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TRANS EUROPA EXPRESS
Deutschland liegt in Europa. Der Synthanorma Sequenzer. Europa Endlos. Spiegelsaal. Trans Europa Express (Song). Nach den Tonaufnahmen. Europa-Tournee. La Bastide Blanche. Wieder unterwegs. Das Roundhouse-Konzert. TEE, der letzte Schliff. Metall auf Metall – Abzug. Eurodisco. Schaufensterpuppen. Franz Schubert – Endlos Endlos. Artwork. Mit dem Orient-Express nach Reims. Filmaufnahmen im hellen Trenchcoat. Reflexion. Fair Play. Zyklus für einen Schlagzeuger. Nightclubbing. Ratinger Hof.
Deutschland liegt in Europa
Trotz des Erfolges in Frankreich: Im Rest Europas fiel Radio-Aktivität eher durch. Ein Grund dafür könnte durchaus gewesen sein, dass wir mit der deutschen Symbolik und einer Rhetorik, die die Technik unachtsam thematisierte, in eine Sackgasse geraten waren. Die Perspektive für das nächste Album sollte offener sein. Ausgerechnet Lester Bangs könnte in seinem berüchtigten Feature mit der Schilderung seines Höreindrucks während eines Kraftwerk-Gigs in den USA eine Spur gelegt haben: »… und die perfekt synthetisierte Imitation einer Dampflokomotive – was sicherlich die programmatische Fortsetzung von Autobahn sein muss.« 1 Ob das einer der Auslöser für die neue Richtung gewesen war? Ich weiß es nicht. Wir sprachen jedenfalls nie darüber.
Einen Einfluss auf die neue Konzeption könnte man eher dem französischen Journalisten Paul Alessandrini zugestehen. Während eines Besuches von Ralf und Florian in Paris traf er sich mit ihnen für ein gemeinsames Mittagessen im Le Train Bleu – einem Nobelrestaurant im ersten Stock des Gare de Lyon. Der Bahnhof – genau wie das luxuriöse Restaurant anlässlich der Weltausstellung 1900 erbaut – verbindet Paris mit der Côte d’Azur, Italien, der Schweiz. Auch der berühmte Orientexpress hielt früher einmal am Gare de Lyon. Alessandrini erinnerte sich, dass er sagte: »In eurem Universum und für die Musik, die ihr macht, die so eine Art elektronischer Blues ist, spielen Bahnhöfe und Züge eine große Rolle. Ihr solltet ein Lied über den Trans-Europ-Express machen.« 2
Seine Anregung ist möglicherweise auch der Grund dafür, warum sich Ralf und Florian auf der Innenhülle von Trans Europa Express bei ihm und seiner Frau Marjorie bedanken.
Acht Monate nach dem Release von Radio-Aktivität beschlossen die beiden, das nächste Album anzugehen. Dieses Mal würden wir nicht mit dem Auto, sondern mit der Bahn reisen. Europa war das Zauberwort. Natürlich besaßen wir auch weiterhin einen deutschen Pass, aber Deutschland liegt ja bekanntlich in Europa. Meiner Meinung nach wies uns der größere Bildausschnitt den Weg aus der Sackgasse. Ein elektroakustisches europäisches Roadmovie war in der Tat ein wesentlich positiveres Vehikel als die schwer zu vermittelnde Mehrdeutigkeit von Radiowellen, Bomben und Kernkraftwerken, verbunden mit einer überholten deutschen Symbolik.
Für die ersten Aufnahmen der Produktion war von Ende Juni bis Mitte August 1976 ein Zeitfenster von 15 Tagen geplant. Inwischen hatten Ralf und Florian in Studiotechnik investiert und eine analoge 2-Zoll-16-Spur-Bandmaschine von MCI und ein Mischpult von Allen & Heath angeschafft. Das waren Ausgaben im hohen fünfstelligen Bereich. Peter Bollig war wieder als Ingenieur für die Aufnahmen engagiert worden .
Der Synthanorma Sequenzer
Neben der neuen Aufnahmetechnik befand sich noch ein weiteres neues Gerät im Studio: Ein furnierter Holzkasten, ungefähr 80 × 50 × 50 cm groß, vorne mit einer schwarzen Metallplatte, auf der jede Menge Drehknöpfe angebracht waren. Rein optisch erinnerte mich der Kasten an die »Enigma«-Maschine, die im Zweiten Weltkrieg zur Verschlüsselung des Nachrichtenverkehrs des deutschen Militärs verwendet wurde. Der Holzkasten war vom Synthesizerstudio Bonn angeliefert worden. Hajo Wiechers hatte aber keine Enigma-Maschine, sondern einen analogen Step-Sequenzer konstruiert. Diese Maschine wurde mit Ralfs Synthesizer verkabelt und steuerte ihn durch elektrische Spannungen. Mit den Drehknöpfen ließ sich eine gewisse Anzahl von Tonhöhen einstellen – anfangs waren es maximal 12. Wenn man das Gerät startete, wiederholte es die Tonfolge permanent, als hätte man Wiederholungszeichen in ein Notensystem geschrieben und »ad infinitum« hinzugefügt.
Automatische Musikinstrumente sind bereits seit der Antike bekannt. 3 Im Grunde war der analoge Sequenzer die Fortsetzung der Glockenspiele, Walzenorgeln und der mechanischen Musikautomaten der folgenden Epochen. Bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts baute in Paris ein gewisser Monsieur Vaucanson mechanische Androiden, die Querflöte und Schlagzeug spielen konnten. Ihr Repertoire bestand aus zahlreichen Melodien, die sie mit »Bewegungen der Lippen und der Finger und demselben Lufthauch aus dem Munde wie ein lebender Mensch« 4 vortrugen und dabei die Trommel schlugen. 1748 zog der französische Arzt und Philosoph La Mettrie in seiner Schrift L’Homme Machine (Der Mensch eine Maschine) die provokante Schlussfolgerung, dass der Mensch eine Maschine ist, und ging damit in die Geschichte der Philosophie ein. 5
Der Step-Sequenzer führte den Gedanken der mechanischen Musikautomaten mit den Mitteln der Elektronik fort und verband ihn mit dem Konzept der Wiederholung kleiner Tonfolgen. Die Idee der spannungsgesteuerten Manipulation und Automation der elektronischen Klangerzeugung lag schon etwas länger in der Luft. Eine besondere Rolle in der Entwicklung dieser Technik spielte der amerikanische Musiker und Techniker Raymond Scott. Bereits in den Vierzigerjahren experimentierte er mit der elektronischen Steuerung von Klängen. Der von ihm designte und konstruierte riesige Wall of Sound genannte Sequenzer wurde um 1953 realisiert. Ein gewisser Robert Moog begegnete Scott in den Fünfzigerjahren und entwickelte für ihn in den Sechzigern Schaltkreise. Bei Scott sah Moog zum ersten Mal einen elektronischen Sequenzer. In den folgenden Jahren konstruierte er seinen berühmten Moog-Synthesizer, der ein Sequenzermodul enthielt, und präsentierte ihn 1964 der Öffentlichkeit. Moogs Gegenpol war der Synthesizerpionier Don Buchla. Auch sein erster modularer Synthesizer von 1963 konnte mit 8- oder 16-Step-Sequenzer-Einheiten ausgerüstet werden. Zu den Analog-Sequenzern von Moog und Buchla gab es auf dem Markt keine Alternativen, bis 1971 der Synthi-A von der Firma EMS vorgestellt wurde. Die Version »AKS« enthielt einen Sequenzer, den Pink Floyd auf »On the Run« 1973 verwendeten. Allerdings lag dem Gerät ein anderes technisches Konzept zugrunde.
Hajo Wiechers: »Auf der Frankfurter Musikmesse 1974 sind Dirk Matten und ich Klaus Schulze begegnet. Er wollte sich damals einen Sequenzer anschaffen, und ich erklärte ihm mutig, dass ich in der Lage bin, einen zu konstruieren, der besser und außerdem auch wesentlich billiger ist als der von Moog. Klaus zögerte nicht und bestellte das Gerät – das allerdings bisher nur in meinem Kopf existierte – sofort. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt noch gar kein Geschäft und ich habe dann den Synthanorma-Prototyp bei meiner Mutter auf dem Küchentisch zusammengebastelt. Das dauerte ewig, und Klaus hing in der letzten Phase jeden Tag am Telefon. Schließlich war ich fertig, und wir packten die Kiste in Dirks VW und schafften es durch die Zone nach Westberlin. An der Grenze haben uns die DDR-Beamten gefragt, ob man mit diesem Apparat auch funken kann. Als ich das wahrheitsgemäß verneinte, ließen sie uns ungehindert passieren.«
Hajo blieb die nächsten zwei Tage in Klaus’ Studio in Schöneberg, um den Sequenzer in die technische Umgebung zu integrieren. Dabei lernte er Edgar Fröse kennen, der direkt nebenan wohnte. Tangerine Dream besaßen zwar ein großes, modulares Moog-System mit einem integrierten Step-Sequenzer, gleichwohl war Fröse von Hajos Synthanorma Sequenzer begeistert und bestellte ebenfalls ein Gerät.
