – autsch! Der Daumen war angeschwollen und hatte sich dunkelviolett verfärbt. Es musste die Hölle für Wolfgang gewesen sein, aber er war tapfer und hielt durch. Was sollte er auch tun? Als wir im Flieger der Pan Am saßen, bekam er von der Stewardess kaltes Wasser und Eiswürfel, um die Schmerzen einigermaßen in den Griff zu bekommen. Schließlich hoben wir ab und los ging’s Richtung Westen über den Atlantik. Es war mein erster Transatlantikflug – mein zweiter Flug überhaupt – und ich war ziemlich aufgeregt.
Bei der Ankunft am John F. Kennedy Airport New York am frühen Nachmittag bemerkte ich, dass man bei uns nicht gerade von einem einheitlichen Dresscode sprechen konnte. Zu Hause und bei den ersten Warm-up-Gigs hatten sich Ralf und Florian eher leger gekleidet. Bei dieser Reise trug Ralf einen schwarzen Baumwollmantel mit Pelzkragen, eine graue Stoffhose und weiße Schuhe. Dazu die Lederhandschuhe. Außerdem schleppte er einen schwarzen Diplomatenkoffer mit goldenem Zahlenschloss mit sich herum. Mit seiner Brille – die vom Albumcover Ralf und Florian
– sah er außergewöhnlich aus. Florian trug einen beigefarbenen Kamelhaarmantel, ebenfalls mit Fellkragen, und einen weißen Schal. In der Hand einen goldenen Samsonite-Koffer. Die beiden schienen gerade aus einem Fritz-Lang-Film gefallen zu sein.
Auch Emil Schult war mit dabei. Seine braunen, schulterlangen Locken und sanften blaugrauen Augen gaben ihm etwas im positiven Sinne Weiches. Emil hatte an der Düsseldorfer
Kunstakademie studiert, als Kunstlehrer an einem Gymnasium gearbeitet, war Künstler, Maler, und hatte auch schon bei einigen Kraftwerk-Gigs rollschuhfahrenderweise Gitarre gespielt. Auf Autobahn
war er in den Credits als Co-Autor der Lyrics erwähnt worden. Außerdem hatte er das Artwork des Albums gestaltet. In Sachen Kleiderordnung entschied er sich im Gegensatz zu Ralf und Florian für einen gänzlich anderen Stil: Mit seinem hellen Trenchcoat, dem Jacket, dem weißen Hemd und der Krawatte hätte er in jedem Film der Nouvelle Vague
mitspielen können.
Zweifellos war Wolfgang der Farbenprächtigste von uns, er hatte sich für den Trip eine dreiviertellange bunt karierte Wolljacke zugelegt und um den Hals einen leuchtend roten Wollschal geschlungen. Diese Holzfällerjacke brachte ihm den Namen »Karo McTrench« ein. Das war der erste der vielen Spitznamen, die er von uns noch hinnehmen musste und geduldig ertrug. Ich selbst lief in Jeans, Pullover, Parka herum, um den Hals baumelte ein altmodischer Brustbeutel für Reisepass, Flugtickets und ein wenig Geld – studentisches Downdressing, wie immer.
Trotz dieser »kleinen Unterschiede« in unserer Reisegesellschaft war der Umgang freundschaftlich, locker und fantasievoll-lustig. Obwohl die Platte Autobahn
gerade die Billboard-Charts unaufhörlich nach oben kletterte, war dieser Trip für alle Beteiligten ein Experiment. Niemand von uns hatte eine Ahnung, wohin die Reise ging, wohin uns das alles führen würde.
New York, New York
In der Halle des Airports erwartete uns bereits Ira Blacker. Seine Management-Firma, Mr. I. Mouse Ltd., hatte im Vorfeld mit Ralf und Florian die anstehende Tournee organisiert. Er war mit Henry Israel gekommen, dem Tourmanager. Henry war wie Ira
um die 30, hatte mehr oder weniger die gleiche Frisur wie Wolfgang und dazu einen getrimmten Vollbart.
