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MEIN NEUES LEBEN
Auftakt. Musikalische Manöver. Volle Kraft voraus. Esperanto. Das Schloss. The Northern Sky. Hamburg calling. Gitarre im Kopf. Roberto in play. Live. Visuelle Musik. 15 Minutes Of Fame. Expo-Gigs. Gesang der Jünglinge.
Auftakt
Meine seelische Verfassung nach dem Abschied von Kraftwerk lässt sich nur schwer beschreiben. Natürlich nahm ich die Trennung nicht leicht. Ich fühlte mich angeschlagen und enttäuscht – gleichzeitig aber auch euphorisch. Denn ich spürte eine große Erleichterung, endlich wieder selbst über mein Leben bestimmen zu können.
Auch privat sollte sich etwas verändern. Denn Bettina und ich entschieden, jetzt in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Für einen Studioraum fehlte dort jedoch der Platz. Da erwies sich der Kontakt zur Klangwerkstatt – wo ich mit Fritz »das Sakrileg« begangen hatte – als ausgesprochen nützlich. Studio-Boss Stefan Ingmann schlug mir vor, einen Abstellraum im Keller seines Studio-Komplexes leerzuräumen. Falls er mir geeignet erschien, könnte ich mir dort ein Projektstudio einrichten. Es war zwar kein Palast, aber der Raum war relativ groß, und ich konnte dort rund um die Uhr arbeiten. Auch die Monatsmiete war in Ordnung. Ich überlegte nicht lange und nahm das Angebot an.
Im Spätsommer hatte ich mich in der neuen Umgebung eingelebt. Morgens fuhr ich zum Laufen in den Wald und traf gegen Mittag in der Klangwerkstatt ein. In dem großen Studio
herrschte ein reger Betrieb. Der Mittelpunkt war natürlich die relativ kleine Küche mit der Kaffeemaschine. Es gefiel mir, unter Menschen zu sein, über Musik und andere Themen reden zu können. Manchmal spielte mir Stefan im Kontrollraum seine aktuelle Produktion vor. Dann verschwand ich mit meiner Tasse Kaffee in der Hand im Basement, wo ich in meinem Raum auf der Suche nach neuer Musik an meinen Geräten herumbastelte.
Mein erklärtes Ziel war es, in absehbarer Zeit ein eigenes Album aufzunehmen. Dafür musste ich aber zunächst einmal herausfinden, wie Karl Bartos eigentlich klingt. Diese Frage ließ sich gar nicht so leicht beantworten, denn mein musikalisches Leben war größtenteils in die Kompositionen von Kraftwerk eingeflossen.
Mindestens genauso wichtig war die Frage, wie ich mich in Zukunft geschäftlich organisieren würde. Große Sorgen machte ich mir deshalb nicht. Denn Anfang der 1990er-Jahre brummte das Musikgeschäft. Die A&Rs der Schallplattenfirmen und Musikverlage waren immer auf der Suche nach neuen Künstlern. Es musste doch zu schaffen sein, einen Plattendeal an Land zu ziehen. Froh, über meine Arbeitszeit nun selbst bestimmen zu können, setzte ich mich an meine Instrumente und improvisierte stundenlang, um Musik zu erfinden. Lothar Manteuffel, der damals zum engeren Kreis der Klangwerkstatt gehörte, unterstützte mich dabei. Gerade in der Anfangsphase hatten wir einen regen Gedankenaustausch und arbeiteten häufig zusammen. Hin und wieder klopften auch Ex-Kollegen, Freunde und Bekannte an meine Studiotür, beispielsweise Fritz Hilpert, Bodo Staiger, Klaus Dinger oder Michael Mertens.
Unser erster gemeinsamer Businesstrip führte Lothar und mich im Frühjahr 1991 nach New York. Für eine Woche quartierten wir uns im Mayflower Hotel ein. Wir hatten uns mit Doreen D’Agostino verabredet, die wir noch aus ihrer Zeit bei EMI kannten. Mittlerweile arbeitete sie für das Label Big Life. Ein anderes
Ziel war das Rockefeller Building, das letzte Mal war ich 1986 hier gewesen. Allerdings wollte ich diesmal Marvin Katz, der die Geschäfte von Kling Klang Inc. erledigte, keinen Höflichkeitsbesuch abstatten. Arglos versuchte ich, einen Termin bei Bob Krasnow, dem Chef von Elektra zu bekommen. Natürlich hatte der Mann keine Zeit. Als ich im Vorzimmer des Plattenmoguls von seiner Sekretärin abgewiesen wurde, fühlte ich mich wie ein blutiger Anfänger. Ich glaube, es war wichtig für mich, meinen Status als absoluter »Nobody« kennenzulernen. Denn von dieser soliden Position aus konnte ich beginnen, etwas aufzubauen.