Klaus Schulze bedankte sich auf dem Plattencover seiner 1975 erschienenen LP Timewind  – »Special thanks for the Sequenzer SYNTHANORMA« – und ließ auch die Telefonnummer der Bezugsquelle abdrucken, was zu weiteren Bestellungen führte. Anfang der Siebzigerjahre fanden die Sequenzer den Weg in die kommerzielle Musikproduktion. Das war, wenn man so will, der Anfang der Erfolgsstory des Synthesizerstudio Bonn.
Hajo Wiechers: »Mir war immer schon klar, dass Kraftwerk einen Sequenzer brauchen könnten. Denn ihre Musik besteht ja zum großen Teil aus Wiederholungen. Und diese Wiederholungen sind nicht starr – sie bewegen und verändern sich. Bisher geschah das alles manuell. Wir sind dann irgendwann mit Ralf und Florian in Bonn essen gewesen. Dabei haben wir ihnen nahegebracht, was man mit einem Sequenzer alles machen kann. Mit dem Synthanorma würden sie eine Abfolge von Tönen automatisieren und während des Ablaufs modulieren können. Und das war erst der Anfang … Zuerst waren si e nicht überzeugt, weil sie auf keinen Fall wie Tangerine Dream oder Klaus Schulze klingen wollten. Wir diskutierten eine Weile, und schließlich probierten sie das Gerät aus und begriffen schnell, was man damit alles machen kann.«
Denn ein solcher Musikautomat passte natürlich wunderbar in die Mensch-Maschinen-Programmatik. Florians Spiel klang ja schon auf »Autobahn« streckenweise sehr maschinell, obwohl das Stück von vorne bis hinten manuell eingespielt worden war.
Für die Aufnahmen von Trans Europa Express war der Synthanorma Sequenzer dann Teil des Equipments. Bis in der Mitte der Achtzigerjahre prägte er die Kompositionen von Kraftwerk.
Europa Endlos
Meiner Erinnerung nach war »Europa Endlos« der erste Track, bei dem wir gemeinsam mit dem Synthanorma arbeiteten. Zunächst legte Ralf ein Tempo fest, und nach dem Start wiederholte die Maschine zyklisch einen leeren Takt, in den sich beliebige Tonhöhen auf mathematisch berechneten Taktteilen eingeben und auch wieder entfernen ließen. Gleichzeitig konnten wir das Material transponieren und modulieren. Diese Technik eröffnete uns die Möglichkeit, gleichzeitig Musiker, Komponist, Zuhörer und Produzent zu sein. Schon bei der ersten Anwendung war mir klar, dass dieser Apparat die Voraussetzungen für eine neue Spieltechnik schuf und eine Art der Improvisation ermöglichte, die sich nicht den Idiomen eines Genres verpflichtet fühlte, und in der noch genügend Raum vorhanden war, Regeln zu brechen oder neue zu erfinden.
Zunächst programmierte Ralf den Bass auf dem Synthanorma Sequenzer. Zu dieser kurzen Tonfolge spielten wir live. Ich trommelte, Ralf transponierte die Akkorde, erfand seine Melodien und sang dazu. Auf diese Art legten wir die Struktur des Songs fest.
Da der Synthanorma noch keine Synchronisations-Option für die Mehrspurmaschine hatte, nahmen wir zunächst die Sequenzer-Spur auf. Sie würde uns als Guide-Track und Metronom dienen. Bei diesen Aufnahmen kümmerte sich Peter Bollig um die Aussteuerung, während ich wie ein Korrepetitor bei einer Ensembleprobe die Takte und Abschnitte des Arrangements ansagte. Ralf zählte natürlich auch mit und transponierte die Sequenz auf der Tastatur des Minimoog. Im Grunde behielten wir diese Methode, ein Arrangement auf Magnettonband aufzunehmen, in den nächsten Jahren bei. Das funktionierte arbeitsteilig und schnell. Das Schlagzeug war keine handwerkliche Herausforderung: Achtel-Feeling, maschinell, geradeaus, unauffällig.
Ralf hatte sich eine Melodie überlegt, die mich sofort an die Operette Der Zigeunerbaron von Johann Strauss erinnerte. »Wer uns getraut« heißt das Duett, an das ich dachte. Den Instrumentalteil komponierte Ralf ad-hoc. Im Refrain sang er den Titel des Tracks, und Florian fügte mit dem Vocoder ein »endlos, endlos« hinzu.
Spiegelsaal
Wenn man von den Violinen des Orchestrons absieht, wurden seit Autobahn keine akustischen Instrumente mehr in der Musik von Kraftwerk eingesetzt. Eine Querflöte oder ein Vibraphon passten nicht mehr in das Konzept. Aus diesem Grund hatte Wolfgang für mich ein elektronisches Vibraphon konstruiert. Das Vibrolux, wie wir es nannten, funktionierte auf die gleiche Weise wie unsere Percussion-Multipads, es steuerte aber keine Schlagzeugsounds an, sondern eine elektronische Orgel.
Ralf, Florian und Emil schrieben den »Spiegelsaal«-Text gemeinsam. Der Inhalt ihrer Lyrics bestimmte den Atem der Musik. Wie bei einem Film sollte die Tonspur die Schritte des Protagonisten wiedergeben, dies führte zu dem langsamen Tempo von etwa 95 Schlägen in der Minute. Die Schritte fielen in das Schlagzeug-Department, und Ralf programmierte die bekannte Tonfolge auf dem Synthanorma Sequenzer, die seinen Minimoog im Bassregister ansteuerte.
Als die Sequenz lief, spielte ich auf dem Vibrolux ein Motiv in e-Moll. Ralf veränderte die Abfolge meiner vier Töne durch Wiederholungen und fügte einen Ton hinzu, wobei er die Tonlage, die Position im Takt und die Gestalt des Motivs in etwa beibehielt. Nach drei Strophen wurde es Zeit für eine Instrumentalpassage, und ich spielte aus dem Stegreif die bekannte Tonfolge des Solos. Es brauchte dafür nicht viele Takes, ich hatte einen guten Lauf. Offensichtlich gefiel mein Vortrag Ralf und Florian. Seitdem ist mein Solo ein Bestandteil des Lieds.
Florians elektronische Klänge spiegeln im Raum der Erzählung den psychologischen Zustand des Protagonisten.
Trans Europa Express (Song)
Als wir das Thema TEE auf die Tagesordnung setzten, hatte ich sofort die Melodien einiger Train-Songs im Kopf: »Marakkesh Express«, »Last Train To Clarksville« oder »Mystery Train«, vom »Chattanooga Choo Choo«, dem klassischen Glenn-Miller-Swing-Hit von 1941 mal ganz abgesehen, den hatte ich unzählige Male in meinen früheren Bands und Unterhaltungsorchestern gespielt. Klar: Die amerikanischen Songwriter blicken auf eine lange Tradition ihrer Train-Songs zurück. Aber auch in Europa gab es bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts Musik, die sich auf die Eisenbahn bezog. Schließlich war sie das erste für alle sichtbare Symbol des Fortschritts; die erste Maschine, die schon allein wegen ihrer ausgeprägten akustischen Eigenschaften die Komponisten inspirierte. Beschleunigung, Bewegung, Geschwindigkeit ließen sich gut auf das Zeitmedium Musik übertragen. In der berühmten Tondichtung Pacific 231 hatte Arthur Honegger 1923 seine Wahrnehmung einer Lokomotive mit einem Sinfonieorchester in Musik übersetzt.
Und hier kommt der im Zusammenhang mit Kraftwerk immer wieder benutzte Begriff des Futurismus ins Spiel. Bereits 14 Jahre vor Honeggers Pacific 231 erschien im Februar 1909 im Figaro »Das Manifest des Futurismus«. Geschrieben hatte es der exzentrische, italienische Millionärssohn Filippo Tommaso Marinetti, ein großer Bewunderer naturwissenschaftlicher Entdeckungen, des Fortschritts und der Massenkultur. Provokativ verwarf er die traditionellen Werte, verklärte die moderne Lebens- und Arbeitswirklichkeit und betrieb den Kultus der Maschine: »Ein Rennwagen dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosiven Atem gleichen […], ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.« 6
Die Massenkultur in einer technisierten elektrischen Lebenswelt und die permanent zunehmende, als rauschhaft empfundene Geschwindigkeit der modernen Verkehrsmittel, die das Gefühl für Raum und Zeit veränderten, wurde die Inspirationsquelle für Marinettis Visionen. Selbst für den Krieg begeisterte er sich.
Das Ziel der Futuristen war es, die Logik der Technik und das Wesen der Maschinen in eine neue Ästhetik der Kunst zu übertragen, die dem modernen technisierten Lebensgefühl entsprach. Dabei standen die Darstellung von Bewegung sowie die Simultanität von Sehen und Hören im Zentrum ihrer Theorie.
Zum Kreis der Futuristen um Marinetti zählte der Musiker und Maler Luigi Russolo, der in seinem Manifest L’arte dei Rumori vom 11. März 1913 (Die Geräuschkunst) die Emanzipation der Geräusche forderte. Russolo und seine Anhänger interessierten sich für die neuen Geräuschquellen der Metropolen und Fabriken. Der Lärm der Moderne war für sie eine ästhetische Herausforderung, eine unerschöpfliche Ressource für die Gestaltung einer neuen Art der Musik. Er nannte sie »Bruitismus«, die Lärmmusik.