Draußen wartete eine schwarze Stretchlimousine mit dunkel getönten Scheiben. Der Chauffeur öffnete die Türen. Wir stiegen ein, ließen uns in die weichen Sitze fallen, und kurz darauf fuhren wir los in Richtung Manhattan. Mit meinen 22 Jahren war ich zwar ziemlich unbekümmert, aber irgendwie hatte ich das verdammte Gefühl, ich sei gerade in einem Film. Als wir über die 59th Street Bridge fuhren und den East River überquerten und ich die weltberühmte Skyline erkannte, verstärkte sich das Gefühl noch. Und doch war alles real. Durch die Straßenschluchten Manhattans fuhren wir zu unserem Hotel.
Wolfgang und ich wurden zunächst im Gorham in der 136 West 55th Street einquartiert, damals nicht gerade eine Nobelherberge. Wir teilten uns ein Doppelzimmer, was übrigens bis zum Schluss unserer gemeinsamen »Fahrgeschäfte« auch so blieb. Beim Einchecken schärfte uns Henry Israel ein, vorsichtig zu sein und keine Wertsachen im Hotelzimmer zu lassen: »Always lock the door, guys.« Die vielen Schlösser an unserer Zimmertür schienen seine Warnungen zu bestätigen. Zum Schluss gab er uns noch den Tipp, beim Verlassen des Zimmers den Fernseher anzulassen, damit der Raum auch während unserer Abwesenheit bewohnt wirkte. Dann verschwand er, um sich mit Ira Blacker um Ralf und Florian zu kümmern. Die beiden waren im Mayflower Hotel, 15 Central Park West untergebracht. Was mit Emil war, vermag ich heute nicht mehr zu sagen. Ehrlich – viele Gedanken habe ich mir darüber nicht gemacht. Alles war neu, alles ging schnell. Schon nach ein bis zwei Tagen siedelten Wolfgang und ich aber auch ins Mayflower um, weil es die Abläufe und die Kommunikation untereinander wesentlich vereinfachte.
Als wir allein im Hotelzimmer waren, öffnete ich das Fenster. Vom 27. Stockwerk hatten wir einen freien Blick auf die
umliegenden Wolkenkratzer. Auf den Dächern der kleineren Häuser ließen sich Neonreklamen, Entlüftungsrohre der Klimaanlagen und hölzerne Wassertanks erkennen. Und selbstverständlich auch die unzähligen Feuerleitern aus Metall, die außen an den Fassaden hingen wie Baugerüste. Das alles war nicht wirklich modern, sondern erinnerte eher an die Zwanzigerjahre. Unten in den Straßenschluchten wirkten die Menschen und Autos wie Spielzeug, und als wir uns aus dem Fenster lehnten, nahmen wir zum ersten Mal bewusst den Soundtrack des Big Apple wahr: Ein an- und abschwellendes Brodeln aus Verkehrsgeräuschen und Sirenen aller Art, die ich zu diesem Zeitpunkt nur aus Filmen gekannt hatte. Ich weiß noch, wie wir uns anschauten und gebannt dem Klang der Stadt zuhörten. Eigentlich fehlte nur noch, dass jemand im Nachbarzimmer das Radio einschaltete und Gerschwins »Rhapsody In Blue« erklang.
Damals war mir nicht bewusst, dass sich New York City seit den frühen Siebzigerjahren in einer hoffnungslosen finanziellen Lage befand. Die Stadt war marode, ziemlich heruntergekommen und hatte eine sehr hohe Kriminalitätsrate vorzuweisen. Das Leben war hier nicht ganz ungefährlich, so könnte man es positiv formulieren. Einer ungeschriebenen Regel zufolge blüht aber in einem solchen Umfeld die Entertainment-Industrie. Künstler werden von diesen Bedingungen magisch angezogen, es gibt Jobs! Vielleicht hat diese Magie auch etwas mit den illegalen Substanzen zu tun, die zur Grundausstattung im Show-Business gehören. Ob mit oder ohne Stimmungsaufheller, das Lebensgefühl überträgt sich unweigerlich auf die Kunst. An der Entwicklung der Musik lässt sich das gut verfolgen. In der ersten Hälfte der Siebzigerjahre – The Summer of Love (1967) und das Woodstock Festival (1969) befanden sich immer noch im kollektiven Gedächtnis – wurden in New York City Punk, Disco und Hip-Hop erfunden.