Lange hatte ich überlegt, wie ich mein Projekt nennen soll. Ein Freund riet mir damals, unter meinem eigenen Namen zu arbeiten. Aber irgendwie war mir das nicht ganz geheuer. Denn eigentlich war es schon immer mein Traum gewesen, mit gleichberechtigten Partnern in einer Band zu spielen. Bei der Produktion des ersten Demos hatte mich Lothar unterstützt. Abgesehen von Renovieringsmaßnahmen, Studioarbeiten und konzeptionellen Dingen half er mir bei einigen Songs mit den Lyrics und ich nahm seine Vocals für den Song »TV« auf.
Damals (wie heute) sah ich mich eher als Komponist, Musiker, Klang-Regisseur, Producer und nicht unbedingt als Lead-Sänger. Außerdem – es ist ja auch nicht unbedingt ratsam, wenn ein Filmregisseur bei seinem Debut die Hauptrolle spielt. Mein eigener Musikverlag hieß damals Elektric Music, und mir kam die Idee, diesen Namen auch für das Musikprojekt zu nutzen. Ich erhoffte mir, dass sich Lothar und auch Emil, der sich mit Grafik und Text einbrachte, stärker damit identifizieren konnten, als wenn ich ein Soloprojekt unter meinem Namen startete.
Inzwischen hatte Stefan Ingmann mein Management übernommen und einige interessante Angebote für einen Plattendeal an Land gezogen. Eines davon kam von der Firma SPV. Ich bot Lothar an, gemeinsam mit mir den Plattenvertrag zu unterschreiben. Jetzt waren wir im Geschäft. Für den Start plante die
Firma, eine Single zu veröffentlichen. Schnell musste ich also einen Track aus dem Ärmel schütteln. Irgendwo in New York hatte ich den Satz »There’s a lot of crosstalk going on« aufgeschnappt, er schien perfekt meine momentane Situation zu beschreiben und wurde das Thema. Emil legte mit »Cut the superstition« los, Lothar und ich stiegen ein und gemeinsam erfanden wir die Worte für unsere erste Single »Crosstalk.«
Die Musik bastelte ich aus einigen Fragmenten zusammen. SPV hatte sich außerdem noch einen Remix gewünscht. Remix, Remix, Remix – ich hasste das damals wie die Pest. Warum sollte ich selbst einen Song remixen, den ich gerade geschrieben hatte? Also gut: Remix. Wir buchten für drei Tage das Kölner Heartbeat Studio, Stefan Ingmann mischte dort beide Titel ab. Völlig überraschend landete »Crosstalk« im April als »Hot dance breakout Club Play« und im Mai auf Platz 43 der USA Dance Charts. Das hatte zwar absolut keine Bedeutung, war aber cool.
Musikalische Manöver
Im Oktober 1991 klebten an allen Litfaßsäulen in Düsseldorf Plakate für das Kraftwerk-Konzert am 31. Oktober in der Philipshalle. Beim letzten Gig in Düsseldorf waren Wolfgang, Emil und ich noch dabei gewesen. Das war allerdings zehn Jahre her, kaum zu glauben. Ich schenkte es mir, als Zuschauer dorthin zu gehen. Stattdessen besuchte ich ein paar Tage später einen Gig von OMD im Kölner E-Werk. Auch dort hatte es personelle Veränderungen gegeben: Paul Humphreys hatte die Band zwischenzeitlich verlassen, und Andy das Sugar-Tax
-Album unter dem Namen OMD aufgenommen. Darauf befand sich auch ein Remake von »Neon Lights«, was mich natürlich freute. Nach dem Konzert verabredeten Andy und ich locker, uns irgendwann einmal zu treffen.
Und er machte Ernst: Im März 1992 saß er in der Tee-Küche
der Klangwerkstatt. Endlich hatten wir Zeit, uns näher kennenzulernen. Andy schlug mir vor, gemeinsam einen Song zu komponieren, und ich stellte ihm eine Audiokassette mit ein paar Rough Mixes meiner neuesten »auditiven Verbrechen« zusammen. Zu der Zeit nahm ich fast täglich etwas auf, ohne groß darüber nachzudenken. Zum Dinner waren wir bei Wolfgang verabredet, wo sich gerade auch Emil einquartiert hatte.
Mein Gegenbesuch folgte im Oktober. Andy hatte mich in sein Haus in Liverpool eingeladen. Als ich aus dem Fenster in den Garten schaute, lief gerade seelenruhig ein Fuchs hindurch. English Countrylife. Ich schaute mir sein Studio, das Pink Museum an, und mit großem Vergnügen machten wir die Beatles-Gedächnis-Tour, bei der er mir Penny Lane, Strawberry Fields und den Cavern Club auf der Mathew Street zeigte.