Um sie umzusetzen, konstruierte er Geräuschmaschinen, sogenannte Intonarumori. Dabei orientierte sich Russolo an akustischen Instrumenten und bildete sechs Geräuschfamilien. Sie beinhalteten u.a. Brummen, Pfeifen, Flüstern, Knirschen, Knacken, Summen und Knattern. Darin enthalten waren Geräusche, die durch Anschlagen auf Metall, Holz, Leder, Steine, Terrakotta usw. entstehen. Aber auch Tier- und Menschenstimmen, also Rufe, Schreie, Stöhnen, Gebrüll, Geheul, Gelächter, Röcheln und Schluchzen, zählten dazu.
Damit nahm Russolo vieles vorweg, was später mit der Tonaufzeichnung möglich wurde. Wie wäre wohl die Entwicklung der Musik ohne seine umwälzenden Gedanken verlaufen? Vielleicht ist es ja ein Allgemeinplatz, aber für mich ist der Futurismus im Klang der Musik unserer Zeit lebendiger, als er es jemals war.
Zurück ins Kling Klang Studio der Siebzigerjahre. Als wir in den nächsten Tagen intensiv an »Trans Europa Express« arbeiteten, hatten wir – soweit ich mich erinnern kann – keine akustischen Referenzen im Kopf, nur unsere Vorstellungskraft.
Und wie klingt denn nun eine Eisenbahn? Unabhängig von der Geschwindigkeit erzeugen die Doppelräder eines Eisenbahnwagens, wenn sie über die Lücken zwischen den Schienenenden rollen, einen Rhythmus, der sich etwa so anhört: »Tatam-tatam … tatam-tatam … tatam-tatam« und so weiter. Ungeachtet dessen programmierte Ralf auf dem Synthanorma einen durchlaufenden Rhythmus. Es war keine Geräuschkopie einer Lokomotive, sondern die Umsetzung der Vorstellung, wie Räder kl ingen, die auf Schienen fahren. Durch Florians Modulation des Signals mit einem Effektgerät wurden Geschwindigkeit und Bewegung hörbar – das war der Trick!
Diese Schienen-Sequenz etablierte ein relativ langsames Tempo. Ich glaube, Ralf schlug mir das Drum Pattern für Bass Drum und Snare Drum vor. Es hämmerte wirklich wie der Kolbenhub einer Lokomotive. Ralf setzte dann noch den Minimoog-Bass genau auf die ersten beiden Schläge der Bass Drum – fertig war der Maschinen-Beat. Um das richtige Tempo für ein Musikstück zu finden, ist im wahrsten Sinne des Wortes »Taktgefühl« gefragt. Denn es hängt davon ab – bleiben wir im Bild –, wie viele Passagiere man transportieren muss. Für eine geringe Anzahl benötigt man weniger Wagen als für viele. Bei Musik führt die Dichte der Ereignisse zum richtigen Tempo. Denn für viele Noten pro Takt benötigt man mehr Raum, also mehr Zeit, um sie zum Klingen zu bringen, als für wenige.
Was Ralf zu unserer Rhythmusformel auf dem Violinen-Preset des Vako Orchestrons spielte, klang für mich zwar nicht nach dem TEE, sondern wie die Filmmusik von Mord im Orient-Express. Aber das spielte keine Rolle, denn die kurze Melodie war eingängig. Sie überzeugte uns alle sofort. Außerdem: »When too perfect, lieber Gott böse«, hatte uns einmal ein gewisser Nam June Paik verraten.
Es existierten bereits Lyrics für drei Strophen, und wir sprachen über die Form, die wir dem Track geben wollten. Für eine gute Konstruktion fehlte uns noch ein Baustein: ein zweites Element als Kontrast zum »Orient-Express«-Thema. Sofort dachte ich an Strawinsky, der die weniger abgenutzten Intervalle wie Sekunde, Tritonus, Quarte oder Quinte in seinen Kompositionen bevorzugte. Ich schlug Ralf also vor, es doch mal mit Quarten zu versuchen, und stellte mit wenigen Worten einen Zusammenhang mit Strawinsky her. Daraufhin spielte Ralf mit den Violinen des Orchestrons zwei gebrochene Quartenakkorde. Das funktionierte ziemlich gut. Während das »Orient-Express«-Thema den Charakter einer Filmmusik aufweist, wirkte das kurze Quarten-Tongebilde wie eine Klang-Ikone der musikalischen Moderne. Nachdem wir das Arrangement im Kopf hatten, nahmen wir die Instrumente auf das Magnettonbandgerät auf.
Nach den Tonaufnahmen
Nach gut zwei Wochen war mein Part an den Tonaufnahmen beendet. Ich empfand sie als sehr intensiv und anregend. Es gab einen Unterschied zu den Sessions von Radio-Aktivität : Beim neuen Album existierte die Musik vor der Aufnahme nur als vage Idee in den Köpfen von Ralf und Florian. Die vollständige Form, die Rhythmik, Melodien und Harmonien entstanden während der Aufnahmen. Auch meine Vorschläge flossen in die Gestaltung der Musik ein, wodurch sich die musikalische Substanz der Kompositionen nach meinem Empfinden nicht unbedingt verschlechterte. Ich nahm mir vor, das mit Ralf und Florian zu besprechen. Aber das musste noch warten, denn schon in den nächsten Tagen reisten sie nach Los Angeles, um unsere Aufnahmen im Record Plant Studio abzumischen.
Kurz nach ihrer Rückkehr aus Kalifornien gab Florian eine grandiose Fête im Haus seiner Eltern in Golzheim. Neben dem Kraftwerk-Team waren auch ein paar Mitglieder des erweiterten Kreises eingeladen: Ralfs ehemaliger Kommilitone Volker Albus, der Orthopäde Dr. Willi Klein, Coiffeur Teja und einige mehr. Florian grillte für uns einige Koteletts. Dabei fing das Efeu am Außenkamin Feuer und fackelte fast das gesamte Haus ab. Erst als Florian tarzangleich hinaufkletterte und die Flammen mit einer Decke erstickte, konnten wir mit der Party weitermachen. Der Swimmingpool im Garten war wunderbar. Es war ein großartiger Abend.
Europa-Tourne e
Rund ein Jahr nach unseren letzten Konzerten in Großbritannien ließen Ralf und Florian bereits die nächste Tour für Kraftwerk organisieren. Im September und Oktober wurden für uns Gigs in Holland, Belgien, Frankreich, der Schweiz und wieder in Großbritannien gebucht. Radio-Aktivität war zwar nicht mehr ganz frisch, aber selbstverständlich handelte es sich auch bei diesen Gigs um eine »Promo-Tour«.
Am 8. September 1976 begann unsere kleine Tournee in Utrecht. Nach Arnheim folgte Amsterdam, wo wir am 11. September im Paradiso, einer ehemaligen Kirche, auftraten. Wir hatten unser Set um einige Songs erweitert. Die Dramaturgie bestand nun aus einer Mischung aus Popmusik und Interludien. Vor Beginn der Konzerte ließen Ralf und Florian klassische Musik laufen.
Ralf hatte bei diesen Gigs sein Farfisa Professional Piano zu Hause gelassen. Das Piano sah zwar toll aus, war aber, was die Tastatur anbelangt, ein hoffnungsloser Fall. Stattdessen hatte Ralf einen zweiten Minimoog auf dem Synthanorma Sequenzer hinter sich, der bei »Radioactivity«, »Europe Endless« und »Trans-Europe Express« zum Einsatz kam. Der andere Minimoog stand wie immer auf dem Orchestron. Und wie gehabt befand sich vor Ralf auf einem Ständer mit Galgen sein Sennheiser-Mikrofon in der Neumann-Spinne.
Auch mein Set-up hatte sich verändert. Bei einigen Stücken spielte ich mein bekanntes Percussion-Multipad und bei anderen das neue Vibrolux, das wir auf einen Metallständer gesetzt hatten, wie er in Hotels für Koffer verwendet wird. Darauf experimentierte ich gelegentlich mit Basslinien, während Wolfgang auf seinem Multipad trommelte. Es war gar nicht so einfach mit den dünnen Metallstäben, ich musste ganz schön aufpassen. Aber optisch machte das natürlich mehr her als ein weiterer Synthesizer .
Florian musizierte auf der Elektroflöte, die mit einem seiner beiden ARP Odysseys verbunden war. Den anderen spielte er manuell über die Tastatur. Außerdem, und das war wieder der Clou der Dramaturgie, saß er nach der Tonbandeinspielung von »Die Stimme der Energie« plötzlich am rechten Bühnenrand und tippte Die Sonne, der Mond, die Sterne auf seiner sprechenden Votrax-Schreibmaschine. Ralf versorgte ihn mit den Klängen, die er mit den Phonemen der Tastatur modulierte. Florians Performance sorgte für große Augen und offene Münder beim Publikum. Das war jedes Mal eine wirklich starke Nummer. Für seine Gesangspassagen benutzte er ein Rock ’n’ Roll-Mikrofon von Shure – auch das »Elvis-Mikro« genannt. Ihm gefiel das Design.
Wolfgang hatte einen neuen Trick drauf: Er stand in einem magischen Metallwürfel, an dem Lichtschranken angebracht waren und die er mit der Hand unterbrach, um Schlagzeugsounds auszulösen. Ein grandioser Effekt, den aber leider niemand im Publikum verstand. Es war anscheinend noch zu früh für solche Mätzchen.