Abends brachte Henry Wolfgang in ein Hospital. In der
Ambulanz bekam er endlich die notwendige medizinische Hilfe und wurde von seinen Schmerzen erlöst. Am nächsten Morgen, es war Ostermontag, frühstückten wir alle gemeinsam im Café Rumpelmayr, das sich nur ein paar Minuten von uns entfernt im St. Moritz Hotel am Central Park befand – genau da, wo der Broadway auf den Columbus Circle stößt. Große, helle Räume mit verspiegelten Wänden und Palmen – Florian war in seinem Element. Die Klimaanlage fegte uns um die Ohren und erzeugte winterliche Temperaturen. Das amerikanische Essen war eine neue Erfahrung für mich. Alles schmeckte irgendwie synthetisch. American Breakfast mit Eggs, Toast and Bacon allerdings war nicht schlecht, wenn man nicht weiter darüber nachdachte. Es gab viel zu lernen, wie zum Beispiel neue Begriffe beim Bestellen: »How do you like your eggs – scrambled, sunny side up or easy over?« Und dann dieses Ritual mit dem Tap Water on the Rocks
…
Wir lachten viel und gewöhnten uns schnell an die neue Umgebung. Als wir dann alle fünf gemeinsam das erste Mal den Broadway in Richtung Times Square hinunterliefen, entfaltete sich die Stadt vor uns – alles passte zusammen. Die Wolkenkratzer beeindruckten mich in ihrer Schönheit. Es war die Zeit zum Sehen und Hören und nicht zum Nachdenken. Ich konnte mich dem schnellen Tempo der Stadt und dem Rhythmus des Verkehrs nicht entziehen. Die Menschen strömten unentwegt aus den U-Bahn-Stationen. Es kam mir vor, als würden sich alle beeilen, um bloß nicht ihr nächstes Meeting zu verpassen. Unterwegs kaufte ich mir bei einem der fliegenden Händler einen Kaugummi. Als der Verkäufer erfuhr, woher ich komme, rief er mir ein fröhliches »Heil Hitler« zu und machte den bekannten Gruß mit dem rechten Arm. Noch im Weggehen hörte ich, wie er sich über seinen eigenen Witz kaputtlachte. Mann, das hat mich ganz schön umgehauen. Zum ersten Mal wurde mir unmissverständlich klargemacht, was es heißt, einen deutschen Pass zu haben
.
Am Times Square trennten wir uns. Zusammen mit Wolfgang erkundete ich weiter die Stadt, und wir machten mit seiner Super-8-Kamera ein paar Aufnahmen. Bis in die Nacht zogen wir ohne Ziel durch die Straßen Manhattans. Tausende von gelben Taxen waren unterwegs. Es waren genau die
Taxen, denen Martin Scorsese ein Jahr später mit seinem wohl berühmtesten Film Taxi Driver
ein Denkmal setzen würde. Das nächtliche New York, durch das Wolfgang und ich spazierten, sah genauso aus wie in Taxi Driver:
die Pornokinos, Gadgetshops und Souvenirläden, die riesigen Reklameschilder der Musicals und die Leuchtschriften, die Hotdog-Stände und Hamburger-Restaurants, die Touristenschwärme, die Herumtreiber und natürlich die Straßenmusiker … Der Schlagzeuger mit den angemalten schwarzen Haaren auf der Stirn, der am Times Square »Rudiments and Paradiddles« von Gene Krupa vorführt … da stand er live vor uns, auf einer Verkehrsinsel, und trommelte unermüdlich auf seiner Snare Drum. Als ich den Scorsese-Film später sah, erkannte ich ihn wieder. Und dann waren da diese geheimnisvollen Dampfschwaden, die nachts durch die Kanaldeckel aus der Unterwelt nach oben stiegen. Vielleicht war Robert De Niro alias Travis Bickle damals in seinem gelben Taxi beim Dreh an uns vorbeigefahren. Möglich wär’s.
Am nächsten Tag, es war der 1. April, war für uns eine Fotosession in den Maurice Seymour Studios gebucht. Die ursprünglich aus Chicago stammenden Brüder Maurice und Seymour Zeldmann eröffneten 1950 ihr Fotostudio in New York City und firmierten seitdem unter Maurice Seymour. Seit den 1930er-Jahren hatten sie sich mit Portraits von Celebrities einen Namen gemacht und zählten zu den berühmtesten Showbiz-Fotografen Amerikas. Wer uns in New York an dem Tag allerdings wirklich fotografierte, kann ich nicht sagen. Das Ergebnis, so viel ist sicher, trägt die Signatur Maurice Seymour. Die Bilder aus dieser Session wurden später von den Schallplattenfirmen für die
Promotion verwendet – außerdem für die europäische Ausgabe des Albums Trans Europa Express.