Schließlich spielte er mir einen Song vor, den er um eine meiner Melodien gebaut hatte: »Kissing The Machine« war stark hitverdächtig und landete auf meinem ersten Album. Über zwanzig Jahre später sollte der Song auf dem OMD-Album English Electric
erneut veröffentlicht werden. Damals hatten wir große Lust, noch weitere Songs zu schreiben, aber erst zwei Jahre später ergab sich eine Gelegenheit. Andy war inzwischen nach Dublin umgezogen, und ich besuchte ihn dort. In seinem Rehearsing Room legten wir los: Jeder hatte ein paar Ideen, und irgendwann spielte ich die Akkorde von »The Moon And The Sun«, dazu sang Andy einen Text in einer Fantasiesprache. Kurze Zeit später fuhren wir mit dem Auto durch das herbstliche Dublin. Während wir uns unterhielten, hatte er nebenbei die Zeile »The autumn leaves are falling as we raced against the sun …« erfunden. Es war großartig, mit jemandem, der etwas davon versteht, einen Song zu schreiben. Andy nannte es einmal: »We threw a few ideas into the computer.« Wir hielten noch eine weitere Idee im Computer fest, aus der Andy dann den Song »Mathew Street« bastelte. »The Moon And The Sun« erschien im Sommer 1996 auf dem OM
D-Album Universal
, die Single »Walking On The Milky Way« stieg mit unserer gemeinsamen B-Side »Mathew Street« in die Top 20 der UK-Charts ein.
Rund ein Jahr später machte ich mich wieder auf zu einem Besuch bei ihm – diesmal jedoch dauerte die Anreise etwas länger: Denn inzwischen war Andy nach L. A. umgezogen. Er hatte ein Haus in den Hügeln gemietet. Tagsüber kurvten wir mit seinem Auto umher, abends saßen wir am Fenster seines Bungalows und blickten stundenlang auf das unendliche Lichtermeer der Stadt. Ich ließ es mir damals nicht nehmen, auch die beiden früheren Tangerine-Dream-Kollegen Christoph Franke und Paul Haslinger in ihren Studios zu besuchen. Dort lernte ich: Es ist eine Grundvoraussetzung, seinen Wohnsitz nach L. A. zu verlegen, wenn man vorhat, im US-amerikanischen Filmbusiness mitzumischen.
Heute flattert ab und an eine E-Mail von Andy oder auch von Paul, der 2007 wieder zur Band zurückkehrte, in mein Postfach, mit einem Gruß oder auch mit der Einladung, sie vor einem Konzert im Hotel oder in der Halle zu besuchen. Irgendwann werden wir vielleicht auch mal wieder ein paar Ideen in den Computer werfen.
Volle Kraft voraus
Mit Andy Songs zu schreiben war cool, aber natürlich war mir bewusst, dass es sich bei OMD um ein etabliertes und sehr erfolgreiches Projekt handelte. Andy machte sein Ding, und ich fing ja gerade erst an, mein Leben und meine Musik neu zu erfinden. Damals dachte ich, es wäre strategisch sinnvoll, mit ein paar Jobs in Schwung zu kommen: eine Coverversion, ein Remix, eine andere Band produzieren – so in der Art. Ich wollte mitspielen.
Eine Jamsession in Düsseldorf mit Gez Varley und Mark
Bell von LFO, die Lothar und ich in London kennengelernt hatten, brachte leider kein brauchbares Ergebnis. Schade, denn ihr Track, der den Namen der Band trägt, ist ein Knaller! Ich wurde ein Fan der Gruppe. Zwei andere Produktionen führten zu Veröffentlichungen: Ich allein wäre nie darauf gekommen, einen Remix von »Planet Rock« zu machen. Doch für Afrika Bambaatas Label Tommy Boy lag das offensichtlich auf der Hand, und binnen einer knappen Woche waren meine beiden Mixes auf dem Weg nach New York. Ein weiteres, ziemlich ausgefallenes Angebot kam vom NME:
Für die Charity-Platte Ruby Trax
, die die britische Musikzeitung herausgeben wollte, sollte jeder eingeladene Künstler von einem UK-No. 1 Hit seiner Wahl einen Remake machen. Irgendwie blieben Lothar, Stefan und ich dann bei »Baby Come Back« von Eddy Grant hängen, übrigens eine Empfehlung von Andy. Unsere Version schaffte es als einziger Beitrag aus Deutschland auf Ruby Trax
. Und SPV packte den Remake dann auch noch auf die CD »Crosstalk«.
Dann saß eines Tages Paul Robb, Chef der amerikanischen Band Information Society, in meinem Düsseldofer Studio. Ihnen war 1988 der Durchbruch mit dem Song »What’s On Your Mind (Pure Energy)« gelungen, der es bis auf Platz 3 der Billboard Hot 100 geschafft hatte. Nun sollte ich zwei Songs für ihre neue Platte produzieren. Im April nahm Kurt Harland Larson, der Sänger der Band, die Vocals für das neue Album in François Kevorkians Axis Studio auf, und ich flog nach New York, um … ja, warum eigentlich? Das machte man halt damals so, um sich kennenzulernen und um die Produktion zu besprechen. Ich nahm die Gelegenheit wahr, um François meine neuen Tracks vorzuspielen und ihn zu fragen, ob er nicht Lust hätte, sie zu mischen. François reagierte sehr diplomatisch. Es ginge leider nicht, weil er mit Ralf und Florian befreundet sei und sich ihnen verbunden fühlt. Gerne hätte ich damals mit ihm gearbeitet, aber ließ es natürlich dabei bewenden. Kein Problem
.