Aus heutiger Sicht erinnert unsere Show an eine Theater-Inszenierung, bei der Dunkelheit und Licht eine entscheidende Rolle spielen. Die farbigen Neonröhren, die unsere Bühne bei jedem Stück in eine andere Farbe tauchten, kreisten uns von hinten ein. Und noch ein Stück dahinter befand sich eine große Leinwand für Emils Dia-Projektionen. Vor uns waren wie üblich unsere Namen in Neon. Wolfgang und ich trugen dunkle Anzüge, Ralf und Florian ihre hellgrauen Maßanzüge, mit denen sie Gilbert & George immer ähnlicher wurden.
Nach Amsterdam fuhren wir weiter nach Brüssel, für einen Auftritt beim RTB Television in der damals sehr bekannten Sendung Follies , und dann wieder zurück nach Düsseldorf.
La Bastide Blanch e
Unser nächster Gig war erst ein paar Tage später in Lyon. Um die Zeit zu überbrücken, lud Florian die komplette Mannschaft ins Anwesen seiner Familie in der Nähe von Saint-Tropez ein. Die Atmosphäre im Team war gut, und niemand hatte Lust, alleine in Düsseldorf abzuhängen. So brachen wir gemeinsam in Richtung Côte d’Azur auf. Mit den Autos war es ein langer Trip.
Das Hauptgebäude der Bastide Blanche befand sich auf einem riesigen Grundstück. Wir wurden in einem kleineren Gebäude nicht weit vom Meer untergebracht, jeder hatte einen eigenen Raum. Es war heiß, und wir fuhren über den sandigen Feldweg zur Straße und dann nach Saint-Tropez, um uns die Luxusyachten an der Uferpromenade anzuschauen. Schließlich landeten wir im berühmten Restaurant Sénéquier, tranken Orangina, Espresso und Bier, aßen Bouillabaisse mit Baguette, blieben bis spät in die Nacht dort sitzen, beobachteten und kommentierten die Szenerie. Die Sterne am Himmel über dem Mittelmeer waren überwältigend. Ich hatte das Gefühl, wir entwickeln uns zu einer wirklichen Gruppe.
Wieder unterwegs
Von der Bastide Blanche fuhren wir in nördlicher Richtung nach Lyon. Leider hatten wir uns verschätzt und kamen zu spät. Wir bauten vor dem wartenden Publikum auf, dann verabschiedete sich das Orchestron mit einer schwarzen Rauchsäule. Aber wir gaben uns große Mühe, und die französischen Fans verziehen uns. Nach ein paar weiteren Gigs traten wir am 30. September im Pavillon de Paris im nördlichen Teil der französischen Hauptstadt auf. Das Venue war zwar von seiner Kapazität her etwas überproportioniert, aber die etwas über 2000 Zuschauer sorgten dennoch für eine großartige Atmosphäre. Abgesehen von Paris waren die Konzerte nicht gut besucht. Und auch später, als sich das Album 1977 in Frankreich auf Platz 2 der Charts befand, kamen keine weiteren Bookings zustande. Die Liveshow ließ sich in Frankreich einfach nicht verkaufen.
Nach zwei weiteren Gigs in Genf reisten wir über Düsseldorf nach Brüssel. Dort befand sich am 6. Oktober 1976 mein Freund Jean-Marc Lederman 7 im Publikum. Noch heute erinnert er sich an unseren Auftritt im Auditorium der Universität.
Jean-Marc Lederman: »Als die Band die Bühne betrat und sich an ihre Synthesizer stellte, spürte man ihre Nervosität. Aber sie wirkten auch extrem konzentriert. Damals war der Synthesizer noch ein relativ neues Instrument und vielen nur als ein Soloinstrument auf Progressive-Rock-Alben oder der frühen Ambient-Musik bekannt. Durch Songs wie »Autobahn« oder »Radioaktivität« mit ihren Bässen und singbaren Melodien wurde mir das enorme Potenzial bewusst, das diese elektronischen Instrumente in sich tragen. Denn Kraftwerk betrachteten damals den Synthesizer völlig neu: Sie wendeten ihn an wie ein Orchesterinstrument mit wechselnden Klangfarben.«
Das Roundhouse-Konzert
Am nächsten Tag überquerten wir mit der Fähre von Calais nach Dover den Ärmelkanal. Irgendwo an Bord stand eine Jukebox, und bei näherem Hinschauen fand ich darin »I Want More« von Can. Die Kollegen aus Köln waren mit ihrer Hitsingle eine Woche vorher bei Top of the Pops aufgetreten. Respekt.
Ich war gespannt, ob es dieses Mal im United Kingdom etwas besser laufen würde. In diesem heißen Sommer änderte sich das musikalische Klima in Großbritannien. Die Punk-Szene nahm gerade Fahrt auf, und die Medien berichteten ausführlich über das neue Phänomen und dessen Protagonisten: Siouxsie and the Banshees, The Clash, The Damned, Buzzcocks und natürlich die Sex Pistols, die am Freitag, den 8. Oktober 1976 einen Deal bei EMI unterzeichneten. Genau an dem Tag spielten wir unseren ersten Gig in Coventry. Es folgte Sheffield am Samstag, und am Sonntag traten wir schließlich im berühmten Londoner Venue The Roundhouse auf.
Nach dem Opening Act National Health und dem Umbau waren wir an der Reihe. Der Sprachsynthetisator proklamierte seine Ansage und wir betraten wie immer zügig die Bühne. Ralf ließ das Publikum noch wissen: »You are going to see a film« 8 , dann starteten wir mit »Kometenmelodie«.
In London zu spielen war für mich schon immer etwas Besonderes. Deshalb kann ich mich gut an das Konzert erinnern. Der Laden war gut besucht, das Publikum lebendig, und als wir nach »Autobahn« die Bühne verließen, forderte die frenetisch applaudierende Menge eine Zugabe. Na klar. Wir hatten ja noch einen neuen Song auf Lager. Bei unserer letzten Recording Session im Juli/August hatten wir Ralfs »Showroom Dummies« probeweise eingespielt und setzten ihn bei diesen Gigs als Zugabe ein.
Die Atmosphäre im Roundhouse war absolut nicht mit unseren Gigs im vergangenen Jahr in England zu vergleichen. Ich hatte das Gefühl, dass unsere Musik und Performance jetzt akzeptiert und in ihren Zusammenhängen verstanden wurden. John Foxx beschrieb das ästhetische Konzept Kraftwerks einmal launig als eine Marcel-Duchamp-Version des Rock ’n’ Roll. Der Zeitpunkt war günstig, denn die sich gerade manifestierende Bewegung des Punk erzeugte eine kulturelle Wechselstimmung, in der die Gruppe Kraftwerk nicht zu den etablierten und erstarrten Gegnern, sondern ebenfalls zu einer alternativen Bewegung gehörte.
TEE, der letzte Schlif f
Nach unserer Rückkehr trafen wir uns zu einer Lagebesprechung im Kling Klang Studio und ließen die Promo-Tour noch einmal Revue passieren. Es erwies sich als großer Vorteil, dass wir die Songs live gespielt hatten. Dadurch wurde klar, dass einige Arrangements noch nicht optimal funktionierten. Bereits unterwegs hatten wir Änderungen vorgenommen und getestet, verworfen und wieder getestet. Ralf und Florian schreckten damals vor »Operationen am offenen Herzen« nicht zurück.
Für die neuen Bearbeitungen verabredeten wir den Zeitraum vom 10. November bis zum 3. Dezember. Irgendwo hatte Florian eine merkwürdige Heimorgel aufgetrieben, deren Klangfarbe sich gut mit den Orchestron-Violinen bei »Trans Europa Express« mischte. Die Erfahrungen von der Tour, beispielsweise eine Veränderung des Quartenthemas, übertrugen Ralf und Florian in das Arrangement. Live hatte Wolfgang den monotonen Drum-Beat gut hingekriegt. Das funktionierte also. Im Studio bauten wir unserer »Eisenbahnfahrt« weitere perkussive Elemente ein.
Metall auf Metall – Abzug
An der Umsetzung der Idee, den Zug akustisch über eine imaginäre Metallbrücke fahren zu lassen, war ich nicht beteiligt. Ich stolperte lediglich über eine mit Zink überzogene Waschschüssel, Rohre und diverse Werkzeuge, die im Vorraum herumlagen.
Peter Bollig: »Ich erinnere mich an den Track »Metall auf Metall«. Wir haben dafür einige Geräusche aufgenommen: mit dem Hammer auf Metallgegenstände geschlagen oder Mikrofonständer auf den Boden geschmissen. Genau das, was man sich unter dem Titel vorstellt. Ich gab zu bedenken: ›Jungs, es hört sich im Raum nicht so toll an und wird sich später auf der Aufnahme nicht viel besser anhören.‹ Zum Glück hatten wir damals schon einen dynamischen Kompressor – damit bekamen wir die Verzerrung einigermaßen in den Griff.«
Das »Metall auf Metall«-Segment besteht im Grunde aus einer White Noise-Sequenz, dem Drum-Beat und einem darüber liegenden einfachen Rhythmus-Pattern der Metall-Geräusche, das sich zum Ende hin verdichtet. Der Rhythmus wurde manuell mit geringfügigen Schwankungen eingespielt und schwingt auf eine ganz besonders Art. Deshalb ist er für mich allen späteren maschinellen Variationen überlegen.