Ein Empfang im Famous-Music-Verlag am selben Tag bestätigt so ziemlich alle Klischees, die man von Meetings im Showbusiness haben kann. Meine erste Lektion in Business Talk. Ich erinnere mich, wie einer der Gentlemen sich lächelnd an Wolfgang wandte und ihm aufgeregt mitteilte, wie großartig doch sein Pullover sei. Alles klar!
Am nächsten Vormittag waren keine Termine angesetzt. Was tun? Ich suchte in den Gelben Seiten von New York nach einem Percussion-Shop und fand diese Adresse: Professional Percussion Center, 832 8th Avenue. Ohne zu wissen, was mich erwartete, machte ich mich auf den Weg dorthin. Der Laden von Frank Ippolito war in einem sehr alten Gebäude auf drei Etagen untergebracht. Im ersten Stock waren alle möglichen Drumsets und Percussion-Instrumente aufgestellt. Das Ganze wirkte normal und bodenständig, absolut nicht aufgeblasen und ein bisschen altmodisch. Die zweite Etage war bis unter die Decke mit Trommeln, Fellen, Cymbals, Bauteilen, Zubehör und Cases vollgepackt. Und zwei Unterrichtsräume, die von den berühmten Jazz-Drummern Elvin Jones und Jim Chapin genutzt wurden, befanden sich im dritten Stock. Auf einem Plakat an der Wand las ich, dass die Schlagzeuger Billy Cobham und Tony Williams hier gerade Workshops abgehalten hatten. Etwas später erklärte mir jemand vom Personal: »Da hinten stehen die Drumsets von Gene Krupa und Buddy Rich und außerdem Lionel Hamptons’ original Deagan-Vibraphon.« Ein Geschäft nur für Schlagzeuger – das war ja wie im Paradies! Ich fühlte mich augenblicklich verpflichtet, jede Menge Mallets und Noten zu kaufen. Mit zwei vollgestopften Taschen machte ich mich auf den Weg zurück zum Hotel.
Nachmittags waren wir in einem Rehearsal-Studio verabredet. Eine Spedition hatte mittlerweile unser Equipment angeliefert.
Flight Cases besaßen wir damals nicht, unsere Instrumente transportierten wir in notdürftig mit Klebeband fixierten Pappkartons. Mein Vibraphon war zu Hause geblieben, denn für die Tour hatten Ralf und Florian ein Deagan-Vibraphon mit Tonabnehmern gemietet. Später wurden zwei verchromte Kofferständer aus einem Holiday Inn zu Readymades erklärt und zu Keyboardständern umfunktioniert.
Als ich im Studio eintraf, gaben Ralf und Florian gerade einem Fernsehteam ein Interview. Ich hörte aus der Entfernung, wie Ralf die Kraftwerkmusik als »romantischen Realismus« beschrieb. Mir fiel auf, wie kamerafest die beiden waren. Ihr Englisch war flüssig, und da sie sich mit den Antworten abwechselten, kam ein lebendiges Interview zustande. Als das Fernsehteam weg war, zeigten die beiden stolz neue Uhren herum, die sie gerade als Geschenk für die glänzenden Verkäufe von ihren amerikanischen Geschäftspartnern von Famous Music erhalten hatten.
Am 3. April 1975 stand unser erster Gig in Rochester, New York an. Ich erinnere mich mehr an das Wetter als an das Konzert: Ein eiskalter Blizzard verwandelte an diesem Abend sprichwörtlich aus heiterem Himmel die gesamte Umgebung in eine Schneelandschaft. Der Flughafen wurde wegen des Unwetters geschlossen, und wir mussten die Rückreise nach Manhattan in einem gemieteten Kombi antreten – ungefähr 500 km im Schneckentempo über den spiegelglatten Highway in Richtung Süden. Unsere beiden Roadies, die Ira Blacker engagiert hatte, transportierten das Equipment in einem Van zurück. Der zweite geplante Gig in Philadelphia wurde gecancelt, und wir verbrachten den nächsten Tag in New York.