Nur wenig später war ich schon wieder für eine Woche in New York. Doreen D’Agostino hatte für mich während des New Music Seminars einen Platz bei einem Dancemusic-Producer-Panel organisiert, an dem, wenn ich mich nicht irre, Juan Atkins, Kevin Saunderson, Joey Beltram und Todd Terry teilnahmen. Als ich zu ihnen auf die Bühne kam, stand der komplette Saal auf und applaudierte. Auf solch eine »Heldenverehrung« war ich nicht vorbereitet. Das hat mir ziemlich die Sprache verschlagen, muss ich sagen. Nach dem Panel kam ich kaum aus dem Saal, die Leute umringten mich und versuchten, meine Hände zu schütteln, sie dankten mir für meine Musik. Völlig verwirrt war ich, als mich ein Mann aus dem Publikum mit Tränen in den Augen (kein Witz!) fragte, ob er meine Hand küssen dürfe. Durfte er nicht. Für mich war das eine merkwürdige Situation. An ein Feedback dieser Dimension musste ich mich erst noch gewöhnen. Am letzen Tag der Reise besuchte ich einen Auftritt von Underground Resistance im Limelight Club. Der damals 29-jährige Jeff Mills hantierte gekonnt mit einer 909 Drum Machine und den Turntables. Die Vinylplatten, die er nicht mehr benötigte, warf er achtlos hinter sich. Gleichzeitig hielt er schon wieder die nächste in der Hand. Verdammt lässig!
Esperanto
Neben diesen überraschend abwechslungsreichen Aufträgen und weiteren Anfragen verlor ich die Arbeit an meinem eigenen Album nicht aus den Augen. Ein Konzept für ein Album zu haben ist hilfreich, weil dann die Gedanken in eine Richtung gehen und viele andere Dinge nicht mehr relevant sind, man verzettelt sich nicht so leicht. Seit einiger Zeit ging mir das Buch Wir amüsieren uns zu Tode
(1985) von Neil Postman, in dem er die Medien untersucht und kritisch hinterfragt, nicht mehr aus dem Kopf.
Das war mein Ausganspunkt. Postmans »Peek-a-boo«-Welt ist voller Begriffe wie Message, Information, News, Image Politics, Performance, die wiederum bei mir zu Gedankenketten führten. Beispielsweise stieß ich auf die Welthilfssprache Esperanto
, die bereits 1887 erfunden wurde, um allen Menschen eine universelle Sprache zu geben. Sie erinnerte mich an das Geheimnis der Musik und wurde der Titel meines Albums.
Natürlich griff ich beim Komponieren auch auf mein Klangarchiv zurück, fand Rhythmen, Melodien, Harmonien, Textzeilen, mit denen ich irgendwann einmal gearbeitet hatte. So wie den Song »TV«, Jahrgang 1987.
Manchmal half auch der pure Zufall: Als ich bei einem alten Ghettoblaster auf der Suche nach einem Radiosender war, hörte ich plötzlich seltsame Signale. Diese merkwürdigen elektronischen Zeichen waren Radiohörern bekannt als »Wellensalat«, ein wirklich bizarres Gedudel – hervorgerufen durch das sogenannte Eurosignal, ein längst eingemotteter Funkrufdienst, der das untere UKW-Band zur Übertragung nutzte. Ich nahm ein paar von ihnen auf und zerlegte sie in eine Vielzahl von Samples. Das ist der Ausgangspunkt für »Overdrive«. Im Grunde besteht der gesamte Track aus verkurbelten menschlichen Stimmen und Roboterstimmen, einem Elektro-Schlagzeug und eben diesen Eurosignal-Samples, mit denen ich Elektrojazz improvisiere.
Die Lyrics des Albums teilte ich mir mit Lothar und Emil. Andy McCluskey steuerte etwas zu »Show Business« bei.
Alle Tracks durchliefen die Methode der Beta-Versionen, die ich mir damals ausdachte und die ich auch heute immer noch anwende: Zunächst improvisiere ich die ersten Fragmente und Strukturen und versuche, mir das komplette Album vorzustellen. An dieser Stelle im Arbeitsprozess ist wirklich Fantasie gefragt. Dann nehme ich die ersten akustischen Skizzen in einer rudimentären Beta 1-Version auf. Meistens ergibt sich schon ganz am Anfang eine vorläufige Trackliste. Dann arbeite ich mehr oder
weniger gleichzeitig an den Titeln, die dadurch mehrere Generationen von Beta-Versionen durchlaufen. Mit dieser Methode vermeide ich, dass ich mich an einem bestimmten Abschnitt des Albums zu lange aufhalte und den Rest aus den Augen bzw. Ohren verliere. Wenn alle Tracks auf dem Beta-4- oder Beta-5-Level angelangt sind, haben sich musikalischer Zusammenhang, endgültige Trackliste, Tonarten und Tempi wie von selbst entwickelt.