In der folgenden Coda, die den Namen »Abzug« trägt, verdichten sich die drei wesentlichen Elemente der Komposition – »Orient Express«-Melodie, Quarten und Vocals – zu einem polyphonen Schlussteil. Übrigens, »Abzug« ist ein Begriff aus der Musikersprache der damaligen Zeit, der genau das bedeutet, was er wörtlich meint: der Zug fährt ab. Mit anderen Worten, die Band schafft sich total rein und zieht ab, nach vorne.
Am Schluss von »Abzug« wird es wieder konkret: Die Schallaufnahme eines bremsenden Zuges wirkt wie eine Reminiszenz aus Pierre Schaeffers berühmter Étude aux Chemins de Fer aus dem Jahr 1948. Interessanterweise korrespondiert das Portrait der »Solo-Lokomotive« auch mit dem Anfang von »Autobahn«.
Eurodisco
Gegen Mitte der Siebzigerjahre setzte sich die Disco-Musik in den Nachtclubs durch. Einige der Songs eroberten sogar die Charts und schafften es ins Mainstream-Radio. Disco verbreitete ein positives Lebensgefühl und wurde zu einer fast rituellen Freizeitaktivität verklärt. Übrigens auch bei uns. Der Trend kam ursprünglich aus dem New Yorker Underground. Auf den »Four on the Floor-Disco-Groove« konnten jetzt auch Weiße tanzen, was für die Musikindustrie die Zielgruppe und das kommerzielle Potenzial vervielfältigte.
Nach den Tour-Erfahrungen wollten wir »Europa Endlos« etwas mehr in Richtung Disco drehen. Auf der Suche nach dem perfekten Tempo landeten wir dann bei 112 Schlägen pro Minute. Allerdings spielte ich die Bass Drum nicht mit vier Vierteln wie beim Disco-Beat üblich, sondern mit zwei halben Noten pro Takt.
Schaufensterpuppen
Im Text von »Schaufensterpuppen« erzählt Ralf mit knappen Worten die Geschichte, wie »wir« in einem Schaufenster stehen, uns beobachtet fühlen, die Pose wechseln, schließlich die Glasscheibe zerbrechen und in den Club gehen, um zu tanzen. Der erste Schritt zu den »echten« Schaufensterpuppen, die später nach unserem Modell angefertigt wurden, war getan.
Mit einer deutschen, englischen und französischen Version ist »Schaufensterpuppen«, »Showroom Dummies« bzw. »Les Mannequins« der erste dreisprachige Song von Kraftwerk.
Wir benutzten bei der Aufnahme keinen Sequenzer, sondern spielten das Stück live ein. Jedes Instrument einzeln, alle halfen mit. Wie schon bei »Radioaktivität« verwendete Ralf auch bei diesem Song ein Motiv, das ich aus seinen Improvisationen kannte. Florian übernahm den Bass. Dabei zog er wirklich eine tolle Nummer ab. Ein derartiger Zacken-Bass war damals wirklich einmalig: Seine Phrasierung führte zu einem nicht sehr konstanten Rhythmusmuster. Gerade dadurch entstand jedoch ein stampfender, leicht taumelnder Rhythmus, auf den sogar – ich bin Augenzeuge – einige Punks fröhlich Pogo tanzten. Bei der Stelle »Und wir brechen das Glas« mutierte Florian wieder zum Foley Artist und spielte leidenschaftlich den konkreten Klang ein.
Franz Schubert – Endlos Endlos
Ralfs Hommage an Franz Schubert, die fast fünf Minuten in G-Dur verweilt, hörte ich zum ersten Mal auf der fertigen LP. Es ist eine Ableitung von »Europa Endlos« und wirkt auf mich deshalb wie eine Reprise, was dem Album die Anmutung einer geschlossenen Form verleiht. Ralfs Schubert-Reduktion wurde ein Stück elektronische Kammermusik und mündet in dem sich wiederholenden Wort »endlos« …
Artwork
Am Artwork des Albums war Emil wieder beteiligt. Außerdem die Düsseldorfer Firma Ink Studios von Mike Schmidt. Die Ausführung des Artwork wurde wie immer von Ralf und Florian organisiert. Ralf hatte bei solchen Vorgängen die Funktion des Executive Producer, das heißt, er machte die Ansagen, kontrollierte die Ergebnisse, übte Kritik und nahm schließlich das Endprodukt ab. Florian hatte natürlich ein Mitspracherecht, aber ich kann mich nicht erinnern, dass es bei größeren Entscheidungen jemals Meinungsverschiedenheiten gab.
Wirklich gelungen finde ich die Futura-Typografie in Verbindung mit den drei horizontalen Linien pro Zeile, die mich an den Stil der Odeon-Electric-Schallplatten-Kataloge der Zwanziger- und Dreißigerjahre erinnert. Auf dem Front-Cover befindet sich ein Gruppenbild von der Fotosession vom 1. April 1975 im Atelier von Maurice Seymour in New York und auf der Rückseite die bereits erwähnte Portrait-Fotomontage von J. Stara, Paris – beide in Schwarz-Weiß. Für den amerikanischen Markt wurden die Fotos getauscht und die J.-Stara-Fotomontage in Farbe ausgeführt.
Für die Vorderseite der Innenhülle gestaltete Emil eine für ihn typische Collage, die sich aus einem unserer Gruppenbilder – ebenfalls aus der Session im Atelier von Maurice Seymour – und einer in hellen Tönen gemalten Landschaft im Hintergrund zusammensetzte. Wir vier sitzen mehr oder weniger lässig an einem Tisch mit einer karierten Tischdecke unter einem Lindenbaum und schauen dem Betrachter fast freundlich in die Augen. Eine Atmosphäre wie in einem Ausflugslokal am Rhein. Diese Collage liegt auch als großes aufklappbares Poster der Plattentasche bei.
Die Rückseite der Innenhülle gleicht einem Blatt gelben Notenpapiers, auf dem die Namen der Autoren und andere Angaben eingepflegt sind. Jedes Musikstück wird von einer kleinen Zeichnung oder einer Letraset-Illustration repräsentiert. Das Interessanteste an der Grafik ist für mich der Notenkreis, der das Thema von »Europa Endlos« symbolisch als Loop darstellt.
Auf diesem Album-Cover wird unsere Besetzung auf drei Abbildungen mit der größtmöglichen Intensität präsentiert. Mehr ging nicht. Kraftwerk manifestierte sich mit dieser Covergestaltung als eine in sich geschlossene Vierergruppe, eine Einheit: das klassische Line-up. Für Emil war in diesem Konzept allerdings kein sichtbarer Platz mehr vorgesehen.
Mit dem Orient-Express nach Reims
Sensationell – so sollte die Party unseres französischen Labels Pathé Marconi zur Veröffentlichung von Trans-Europe Express werden. Und Maxime Schmitt hatte dazu eine grandiose Idee. Kurzerhand lud er die Pariser Medien, Celebrities und Lebenskünstler zu einer Zugfahrt im nostalgischen Orient-Express – vielmehr in einigen restaurierten Waggons der legendären Eisenbahnlinie – vom Pariser Gare du Nord ins 130 km entfernte Reims zu Moët et Chandon ein. Wer konnte eine solche Einladung schon ablehnen. So saßen am 9. Februar auch wirklich so gut wie alle angesprochenen Medienpartner mit uns im Zug nach Reims und hörten bei »gepflegten Getränken« unser neues Album in voller Lautstärke aus den Lautsprechern ihrer Abteile.
In Reims angekommen, stiegen wir zusammen mit der munteren Reisegesellschaft in bereitstehende Busse um, die uns zu dem berühmten Champagner-Haus brachten. Dort zogen wir uns in einem riesigen Kellergewölbe bei Fackelschein ein klassisches französisches Dinner rein. Die Garçons schwirrten mit monumentalen Magnumflaschen zwischen den Tischen herum und schenkten nach, wann auch immer jemand einen Schluck getrunken hatte. Ich glaube, ich übertreibe nicht, wenn ich von einer rauschenden Party spreche. Jeder mit einem Hauch von Fantasie wird sich unschwer vorstellen können, wie es im Fackel-Gewölbe weiterging, bis wir nach einiger Zeit nach Paris zurückgebracht wurden. Den Rest der Nacht schlugen wir uns in einem Club um die Ohren …
Filmaufnahmen im hellen Trenchcoat
Wieder zu Hause, ging es nahtlos weiter. Ralf und Florian wollten auch für »Trans Europa Express« einen Film produzieren, und so trafen wir uns am 14. Februar 1977 nachmittags für die Dreharbeiten im Kling Klang Studio. Günter Fröhling war auch dieses Mal wieder als Kameramann engagiert. Neben seiner Arriflex-Kamera brachte er die Maskenbildnerin Frau Hartkopf mit, die uns ein weißes Make-up mit Lidschatten, Lippenstift und allem Gedöns verpasste .
Der Dresscode war angelehnt an die Garderobe von Ralf und Florian während unserer US-Tour, mit der sie eine visuelle Brücke in die Weimarer Republik und die Dreißiger- und Vierzigerjahre geschlagen hatten: Mäntel mit Fellkragen, Hut, Lederhandschuhe. Augenscheinlich orientierte sich auch Frau Hartkopf bei unserem Make-up an den Filmen der UFA. Damals konnte ich mir keine adäquate »Vintage«-Kleidung leisten und streifte mir deshalb meinen hellen Trenchcoat über. Ich war überrascht, als ich irgendwann später Jean-Louis Trintignant in einem ähnlichen Mantel in dem französisch-belgischen Spielfilm Trans-Europ-Express aus dem Jahr 1966 herumflitzen sah.