On Broadwa
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Dann war es endlich so weit: Am Samstag, den 5. April 1975, stand das Konzert am Broadway auf der Tagesordnung. Das Beacon Theatre – 2124 Broadway at West 74th Street – ist ein historisches Schauspielhaus, erbaut in der Zeit der Vaudeville-Shows in den goldenen Zwanzigerjahren.
Ira Blacker hatte Michael Quatro, den Bruder von Suzie, und die Band um den ehemaligen Colosseum-Keyboarder David Greenslade als Opening Acts gebucht. Deren Bassist trug beim Auftritt ein hautenges Skelettkostüm. Und das, obwohl Spinal Tap
noch lange nicht gedreht war!
Vor unserer Performance machten wir Backstage den üblichen Quatsch. Auf meinen Schultern lastete keine große Verantwortung. Mit dem Erfolg von Autobahn
hatte ich nichts zu tun, und mein Part der Performance überforderte mich spieltechnisch auch nicht gerade. Folglich war ich nicht sonderlich nervös. Ralf und Florian aber wirkten etwas angespannt. Schließlich hatte Ralf auch den schwierigsten Part an den Keyboards. Die Lead Vocals bei »Autobahn« teilte er sich mit Florian.
Während dieser ersten Amerika-Tour wurde mir klar, dass mich die Art und Weise, wie Ralf Keyboards spielte, an Richard Wright und Ray Manzarek erinnerte. Richard Wrights Set-up bei Pink Floyd ähnelte stark dem von Ralf – nur spielte er ein Mellotron und kein Orchestron. Ein anderer Aspekt war, dass Wright sich das Klavierspielen selbst beigebracht hatte und so über keine prägende Spieltechnik verfügte. Virtuosität auf den Tasten, wie die von Rick Wakeman oder Keith Emerson, war ihm nicht gegeben. Zum Glück, muss man sagen. Ein Echogerät hatte erheblichen Einfluss auf seinen Sound, und schon früh integrierte er Synthesizer in sein Set-up. Auch zum Keyboarder der Doors, Ray Manzarek, gab es Parallelen. Die Doors hatten live keinen Bassisten. Daraus ergab sich für Manzarek die Notwendigkeit,
mit der linken Hand den Bass auf seiner Vox- oder Farfisa-Orgel zu spielen. Die rechte Hand hatte er dann frei für Akkorde oder Melodien auf seinem Rhodes Electric Piano. Im Grunde genommen organisierte sich Ralf auf die gleiche Art, nur dass er für den Bass einen Minimoog verwendete. Diese Spielweise brachte eine unverkennbare Musik hervor. Dazu kommt, dass Ralf nicht wirklich beide Hände unabhängig voneinander spielte. Seine linke Hand rhythmisierte meistens einen Orgelpunkt auf dem Grundton der jeweiligen Akkorde in Oktaven. Die zusätzliche Verwendung eines Echogerätes auf einer Basslinie führte zu Ralfs völlig neuartigem Spiel. »Autobahn« ist das perfekte Beispiel.
Als wir die Bühne betraten, wurde es mucksmäuschenstill. Anders als bei unseren bisherigen Gigs folgten wir der bei klassischen Konzerten üblichen Kleiderordnung: Anzug, weißes Hemd und Krawatte. Das erzeugte beim Publikum zunächst eine eher konservative Wahrnehmungshaltung. Wir spielten unser Set, das aus »Kometenmelodie«, »Ananas Symphony«, »Kling Klang«, »Ruckzuck«, »Tongebirge«, »Tanzmusik« und »Autobahn« bestand. Als wir die Coda von »Autobahn« erreichten, waren die Leute locker geworden und sangen den Refrain mit.
Aus heutiger Sicht ist es verblüffend, mit welch verhältnismäßig geringem Aufwand wir damals am Broadway eine enorme Wirkung erzielten. Das Repertoire bestand im Grunde aus mehr oder weniger improvisierten Instrumentalnummern und der LP-Version von »Autobahn«. Auch das Instrumentarium hatte sich zu den Warm-up-Gigs in Europa nicht wesentlich verändert. Hinzugekommen waren lediglich mein geliehenes Deagan-Vibraphon mit Tonabnehmern und das in den USA gekaufte Orchestron.