Obwohl ich bei der Organisation meiner Arbeit keinen Ansporn von außen benötige, ließ sich eine Deadline nicht vermeiden. Und so produzierte ich von Dezember 1992 bis Anfang März 1993 das erste Elektric-Music-Album parallel im Heartbeat-Studio Köln und in der Klangwerkstatt. Damals nutzte auch Emil einen Raum der Klangwerkstatt als Atelier. Hier gestaltete er die Cover der Platten und bastelte an Promofilmen. Die erste Idee, eine Weltkarte auf dem Album-Cover abzubilden, hatten wir verworfen. Stattdessen verwendeten wir als Motiv die rot-weiße »Flagge der aufgehenden Sonne« der kaiserlich-japanischen Armee. Vielleicht nicht der beste Einfall aller Zeiten, aber so entschied ich mich halt. Früher dauerte alles eine Ewigkeit, aber bei diesem Album ging alles viel zu schnell.
Auch auf einem anderen Gebiet fing ich an, Erfahrungen zu sammeln: Denn in den nächsten drei Monaten mussten Lothar und ich
Esperanto
in Deutschland promoten. Es war für mich ungewohnt, mit den Medien über meine Musik zu sprechen. Und für die Journalisten war ich ein anonymes Ex-Mitglied einer sonderbaren Band. Das änderte sich im Lauf der Jahre, aber in der ersten Interviewrunde musste ich mich vorstellen und erklären, wer ich bin. Alles in allem lief die Rezeption des Albums und der Single »TV« in Großbritannien wesentlich besser als in Deutschland. Es gelang uns sogar, ein kurzes Interview bei MTV in London zu organisieren. Klar, dass alle Medien Vergleiche zu meiner alten Band zogen, aber häufig nicht zu meinem Schaden. »Mit seiner stilistischen Bandbreite bietet das Album
eine ebenso solide wie erfreuliche Überraschung, ohne die Welt des Synthi-Pops zu sprengen«, so der
Billboard
1
, der
Melodie Maker
sprach von »… fabelhafter Musikalität«
2
, und der
NME
3
bemerkte: »›TV‹ schwebt mit einer melodischen Erhabenheit vorbei.«
Insgesamt motivierten mich die meisten Rezensionen weiterzumachen. Aber eines musste ich zur Kenntnis nehmen: Dem Schatten von Kraftwerk konnte ich nicht entkommen. Er würde mich verfolgen, wohin ich auch gehe. Wenn ich über ihn hinwegspringen wollte, musste ich mir etwas einfallen lassen – mit Sicherheit keine leichte Aufgabe.
Das Schloss
Meine vielfältigen Produktionen und Kooperationen sowie die Arbeit an meinem Debüt-Album nahmen mich in der ersten Zeit viel zu sehr in Beschlag, um mich mit meiner Vergangenheit zu beschäftigen, aber das Thema kam ganz automatisch immer wieder hoch.
Gelegentlich schauten Wolfgang und Emil zur Tür herein. Gerade hatten die beiden damit begonnen, in Sachen Kraftwerk einiges aufzuarbeiten. Dabei ließen sie sich juristisch beraten, sodass inzwischen ein reger Briefwechsel zwischen Anwälten in Gang gesetzt worden war. Damit öffneten sie so etwas wie die Büchse der Pandora. Erst zu diesem Zeitpunkt wurden mir die Konsequenzen klar, die die jahrelange Intransparenz in den Geschäftsbeziehungen und bei den Credits auf den Plattencovern nach sich zogen.
Mein eigener früherer Status als am Umsatz beteiligter freier Mitarbeiter und Co-Autor war offenkundig und vage zugleich. So existierten weder schriftliche Abmachungen über meine verabredete Lizenzbeteiligung noch Verlagsverträge. Aus heutiger
Sicht erscheint mir unser Verhalten fahrlässig. Auch ich wollte nun die Dinge geregelt wissen. Meine Bemühungen, die Angelegenheit auf direktem Weg zu klären, blieben allerdings erfolglos. Also übernahmen unsere Anwälte das Reden.
Während der juristischen Auseinandersetzung erschien im Juni 1991 The Mix.
Das Album mit den Totenmasken-Robotern schaffte es auf Platz 15. »The Robots« – die ausgekoppelte Single – stieg auf Platz 20 der Charts in Großbritannien. Was mit dem Album in den USA passierte, habe ich nie herausgefunden. Ich kaufte mir Album und Single und stellte sie mir ins Regal. Es befanden sich schließlich ein paar »meiner« Tracks darauf. Die Album-Credits waren wie gewohnt kreativ-kryptisch. Aber dass ich noch nicht einmal als Autor auf der CD genannt war, erstaunte mich dann doch. Schließlich wurde mir zugesichert, dass sich bei der Nachpressung der zweiten Auflage von The Mix
die Herren Schneider und Hütter einer Anbringung der Urheberbezeichnungen nicht entgegenstellen würden. Überprüft habe ich das nie. Noch heute verbinden mich mit The Mix
sehr gemischte Gefühle.
Die juristische Auseinandersetzung war langwierig, umfangreich und zermürbend. Etliche Leitz-Ordner wären nötig, um die Korrespondenz zu dokumentieren. Einzelheiten erspare ich mir und den Lesern an dieser Stelle. 1993 nahm der Spuk scheinbar ein Ende: Ralf, Florian und ich unterzeichneten eine Vereinbarung, in der die offenen Fragen geregelt wurden. Nun hoffte ich, dass wieder etwas mehr Ruhe in mein Leben einkehrte.