Während des Drehs fingen Ralf und Florian an, meine Frisur zu »designen«. Sie hatten sich irgendwie in den Kopf gesetzt, dass ich die Mephisto-Frisur von Gustav Gründgens aus seiner Paraderolle im Faust I übernehmen sollte. Ihr Vorschlag sollte mich noch eine Weile beschäftigen. Wolfgang trug an diesem Tag einen zweireihigen schwarzen Blazer und war derjenige von uns mit den längsten Haaren. Jeder Stylist bzw. Kostümbildner in Babelsberg hätte nach dieser Produktion wahrscheinlich seinen Job verloren. Andererseits wird durch die mangelnde Perfektion auch der improvisatorische Charakter unserer Session deutlich. Dresscode und Make-up waren nicht todernst gemeint. Nach der Maske machten wir uns im kalten Februar zu Fuß zum Düsseldorfer Hauptbahnhof auf. Mittlerweile war es dunkel geworden. Wir lösten am Schalter fünf Rückfahrscheine nach Dortmund und stiegen in den Regionalzug.
Kurz darauf saßen wir in einem Raucher-Abteil der ersten Klasse. Günter Fröhling filmte in den knapp 50 Minuten pro Fahrt alle denkbaren Perspektiven von Vierergruppen, Zweiergruppen und Close-ups. Für eine Einstellung legte er sich sogar filmend ins Gepäcknetz. Alles war in a state of flux , und doch gelang es Fröhling, wenigstens einige der vorbeigleitenden Lichtquellen im Fenster unseres Abteils einzufangen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich vergessen, ob wir ein Tonbandgerät mit der Aufzeichnung der Musik mitgebracht hatten. Doch der Klang war sowieso in uns.
Neben unseren Aufnahmen im Zug wird bei dieser Produktion erstmals dokumentarisches Archivmaterial der Wochenschau verwendet. Außerdem filmte Fröhling einige Einstellungen einer Modelleisenbahn, die durch eine Miniaturlandschaft fuhr. Nachdem das Footage organisiert und alle Filme entwickelt waren, editierten Ralf und Günter Fröhling das Rohmaterial in dessen Studio auf der Herzogstraße. Die Dramaturgie für die Montage ergab sich dabei automatisch aus der Songstruktur.
Interessanterweise startet der Film nach der obligatorischen Irisblende mit Archivaufnahmen des propellergetriebenen Schienenzeppelins, der 1931 mit 230,2 km/h einen Geschwindigkeitsweltrekord aufgestellt hatte. Der Hybrid aus Flugzeug und Eisenbahn sah wirklich fantastisch aus. Der Zug hatte aber – abgesehen von der Tatsache, dass er auf Schienen fuhr – nichts mit dem Trans-Europ-Express – der von 1957 bis 1987 zwischen den Staaten Europas verkehrte – zu tun. Das spielte aber keine Rolle. Ralf war damals bemüht, der Musik von Kraftwerk auch eine unverwechselbare visuelle Identität zu geben. Und obwohl der Name »Trans Europa Express« auf der Single 16 Mal wiederholt wird, ist der Film ästhetisch eher in den Dreißigerjahren verortet.
Reflexion
Zwar war es ein ambitionierter Versuch, einige Tracks von Trans Europa Express im Record Plant Studio in Los Angeles mischen zu lassen. Allerdings wirkte der West-Coast-Mix im Kling Klang Studio eher fremd. Die Songs klangen glattgebügelt, wie unter Valium gemischt, hatten alle Ecken und Kanten verloren. Schließlich buchten Ralf und Florian wieder Otto Waalkes’ Rüssl Studio in Hamburg, um dort mit dem brillanten Toningenieur Thomas Kuckuck – der sich damals durch seine Arbeit mit Udo Lindenberg, Frumpy, Birth Control, The Rattles, Karthago, Eloy und Novalis einen Namen gemacht hatte – die Endabmischung durchzuführen. Immerhin wurde The Record Plant Hollywood in den Credits des Albums erwähnt.
Die renommierte deutsche Journalistin Ingeborg Schober, die ein Jahr zuvor unser Konzert im Londoner Roundhouse besucht hatte, schrieb zur Veröffentlichung im März einen Konzertbericht mit der Überschrift »Techno-Boogie aus der Neonröhre« 9 , in der sie schildert, wie Kraftwerk »eine Welt mechanischer Künstlichkeit in all ihrer perversen Schönheit vorführt.« Die Bildunterschrift ihres Artikels lautet: »… und gleich fahrn, fahrn, fahrn wir mit der Eisenbahn!« In der Tat schließt TEE an die inhaltliche Unverbindlichkeit des Autobahn -Albums an: Unsere kleine Reise-Gruppe erlebt weitere Abenteuer in Paris, Wien und Düsseldorf. Sogar Iggy Pop und David Bowie waren diesmal mit von der Partie.
Die Gemeinsamkeiten von Trans Europa Express und Autobahn sind offenkundig. Bei beiden Kompositionen werden narrative Einheiten aneinandergereiht und in einer großen Form miteinander verbunden. Neben den tonalen musikalischen Ausdrucksmitteln spielen dabei Geräuschimitationen eine zentrale Rolle. In geringerem Maße auch konkrete Klänge. Die Stimme – menschlich und synthetisch – bleibt im Pop-Idiom. Thematisiert wird die Reise – für mich sind es akustische Roadmovies.
Trete ich einen Schritt zurück und sehe das ganze Bild, erkenne ich in Eisenbahn und Automobil die ehemaligen Symbole des Fortschritts der Moderne und Objekte des Maschinenkults, wie ihn zum Beispiel die italienischen Futuristen betrieben. Neben den Geräuschimitationen von Technik, Umwelt und Natur setzen beide Kompositionen ganz im Sinne der Futuristen auch die Wahrnehmung von Geschwindigkeit, Bewegung und Monotonie in Musik um. Dabei mischt sich der Blick zurück mit den Klangwerkzeugen der Siebzigerjahre.
Als das Album im März 1977 erschien, wurde es von Fans und Medien zwar nicht euphorisch, doch insgesamt gut aufgenommen. Glenn O’Brien schrieb im Interview Magazine : »Mit ihrer Fusion aus klassischen Melodien, avancierter elektronischer Musiktechnologie und afro-europäischen Rhythmen haben sie einen neuen Sound kreiert, der intellektuell stimuliert und zugleich tanzbar ist. Das letzte Album von Kraftwerk, Trans-Europe Express , hat letztes Jahr sogar die Discomusik massiv beeinflusst, weil hier Tanzrhythmen mit eingängigen, intelligenten Melodien und ausgereifte Songkonzepte kombiniert werden.« 10
In Frankreich machte Maxime Schmitt für Pathé Marconi einen fantastischen Job. Trans-Europe Express erreichte die relevanten französischen Medien, verkaufte sich hier besonders gut und landete auf Platz 2 der LP-Charts; völlig unerwartet stieg die Single »Trans-Europe Express« – mit dem Schienenzeppelin auf dem Cover – in die italienischen Top Ten ein. In den deutschen Charts erreichte das Album Platz 32, in Großbritannien Platz 49 und in den USA Platz 119.
Der Erfolg in Frankreich zeichnete sich deutlich ab, aber gemessen an der Bedeutung, die viele Kritiker dem Album später noch zuweisen werden, machte die Veröffentlichung keine große Welle. An diesem Punkt stellten Ralf und Florian – ich bleibe im Jargon – eine Weiche um und verließen das bekannte Konzept, Tonträgerveröffentlichungen mit Gigs zu unterstützen. Wir waren zwar noch im September und Oktober mit Radio-Aktivität unterwegs gewesen und hatten dabei auch Tracks von TEE ins Programm genommen, aber jetzt, nach der Veröffentlichung des Albums, änderten die beiden ihre Live-Politik und verzichteten darauf, den Verkauf von Trans Europa Express mit Konzerten anzuschieben. Damals dachte ich nicht darüber nach, ob es eine richtige oder falsche Entscheidung war.
Fair Pla y
Als ich am Freitag, den 15. April 1977 im Kling Klang Studio eintraf, war Ralf zu meiner großen Verwunderung schon da. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit war er unerwartet pünktlich, hatte die Anlage eingeschaltet und spielte leise vor sich hin. Gut einen Monat vorher hatte ich schon einmal vorsichtig mit ihm darüber gesprochen, dass ich meiner Meinung nach auf dem letzten Album einige musikalische Ideen beigesteuert hatte, die über den normalen Input eines Studiomusikers hinausgingen. Jetzt war mein Solo auf »Spiegelsaal« und der Vorschlag, es bei »Trans Europa Express« mit Quarten zu versuchen, in das Material eingeflossen. Als Co-Autor war ich bei diesen Songs jedoch nicht genannt.
Natürlich kann man über die Wertigkeit von Beiträgen durchaus unterschiedlicher Meinung sein. So hörte ich das Gerücht, dass vor einer Studiosession eines berühmten Jazzpianisten auf den Notenpulten der zahlreichen Musiker jeweils ein leeres Notenblatt mit dessen Signatur lag und ihn damit als alleinigen Autor der noch zu komponierenden Musik auswies.