Das Vako Polyphonic Orchestron war akustisch ein heißer Kasten. Optisch sah es allerdings aus wie ein Hybrid aus Philicorda-Heimorgel, Minimoog und Musikschrank aus den Fünfzigerjahren. Dave Van Koevering, ein ehemaliger Mitarbeiter
der Firma Moog Music, hatte das Gerät 1975 auf den Markt gebracht. Das Orchestron war ein Konkurrenzprodukt zum Mellotron, dessen typischer Klang der Flöten, Chöre und Violinen beispielsweise auf den Alben der Beatles, Pink Floyd und King Crimson zu hören war. Die Klangerzeugung des elektromechanischen Mellotrons basierte auf Tonbändern, einer Anzahl Bandstreifen, die in einem Rahmen untergebracht waren. Die dort aufgezeichneten Klänge ließen sich über ein oder zwei Manuale spielen. Der Nachteil des Geräts bestand darin, dass sich die Töne nur acht Sekunden lang halten ließen, danach brachen Sie ab. Beim Loslassen der Taste zog eine Feder das Tonband in seine Ausgangsposition zurück.
Die Klangerzeugung des Orchestron basierte nicht auf dem Magnetband, es nutzte das Prinzip des modulierten Lichts. Die Klänge wurden auf dünnen Platten gespeichert und photoelektrisch gelesen. Durch das Wechseln der Platten waren Orchesterinstrumente oder menschliche Stimmen verfügbar, theoretisch konnte jeder Klang, der sich aufnehmen ließ, auf dem Gerät wiedergegeben werden – und zwar ohne zeitliche Begrenzung.
Unser Bühnenbild war nicht besonders aufwendig: die farbigen Neonröhren hinter uns, und vor uns auf dem Boden die kleinen Plexiglaskästen mit unseren Namen in Neonschrift. Emil projizierte einige Dias mit Motiven wie dem Autobahn
-Cover auf eine relativ kleine Leinwand hinter uns. Die visuelle Ebene hatte damals noch den Look eines Seminars an einer Universität.
Bravo
, das größte Jugend- und Musikmedium dieser Zeit, berichtete exklusiv nach Deutschland und bezeichnete unser NY-Konzert als »triumphal«. Und weiter: »Im Beacon Theatre am Broadway herrscht Hochspannung. Gleich zu Beginn ein Schock: Die vier Krautrocker kommen in dunklen Anzügen, weißen Hemden, schwarzen Fliegen und ordentlich gekämmten Haaren auf die Bühne. Auf Showeffekte legt Kraftwerk keinen Wert, ausschließlich die Musik soll im Mittelpunkt stehen. […] ›Er
griffen wie nach einem Kirchgang verlassen viele das Beacon Theatre‹, schreibt am nächsten Tag New Yorks angesehenste Zeitung
New York Times.
[…] Der große Durchbruch für Ralf, Florian, Karl und Wolfgang.«
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Itinerary April, May, June
Durch den Erfolg von Autobahn – der LP und der Single – in den US-Charts kamen plötzlich immer mehr Angebote für Live-Auftritte rein, und Ralf und Florian verlängerten den Zeitraum unserer Amerika-Reise. Selbstverständlich fanden wir das alle großartig.
Zunächst blieben wir an der Ostküste und spielten in Boston, Massachusetts. Dann ging es in den Mittleren Westen mit Städten wie South Bend, Louisville, Carbondale, Cincinatti und Pittsburgh. Ein Highlight war der Gig am 19. April vor rund 3000 Zuschauern im Aragon Ballroom in Chicago.
Natürlich kauften wir damals ständig das Billboard Magazine.