Ich sollte mich täuschen. Leider kam es zu Nachverhandlungen, die sich noch etliche Jahre hinzogen. Jahre, in denen ich – wie der Protagonist K. in Kafkas Roman Das Schloss
– das Thema nicht ad acta legen konnte.
The Northern Sk
y
Zum Glück existierte auch noch eine andere Welt. Schon früh nach meinem Ausstieg bei Kraftwerk bahnte sich ein beruflicher Kontakt an, der sich zu Freundschaften entwickeln sollte, die bis in die Gegenwart reichen. Mitte 1992 streunte ich auf der Musikmesse Popkomm in Köln herum – zu jener Zeit eine der einflussreichsten Branchen-Treffpunkte für das internationale Musikbusiness und Pflichtprogramm für jeden Musiker. Plötzlich sprach mich jemand von hinten an. Ein exzentrisch aussehender, seltsam gekleideter Mann stellte sich mir mit leichtem englischen Akzent als Mark Reeder vor. Mark erwähnte in wenigen Sätzen die Keywords Manchester, Bernard Sumner und New Order, Johnny Marr und The Smiths – und ihr neues Projekt Electronic. Er fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, die beiden Musiker kennenzulernen.
Das erste Album von Electronic war von vorne bis hinten gefüllt mit brillanten Popsongs. Die Songs lösten bei mir positive Konnotationen aus, alles klang so gekonnt, spielerisch leicht, vertraut, gleichzeitig enthielt die Musik etwas Unbekanntes, was mich neugierig machte. Davon abgesehen wusste ich natürlich auch, wie erfolgreich das Album in England gewesen war. Also gab ich Mark zu verstehen, dass ich es klasse fände, wenn ein Kontakt zustande käme. Dann ging ich weiter auf Entdeckungsreise zwischen den damals noch endlosen Messeständen der Schallplattenlabels.
Und tatsächlich erhielt ich mitten in der Esperanto
-Mixing-Session ein Fax – damals noch der Standard in Sachen schneller Schriftverkehr – von Bernard Sumner aus Manchester: Er und sein Partner Johnny würden gerne mit mir an einigen Tracks für das neue Electronic-Album arbeiten, schrieb er und schlug vor, mich in Düsseldorf zu besuchen. Wir könnten dann das Ganze näher besprechen
.
Bernard und Johnny hatten Ende der Achtzigerjahre das Projekt Electronic gegründet. Bei ihrem gleichnamigen Debut-Album (1991) arbeiteten sie mit Neil Tennant und Chris Lowe von den Pet Shop Boys zusammen. Jetzt sollte ich ihr Partner werden. Es hatte den Anschein, als wollten sie auf diese Weise eine variabele Komponente in ihre Musik integrieren. Und so landeten im April 1993 Bernard Sumner und Johnny Marr auf dem Flughafen Düsseldorf. Als die beiden in mein Auto stiegen – ein silberner Golf C mit sagenhaften 40 PS –, sah ich aus den Augenwinkeln, wie Bernard mein »historisches« Fahrzeug interessiert betrachtete. Wir fuhren geradewegs in die Klangwerkstatt. Ich zeigte ihnen mein Studio, und wir redeten und redeten. Ein ähnlicher Sinn für Humor ließ sich schon in Ansätzen erkennen, und die Dreiecks-Kommunikation war eine Art des Gedankenaustauschs, die mir bekannt vorkam. Im Gespräch unter Musikern offenbart sich in der Regel schnell, ob es Sinn macht, miteinander zu arbeiten oder nicht. Als die beiden am nächsten Tag wieder nach England aufbrachen, war unsere erste Writing Session beschlossene Sache.
Und dann war es in der letzten Oktoberwoche 1993 so weit: Zum ersten Mal flog ich nach Manchester. Bei der Begrüßung brachte Bernard ein »Welcome to England« hervor. Das klang irgendwie feierlich, aber gleichzeitig auch ziemlich lustig. Johnny lebte damals am nördlichen Stadtrand in der Grafschaft Cheshire. Im Basement seines Hauses befand sich sein Tonstudio. Dort lernte ich Andrew Berry kennen, einen langjährigen Freund von Johnny. Eigentlich war er Frisör, aber im Augenblick hatte Andrew die Position des Studiomanagers inne. »Ich war schon in Düsseldorf, im Kling Klang Studio«, ließ er mich wissen. Fast hätte ich es vergessen, aber Johnny erinnerte mich daran, dass ich mir zu Beginn unserer Session seine Martin-Acoustic-Gitarre, die im Studio herumlag, griff und »Alice’s Restaurant Massacree« von Arlo Guthrie zupfte. Ich glaube, meine kleine Einlage brach
das letzte Eis. Irgendwann ging’s los mit der Session, einfach so. Anfangs war der Producer Owen Morris mit von der Partie. Aber nur wenig später wechselte er zu einer unbekannten Band aus Manchester mit dem Namen Oasis. Das ist jedoch eine andere Geschichte …
Damals arbeiteten die Jungs bereits mit einem Mac. Aber obwohl auch hier immer nur eine Person die Computermaus in der Hand hielt, kam es nicht zu einem Verkehrsstau. Der Computer hatte die Rolle eines Aufnahmemediums – nicht mehr und nicht weniger. In der Vor-Computer-Zeit starrte man ja während einer Aufnahme auch nicht stundenlang auf das Magnettonbandgerät. Der Focus lag bei unseren Writing Sessions eindeutig auf der Musik und nicht auf dem Aufnahmemedium. Wir sahen uns an, sprachen miteinander und musizierten.