Auch Paul McCartney äußerte sich einmal zum Thema Credits beim Songwriting: Für ihn ist beispielsweise das Gitarren-Solo von George Harrison bei »I Saw Her Standing There« eine Improvisation über acht Takte und nicht Teil der Komposition. Klar: Harrison hatte es gespielt, als der Song bereits fertig war. Ich denke, für Ralf und Florian war mein musikalischer Beitrag bei »Spiegelsaal« wohl auch ein ad lib.
Die beiden funktionierten als Autorenteam nicht gerade wie Songwriter der Tin-Pan-Alley oder die moderne Version, dem Brill Building in New York. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt natürlich schon, dass Florian kein Komponist im traditionellen Sinn war. Er war nicht der Mann für Arrangements und Songstrukturen. Wenn man seine Kernkompetenz, die künstliche Sprache, einmal außen vor lässt, bestand sein Talent darin, Klänge oder Geräusche zu erzeugen. Der als »Vater der elektronischen Musik« bezeichnete Edgar Varèse soll einmal gesagt haben: »Ich arbeite mit Klangfarben, Geräuschen und Rhythmen – Melodien sind nur das Geschwätz in der Musik.«
Vielleicht trifft das in gewisser Weise auch auf Florian zu, aber viel mehr noch sehe ich in ihm einen akustischen Jackson Pollock. Er hatte so eine Art »Action Painting in Sound« drauf, womit er mich gelegentlich ziemlich verblüffte. Immer wenn es in einer Tonart geradeaus ging, war es Florian, der einen absolut unerwarteten Sound, verbunden mit einem akzeptablen Timing brachte. Schließlich war er es, der Kraftwerk am Anfang mit seiner Energie und Entschlossenheit nachhaltig prägte.
Zurück in die Mintropstraße. Ich hatte weder die geringste Ahnung von der Dimension unserer Unterhaltung, noch konnte ich objektiv die Qualität meiner Beiträge bei unserer letzten Produktion einschätzen. Diese Frage, wie die Copyrights verteilt werden, war ja neu für mich. Vielleicht lag ich auch völlig falsch. Ein kleinliches Aufrechnen würde jedenfalls die Atmosphäre vergiften, dachte ich. Nerven wollte ich schon gar nicht, sondern cool, locker und sportlich erscheinen. Außerdem – das war doch klar – würden noch unendlich viele Kraftwerk-Schallplatten folgen und die Chancen, die in der Zukunft lagen, waren wesentlich interessanter als die vergangenen Sessions.
Ich denke, dass Ralf und Florian über meine aktuellen und wohl auch zukünftigen Beiträge ernsthaft nachgedacht haben müssen. Und tatsächlich ergab sich eine Veränderung für unsere weitere Zusammenarbeit: Die bestand darin, dass ich das nächste Kraftwerk-Album auch als namentlich genannter Co-Autor mitgestalten sollte. Na also, dachte ich erleichtert und auch ein bisschen euphorisch. Es geht weiter.
Zyklus für einen Schlagzeuge r
Mittlerweile hatte ich mich darauf eingestellt, mein Konzertexamen abzulegen, und ich fing an, mein Programm zusammenzustellen. Der Zyklus für einen Schlagzeuger von Karlheinz Stockhausen stand natürlich ganz oben auf meiner Liste. Vor Jahren hatte ich eine Aufführung der ungefähr zehn bis zwölf Minuten langen Komposition aus dem Jahr 1959 gesehen und gehört. Ich konnte es kaum erwarten, sie selbst zu spielen. Das Werk hat keinen definierten Anfang und kein Ende. Der Schlagzeuger beginnt mit irgendeiner Seite der sechzehn durch eine Spiralbindung zusammengehaltenen Notenblätter und spielt dann einen Zyklus. Auch die Leserichtung – links oder rechts herum – ist seine eigene Entscheidung. Der Solist ist umgeben von Schlaginstrumenten – Marimba, Vibraphon, Trommeln, Tam-Tam etc. – und dreht sich während der Aufführung einmal im Kreis. Was mich an dem Stück reizte, war der Wechsel von festgelegten und freien Elementen – und natürlich die bei der Performance entstehende Choreografie.
Aber mit dem Zyklus war es natürlich nicht getan. Wochenlang recherchierte ich wie verrückt nach passender Literatur, suchte in Katalogen, bestellte Unmengen von Noten und Schallplatten. Ich wollte keine Kabinettstückchen abliefern, sondern ein wirklich musikalisch anspruchsvolles Programm zusammenstellen, das der Rolle des Schlagzeugs in der Musik des 20. Jahrhunderts entsprach. Natürlich gab es jede Menge großartige Kompositionen für Percussion-Ensembles, aber Literatur für einen einsamen Schlagzeugsolisten war mit meinem Radar nur schwer zu orten.
Also sprach ich mit dem Dekan und erklärte ihm die unglückliche Lage, in der ich mich befand. Ich war mittlerweile 15 Semester an der Hochschule und durch die zahllosen Aufführungen, meine Tätigkeit bei der Oper, die Konzerte und nicht zuletzt durch mein Mitwirken bei meiner Elektro-Combo auch für ihn schon lange kein Unbekannter mehr. Er riet mir, mich auf die »Tuned Percussion Instuments« wie Vibraphon, Marimbaphon oder Glockenspiel zu konzentrieren, was ich sowieso tat, und gab mir grünes Licht für die nächsten zwei Semester.
Nightclubbing
Seit ich in der WG auf der Berger Alle lebte, begleitete ich Ralf, Florian und Wolfgang in die Clubs. Denn die Musik bewegte sich damals immer mehr von der Bühne auf die Tanzfläche. Es war angesagt, und außerdem kannte ich das »Nightlife« noch nicht so richtig. Es hatte zentral mit Musik zu tun und obendrein, das war eine nicht zu unterschätzende Nebenwirkung, konnten wir einige gut aussehende Tänzerinnen bewundern. Ein sehr vernünftiger Grund, jedenfalls wenn man 25 Jahre jung und ungebunden ist. Die erste Anlaufstelle für mich war Mora’s Lovers Club in der Schneider-Wibbel-Gasse, der in etwa zehn Minuten Fußweg von der Berger Allee aus zu erreichen war.
Der kleine Club lag in der ersten Etage. Wenn man es geschafft hatte, reingelassen zu werden – wir waren natürlich schnell als halbwegs berühmte Nachtschwärmer bekannt –, gelangte man über eine Treppe nach oben und stand auch schon fast mitten auf der Tanzfläche. Ralf, Florian und Wolfgang tanzten hin und wieder – ich eher selten. Mich interessierte, wie sich die Tanzfläche bei gewissen Stücken füllte und bei anderen leer wurde. Nightlife und Disco waren modern und lebendig. Wir hatten das Gefühl, in der Disco, wie man damals sagte, unserer »Zielgruppe« nahe zu sein. Für mich war das alles neu und machte mir ziemlichen Spaß. Bald bekamen die Ladies, die wie wir Stammgäste waren, Künstlernamen wie »die römische Villa«, der »weiße Hai«, »die Kirsche«, »das Kälbchen«, »die Gräfin« oder »Frau Holle«. Die revanchierten sich, wie ich später erfuhr, mit Bezeichnungen wie » Langweiler«, »Triebtäter«, »Turnschuh« oder »Schönling«. Das ist natürlich nur fair. Damals durfte in Clubs und Restaurants noch geraucht werden, deshalb war es, wenn es voll war, total verqualmt. Meine Augen begannen fast sofort zu tränen, und ich konnte kaum atmen. Doch das nahm ich in Kauf.
Schnell hatten wir auch unseren Stammplatz im Club definiert: direkt rechts an der DJ-Booth. So konnte ich, wenn ich wissen wollte, wie der Track hieß, der gerade lief, an seine Scheibe klopfen und nachfragen. Der DJ, den alle Jimmy nannten, weil er so aussah wie Jimi Hendrix, legte in so einer Nacht ziemlich tolle Musik auf. Jimmys Spektrum bestand aus einem Mix aus Rhythm and Blues, Rock, Soul, Funk, Disco-Knallern und Crossover-Mainstream-Songs: Eine sehr gute Grundlage für jeden Clubabend in der zweiten Hälfte der Seventies waren natürlich Klassiker wie »I Got You (I Feel Good)« oder »Get Up (I Feel Like Beeing A) Sex Machine« von James Brown, »After Midnight« und »Cocaine« von J. J. Cale, Disco-Hits wie »Fly Robin Fly« von Silver Convention, aber auch Songs der Steve Miller Band wie »Fly Like An Eagle«, Lou Reeds »Walk On The Wild Side« und Marvin Gayes »I Heard It Through The Grapevine« passten ins Programm. Und dann waren da natürlich die aktuellen Hits von 1977, zum Beispiel: Santa Esmeralda – »Don’t Let Me Be Misunderstood«; Diana Ross – »Love Hangover«, David Bowie – »Heroes«, Space – »Magic Fly«, Space Art – »Onyx«, Donna Summer – »I Feel Love«.