In der Ausgabe vom 19. April 1975 ist Autobahn
gerade in der 11. Woche von Platz 8 auf Platz 7 der Album-Charts gestiegen. Beim Weiterblättern fiel mir auf Platz 118 Pink Floyds The Dark Side of the Moon
ins Auge. Ihr Album war im März 1973 auf dem ersten Platz eingestiegen und hielt sich immer noch in den Charts. Das ist schön für Pink Floyd, wäre aber nicht besonders erwähnenswert, wenn sich auf dem Album nicht das relativ kurze Instrumental »On the Run« befände. Die Grundlage für den Klang dieses Stücks bildet der Synthi AKS von der Firma EMS, der mit einem rudimentären Sequenzer ausgeliefert wurde. Sowohl der Synthesizer-Sound als auch die nur acht Töne des modulierten Loops in diesem Song waren bahnbrechend. Zusätzlich erzeugte der White Noise Generator einen perkussiven Sound. Andere Synthi-Sounds klingen wie die Motoren von
Autos und Flugzeugen, die im Panorama von links nach rechts wandern. Dieser heute immer noch erstaunliche Track ist für mich eine der Ur-Sequenzen der elektronischen Popmusik und ihrer Ableitungen wie Ambient, Synthi-Pop, House oder Techno. War er vielleicht auch eine Steilvorlage für den klangmalerischen Teil der Kraftwerk’schen »Autobahn«-Fahrt? Keine Ahnung.
Wir reisten weiter in den Süden, es folgten Atlanta, Birmingham, Kansas City und Memphis. Dort gingen wir nach dem Gig gemeinsam in einen Nachtclub und tanzten wie die Kinder zu einer erstklassigen Coverband. Die Jungs im Süden können einfach Musik machen.
Im Autoradio hörten wir irgendwann tatsächlich »Autobahn« und waren happy. Auch ich freute mich, obwohl ich mit der Aufnahme nichts zu tun hatte. Einige Songs, die damals in den Radioprogrammen liefen, waren »Philadelphia Freedom« von Elton John, Barry Whites »What Am I Gonna Do with You«, »Walking In Rhythm« von den Blackbirds, »The Hustle« von Van McCoy, und vor allen Dingen »How Long« von Paul Carrack.
Schließlich ging es rüber an den Pazifik, erst nach Vancouver/Kanada, dann die Westküste runter: Portland, Seattle, San Francisco, San Diego und Los Angeles, und über die Mormonenstadt Salt Lake City weiter nach Utah und Denver, Colorado.
In San Francisco hatten wir vor dem Konzert einen Day off.
Wolfgang und ich erkundeten Chinatown, die größte chinesische Stadt in den Vereinigten Staaten, wie wir von Henry Israel erfuhren. Die beiden Krawatten – eine in Schwarz, die andere in Gold –, die Wolfgang und ich auf dem Cover der US-Ausgabe des Albums Trans-Europe Express
tragen, stammen von diesem nachmittäglichen Spaziergang durch Chinatown. Ich versäumte, mir die Golden Gate Bridge anzuschauen, und schaffte es auch nicht nach Haight-Ashbury. Wir waren ja auf der Durchreise.
Von San Diego fuhren wir mit dem Auto nach L. A. Hier landeten wir einen medialen Coup: unseren ersten gemeinsamen
Fernsehauftritt bei The Midnight Special
. Die NBC-Serie lief nach der Freitagnacht-Ausgabe von Johnny Carsons Tonight Show
und wurde schon allein deshalb im ganzen Land gesehen. In dieser Sendung mimten die Acts nicht wie üblich zum Playback, sondern spielten live vor einem Studiopublikum. Wie bei jedem Konzert bauten wir unser Equipment auf. Danach verbrachten wir den ganzen Tag im Studio und warteten auf unsere Kameraprobe. Nach einem langen Tag spielten wir schließlich »Autobahn« live vor einem Millionenpublikum. Das Video unserer Performance, das die NBC mit den heißesten Videotricks der Zeit aufpolierte – kann man sich noch heute im Internet anschauen.
Nach unserem Gig im Santa Monica besuchte ich mit unserem Roadie Billy Neil Young in seinem Haus. Ich konnte es kaum glauben. Offensichtlich hatte Billy schon mit ihm getourt und wollte mal wieder hallo sagen. Neil Young und Nils Lofgren probten gerade mit ihrer Band und empfingen uns extrem freundlich. Überall lagen Gitarren herum, das Buffet in einem der Räume war riesig, und eigentlich wirkte die Probe auf mich eher wie eine lockere Party.