Offenkundig waren Bernard und Johnny ziemlich erfahrene Songwriter, die wussten, wie man Hits schreibt. Aber da war noch etwas anderes: Im Englischen gibt es den Begriff »Leftfield thinking«, der sich vielleicht übersetzen lässt mit »verrücktes, kreatives Denken« oder »über Grenzen hinausführendes Denken« – diesen Begriff bringe ich seitdem immer mit den beiden in Verbindung.
Ich hatte noch das fantastische »Get The Message« vom ersten Electronic-Album im Ohr, aber Johnny spielte anfangs nur wenig »normale« Gitarren. Stattdessen experimentierte er mit einer Auswahl von Gitarrensynthesizern, Pre-Amps und anderen elektronischen Zauberkästen. Er hatte keinerlei Berührungsängste mit moderner Technik, sondern war im Gegenteil ziemlich fit mit Computer, Sampler und Synthis, was ich sehr verblüffend fand. Denn The Smiths waren ja nicht gerade wegen ihres Elektrosounds berühmt geworden. Auch Bernard schraubte bei unseren Sessions an Computer, Synthis und Samplern herum. Ich setzte mich ans Keyboard und spielte ein paar Motive oder Akkorde, die ich im Kopf hatte, oder gab ein paar Elektro-Beats zum
Besten. Es war ein Herantasten: Improvisation oder kompositorisches Handwerk – je nachdem, wie man es sieht. Das Wichtigste war, dass wir nicht an der ersten Idee kleben blieben, die auftauchte. Auf der DAT-Kassette stehen die herrlichsten Namen der Welt, die jeder Musiker so oder so ähnlich auf Session-Tapes schreibt: »Guitar Song«, »New Track Bass Tech«, »Hacienda Disco Track«, »High Energy«.
Zwischen 1993 und 1995 flog ich für insgesamt sieben Sessions nach England. Dabei fühlte ich mich völlig unbefangen, die dogmafreie Kommunikation und das Leben der Familien Sumner und Marr schienen mir ganz selbstverständlich mit dem Leben eines Musikers in Einklang zu stehen.
Im Juli 1994 trafen Bettina und ich Mark Reeder, Bernard und seine Frau Sarah in Berlin: Zusammen mit fast einer Million Zuschauern feierten wir die Love Parade auf dem Kurfürstendamm. Irgendwie verloren wir unser Zeitgefühl und beendeten den Tag am nächsten Morgen um 8 Uhr im legendären Club Tresor. Schon am nächsten Tag saßen Bernard und ich wieder in einer Maschine nach Manchester. Am Ende dieser Session fuhren wir gemeinsam nach London, um Neil Tennants 40. Geburtstag zu zelebrieren. Als Erstes verriet mir Neil, dass »Computer Love« seine Lieblingsnummer von Kraftwerk wäre. Er würde nicht verstehen, warum daraus kein Riesenhit geworden ist. Der Kult-Journalist und Autor John Savage saß in meiner Nähe und sah in seinem Samtjacket aus, als wäre er ein Mitglied der Kinks. Früh am Morgen landeten wir alle in einem Hotelzimmer – kreuz und quer verteilt – und unterhielten uns in einer Art »Sunday Morning«-Stimmung. Dann holte mich, bevor ich ein Auge zugemacht hatte, ein mittelprächtiger Hangover ein. Ich bereue nichts!
Unsere nächste Writing Session in Cheshire im November sollte drei Wochen dauern. Während dieser Session erschien The Best Of New Order.
Zum Release nahm mich Bernard mit auf
eine New-Order-Party und stellte mir Peter Hook und Stephen Morris vor. Offensichtlich hatte dieses »Best Of« eine positive Wirkung auf die Gruppendynamik von New Order. Die Platte führte, so schien es mir, alle Beteiligten nach einer längeren Auszeit wieder zusammen.
Jeder im Business kennt Peter Gabriels Real World Studios, den Produktions-Komplex in Box, Wiltshire, im Südwesten Englands. Die Klienten können dort wie in einem Hotel übernachten, ihre Mahlzeiten in einem Speisesaal einnehmen und auf dem Gelände herumstreifen, Schwäne und Gänse im direkt anschließenden By Brook
beobachten und sich dabei vom Aufnahmestress erholen. Im Speisesaal begegnen sich die unterschiedlichsten Produktionsteams, Bands und andere, die involviert sind.