Wenn man diese Tracks ineinander faded, befindet man sich exakt in unserem damaligen akustischen Club-Environment. Hier betrieben wir unsere »soziokulturellen Studien« und waren der angesagten Musik der Zeit und den Reaktionen des Publikums nahe. Ich erinnere mich an eine dieser Nächte, als ich nach Jahren Houschäng Nejadepour auf der Herrentoilette im Mora’s wiedersah. Er erkannte mich sofort, sah mir in die Augen und erklärte exaltiert: »Karl, es gibt jetzt keine Limits mehr!« Houschäng hatte gerade sichtlich eine gute Zeit. Erstaunlich, dass ich mich noch so gut an dieses Schlaglicht erinnern kann. Auch ich hatte schließlich meine eigenen Experimente und Abenteuer in Sachen Ekstase, Kontrollverlust bis hin zum Filmriss.
Neben dem Mora’s Lovers Club gab es noch einige andere Nachtclubs, die wir damals durchstreiften. Da war der Peppermint Club, aus dem später das Rockin’ Eagle wurde. Auf der Königsallee befanden sich das Malesh, das später in Checkers umbenannt wurde, und das Sam’s, das sich eigentlich auf einer Parallelstraße befand, aber bei uns unter »Kö« abgeheftet war. Der Club namens Sheila mutierte später zum Match Moore.
Eine weitere Anlaufstelle, um sich am späten Nachmittag oder frühen Abend zu treffen – zum Rumalbern, Gucken und Gesehenwerden –, war das Café Bagel: Es war der lässige Treffpunkt für die »Schönen« der Stadt, für die Models, Modedesigner, Fotografen und Werber, die Friseure, die Exoten und diejenigen, die einfach nur reich waren.
Selbstverständlich konnten diese Adressen kreativ miteinander verknüpft und in den Tages- bzw. Nachtablauf integriert werden. Einige von uns beherrschten diese Integrationsabläufe absolut meisterhaft. Ich rangierte eher abgeschlagen im hinteren Mittelfeld, aber blieb immer informiert, was gerade so lief. Zugegeben: »Flying trough the night« war auch für mich eine gewisse Zeit lang ein herrlicher Spaß.
Das Interesse von Ralf, Florian und Wolfgang richtete sich im Laufe der Jahre allerdings auf Köln, und sie stürzten sich immer öfter ins dortige Nachtleben. Irgendwie war es in der traditionell »verfeindeten« Nachbarstadt cooler, lässiger, moderner. Entweder traf man sich im Moroco auf dem Hohenzollernring oder später im Alten Wartesaal, direkt neben Hauptbahnhof und Dom.
Ratinger Ho f
Von der Berger Allee gelangte ich zu Fuß in zehn bis fünfzehn Minuten auf die Ratinger Straße. Da waren abendliche Besuche, besonders unter der Woche, programmiert. Um wirklich nichts zu versäumen oder niemanden zu verpassen, musste ich natürlich in allen drei Haupt-Läden auf der Meile – Einhorn, Uel, Hof – nach dem Rechten sehen. Das machte jeder so. Einhorn und Uel blieben über all die Jahre ihrem Stil treu, bis heute. Nicht so der Ratinger Hof. Carmen Knoebel und Ingrid Kohlhöfer übernahmen die Kneipe Mitte der Siebzigerjahre und veränderten die Raumausstattung: Aus einer Hippie-Höhle wurde ein urbaner Punk-Laden mit weißen Wänden, Spiegeln und grellem Neonlicht. Ein Fernseher hing tonlos-flackernd unter der Decke. Es heißt, Carmens Ehemann, der damals schon renommierte Künstler Imi Knoebel, hätte beim Umbau seine Hände im Spiel gehabt. Das Stammpublikum veränderte sich grundlegend, und in den nächsten Jahren wurde der Hof zu einer ziemlich angesagten Adresse. Wenn es jemals eine Szene in Düsseldorf gegeben hat, dann war es hier in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre.
Der Laden öffnete vormittags und lief durchgehend bis zur Sperrstunde um ein Uhr morgens. Aber es wurde natürlich erst am frühen Abend interessant. Wer Rang und Namen hatte, schaute immer mal wieder dort vorbei. Der Hof galt als der Künstlertreff, die Kunstakademie befand sich schließlich direkt um die Ecke. Aber auch die Kreativen der Werbeagenturen, Artdirektoren, Grafiker, Fotografen, Architekten, Szene-Frisöre, Boutiquenbesitzer, Models, Dealer, Schüler, Studenten, Handwerker, Angestellte, Rumhänger, Freaks, Szenegrößen, und nicht zuletzt Musiker bzw. »geniale Dilettanten« wurden von diesem Ort magisch angezogen. Es gab in der besten Zeit des Ratinger Hofs keine Einlasskontrolle durch einen Türsteher. Das war gut und führte zu diesem bunt gemischten Publikum aus allen sozialen Schichten mit unterschiedlichen Bildungsniveaus. Wenn es überhaupt eine Art Auswahl bei den Gästen gab, dann wurde sie über die Musik, das Interieur und das Stammpublikum herbeigeführt.
Über die Musik aus den Lautsprechern entstand die Identität dieser Kneipe. Die Leute an den Turntables hatten es meistens drauf, alles mit allem zu verknüpfen und auch nicht vor starken Kontrasten zurückzuschrecken: Ramones, Sex Pistols, Clash, Buzzcocks, natürlich Iggy Pop und ab 1978 auch das ewige »Warm Leatherette« von Daniel Miller, aber auch Motown, Soul, Reggae und Rock ’n’ Roll. Ich habe dort auch frühe Beatles, Stones, Kinks oder andere Bands der ersten Generation gehört. Übrigens schafften es nur wenige Songs wie »Heroes« von Bowie oder Blondies »Heart of Glass«, überall gespielt zu werden – vom Ratinger Hof über Malesh und Sam’s bis zur deutschen Eckkneipe in Flingern.
Über viele Jahre bin ich immer wieder abends in den Hof gegangen, um Leute zu treffen und zu sehen, was los ist. Meistens holte ich mir erst einmal ein Bier an der Theke, stand eine Weile mit dem Rücken zur Wand und schaute mich unauffällig um. Es dauerte nicht lange, da liefen mir Kraftwerk-Freund Volker Albus, Coiffeur Teja, der Schlagzeuger Frank Köllges oder andere Bekannte über den Weg. Ralf und Florian kamen anfangs auch gelegentlich vorbei, Wolfgang sowieso. Ich blieb nie besonders lange oder habe auch nie dort ›gewohnt‹, wie es andere von sich heute sagen, dazu fehlte mir die Geduld. Nie hatte ich das Gefühl, dazuzugehören, ich war immer ein Gast unter vielen.
Im Hof war es besser, nicht in unmittelbarer Nähe der Tanzfläche zu stehen. Denn die war manchmal ein gefährlicher Ort, den ich nur aus angemessener Entfernung betrachtete. Die Pogo-Tänzer sprangen dort fröhlich in die Luft. Ein absolutes »No-Go« war aber das Klo. Es war schon ein verdammtes Drecksloch! Dort konnte man den Eindruck haben, man befinde sich direkt in einer Kloake. Ohne Gummistiefel war es an manchen Tagen nicht ratsam, dieses »stille« Örtchen aufzusuchen. Obwohl es mitunter eine gewisse surreale Qualität hatte, was sich dort abspielte. Wenn der Spruch »No Future!« jemals irgendeine Bedeutung hatte, dann in der Toilette des Ratinger Hofs.
Apropos »No Future!«: Die Punk-Bewegung der Siebzigerjahre hatte für das Musikgeschäft in England mit Sicherheit eine wichtige Ohrenreiniger-Funktion. Es war höchste Zeit geworden, dort die eingefahrenen Strukturen der Schallplattenfirmen aufzumischen und etwas Neues zu versuchen, musikalisch und auch mit anderen Geschäftsmodellen. Diese Energie war auch in Düsseldorf angekommen und wurde hier im Hof musikalisch umgesetzt. Dass dort jede Menge Bands gegründet wurden, die die Kneipe als ihr Hauptquartier nutzten, im Keller probten und oben Konzerte gaben, habe ich erst viel später erfahren.
Hier starteten die Toten Hosen als ZK ihre sensationelle Musikkarriere, aus S. Y. P. H. und Mittagpause entwickelte sich die Band Fehlfarben, und die bis heute aktiven Krupps nannten sich früher Male. Auch die Band DAF – Deutsch Amerikanische Freundschaft – hatte dort ihren Ursprung. Der Plan gilt bis heute als Kultband, die Frauen-Band Östro 430 fällt mir auch noch ein – ungezählt sind all die Gruppen und Projekte, aber sie alle machten den Ratinger Hof zu einer kulturellen Petrischale.
Ende der Siebziger zogen sich die beiden Chefkuratorinnen Carmen Knoebel und Ingrid Kohlhöfer aus dem Ratinger Hof zurück und übergaben die Hausschlüssel und die Düssel-Alt-Lizenz an einen Nachfolger. Einige der Bands aus dem Proberaum des Hofs und dem Umfeld der Ratinger Straße machten sich auf den Weg von der Subkultur in den Mainstream und fanden sich in den 1980er-Jahren in den deutschen Charts wieder: Fehlfarben – Monarchie und Alltag (1980), DAF – Die Kleinen und die Bösen (1980), Die Roten Rosen – Never Mind The Hosen – Here’s Die Roten Rosen (1987) .
Ich war damals wirklich ziemlich oft im Ratinger Hof. Mit den Geschehnissen dort hatte ich persönlich aber nichts zu tun – musikalisch war ich auf einem ganz anderen Weg. Und der führte mich geradewegs zum nächsten Kapitel meiner Klangbiografie.