Die nächsten Stationen der Tour waren Dallas, Little Rock, New Orleans, Miami, Gainsville. Über Philadelphia an der Ostküste reisten wir wieder in den Mittleren Westen nach Cleveland und Detroit. Als wir am 31. Mai, meinem 23. Geburtstag, im Holiday Inn von Cleveland ankamen, staunten wir nicht schlecht über die Begrüßung der Direktion. Auf einer großen Tafel war zu lesen: »Welcome Chicago, Beach Boys, Kraftwerks«. Tatsächlich spielten die Beach Boys und Chicago ein Doublefeature in einem riesigen Football-Stadion in der Stadt. Na klar, da mussten wir hin!
Ich kann nicht mehr abschätzen, wie viele Besucher an diesem Samstagnachmittag im Stadion waren. Vielleicht 40000? Es war warm und ganz schön voll. Langsam ging ich zwischen den fröhlichen Menschen umher und nahm die großartige Stimmung
in mich auf. Jede Menge junge Ladies saßen mit einer Dose -Miller Light oder Coke in der Hand auf den Schultern ihrer Boyfriends und zelebrierten die Party. Um mich herum spürte ich nur Freude und Glück.
Schließlich begann die Show. Es traf mich frontal, als Mike Love mit »Watch it!« loslegte und dann das Über-Riff von Keith Richards das gesamte Stadion erfüllte. Die Jungs begannen ihr Set mit »Jumping Jack Flash«. Von den Stones. Was für ein Sound! Dann sang Mike Love mit seiner Trademark-Stimme Mick Jaggers autobiografische Lyrics: »I was born in a crossfire hurricane / And I howled at my ma in the drivin’ rain …« Die Band, die wie keine andere den ewigen Sommer und das Lebensgefühl Kaliforniens verkörpert, machte eine tiefe Verbeugung vor den Jungs aus London, die durch ihren Erfolg die Menschen in den USA auf ihre schwarzen Musiker und deren Musik aufmerksam gemacht hatten. Es hatte jedenfalls den Anschein. Dann kamen weitere Hits aus der PA geblasen: »California Girls«, »Help Me Rhonda«, »In My Room«, »Get Around«, »Good Vibrations« … und dann schließlich »Fun, Fun, Fun«. Ob der Track von 1964 – der in den USA zum Kanon gehört – der Blueprint für den Text von »Autobahn« gewesen ist, kann ich nicht beantworten. Aber wäre es nicht naheliegend, wenn Emil bei »Fah’n, Fah’n, Fah’n« die Assoziation zu »Fun, Fun, Fun« gehabt hätte? Immerhin geht es bei beiden Songs ums Autofahren.
Dieses Konzert im Sommer 1975 veränderte mein Verständnis von Musik. Was auch immer sich die Beach Boys dabei gedacht haben, mit einem Lied der Stones ihr Konzert zu beginnen – mich überkam in diesem Augenblick ein Glücksgefühl. Musik verbindet die Menschen. Das ist ihre Natur. Hier in Cleveland habe ich wirklich begriffen, was Kultur-Transfer bedeutet, wie alles mit allem verknüpft ist und Musik alle Barrieren überwinden kann. Im Football-Stadion von Cleveland, Ohio, erlebten wir eine perfekte Demonstration amerikanischer Jugendkultur: Nach den
Beach Boys kamen Chicago auf die Bühne. Das Finale bestritten beide Bands zusammen. So muss man das machen. Alle im Stadion sangen mit, alle waren glücklich. Coca-Cola, Popcorn, Cheerleaders, Rock ’n’ Roll – Amerika feiert sich, und ich bin mittendrin, fühle mich sauwohl. Die Robert-Schumann-Hochschule war in diesem Augenblick – nicht nur geografisch – Tausende Meilen entfernt.
Wir verließen die USA und flogen von Detroit wieder nach Kanada. Wir hatten noch drei Gigs in Toronto, Kitchener und Ottawa. Aber langsam machten sich bei uns Ermüdungserscheinungen bemerkbar, und wir waren froh, als wir am 7. Juni wieder zurück an die Ostküste nach New York reisten und am nächsten Tag nach Hause flogen. Unterwegs hatten wir immer wieder im Billboard in der Kolumne »Singles Radio Action« die Chartposition von »Autobahn« gecheckt. Wenn ich mich recht erinnere, hörte ich auf dem Rückflug den Begriff »Radioactivity« im Zusammenhang mit einem neuen Kraftwerk-Album zum ersten Mal.