Im Sommer 1995 hatten Bernard und Johnny dort einige Recording Sessions. Neben den Aufnahmen ist mir die Episode in Erinnerung geblieben, wie ich mit Bernard in seinem Sportwagen über die typischen Countryroads zu einer Therme fuhr, um dort ein paar Bahnen zu schwimmen. Ich überlege gerade, ob Bernard beim Schwimmen nasse Haare hatte? Im Anschluss daran lagen wir mit dem Rücken am Beckenrand, unsere Arme draußen aufgelegt, und schauten versonnen durch die großen Fensterscheiben in die Landschaft von Bath and North End Somerset.
Der Juli 1995 war schon eine verdammt harte Zeit … Aber klar, auch die Aufnahmen waren cool. Irgendwann schaute Grandseigneur Peter Gabriel vorbei, wechselte ein paar Worte mit uns und verschwand dann leisen Schrittes. Nach der Session verbrachten wir ein Wochenende in Manchester, und ab Mitte Juli war Electronic im Metropolis Studio in London Chiswick gebucht. Interessanterweise lautet die Adresse Metropolis, The Power House, was darauf schließen lässt, dass es sich bei dem Gebäude um ein ehemaliges Kraftwerk handelt. Okay, das nur am Rande. Es macht sich einfach gut an dieser Stelle, oder?
Ich erinnere mich, dass Johnny von Noel Gallager besucht
wurde und ihm ein paar Tracks vorspielte. Die beiden unterhielten sich auf »Mancunian« – für mich eine Fremdsprache aus einer anderen Galaxis. Im Café des Studios konnte ich gut Leute treffen. Ich freute mich, als Michael Mertens und Claudia Brücken auf einen Drink vorbeischauten. Auch mit Andy McClusky, der sich gerade in London aufhielt, tauschte ich mich dort aus. Brian May tauchte auf, und an einem Wochenende trafen wir Neil Tennant wieder und zogen mit ihm in »einer dieser Nächte« durch die Clubs von Soho. Das volle Programm! Im August erschien The Rest Of New Order
, ein Remix-Album, und Ende des Jahres arbeiteten wir in einer letzten Session an einigen Electronic-Titeln wieder in den Real World Studios in Bath.
Als Bernard und Johnny ihr Album 1996 in Hamburg promoteten, feierten wir den Release. In diesem Jahr sollten die ersten Singles »Forbidden City« und »For You« auf Platz 14 bzw. 16 und das Album auf Platz 8 der UK-Charts steigen. Für mich war das ein großartiges Gefühl, aber ich wusste, dass die beiden sich bereits Gedanken über ihr nächstes Album machten. Am meisten bedauere ich, dass wir drei nie live gespielt haben. Seit jenen Tagen in England betrachte ich Bernard und Johnny als meine Freunde, und dass auch sie mich unabhängig voneinander als ihren Freund bezeichnen, bedeutet mir viel.
Hamburg calling
Während ich fast drei Jahre lang zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich pendelte, lief meine Arbeit in Düsseldorf natürlich weiter. Musik live zu spielen entspricht dem vergänglichen Wesen der Musik. Wie das Leben ereignet sich Musik im Fluss der Zeit. Weil sich die Zeit nur in eine Richtung, nämlich vorwärts bewegt, lässt sie sich nicht wiederholen. Aus diesem Grund ist eine Live-Aufführung einzigartig und die ursprünglichste
Form, Musik zu erleben. Bei einer Musikaufnahme wird ein Moment, ähnlich wie beim Film, auf einem Medium fixiert. Dieses Zeit-Dokument kann man sich immer wieder anhören. Wie wir wissen, kann dieses Kunstprodukt von erstaunlicher Aussagekraft sein, aber – und das liegt in der Natur der Sache –, es ist nun mal etwas anderes als das lebendige Wagnis eines Konzerts.
Damals wollte ich unbedingt wieder live spielen. Bereits Anfang 1994 hatte sich ein Auftritt im Pariser Bataclan ergeben. Der Sender Arte veranstaltete ein Programm, bei dem wir die Gelegenheit bekamen, »TV« live vorzutragen. Lothar sang die Leadvocals, Ralf Beck – ein junger Musiker, der bereits mit Lothar gearbeitet hatte, spielte Keyboards. Stefan fungierte als Technischer Leiter. Wir spielten zu einem Playback, auf dem das Schlagzeug, der Bass und die TV-Sprecher aufgezeichnet waren. Währenddessen bemalte Emil am Bühnenrand eine Leinwand von hinten mit dem Fernseh-Testbild, das auf dem Cover der Single abgebildet war. Leider wurde er während des Stücks nicht fertig, und es blieb unklar, was er da eigentlich machte.
Im Frühjahr und Sommer 1994 spielten wir mit Elektric Music ein paar Gigs in Skandinavien. Aber irgendetwas stimmte nicht mit uns. Lange überlegte ich, was es sein könnte. Schließlich wurde mir klar, dass Lothar, Ralf Beck und ich keine Band sind und auch niemals eine sein würden. Emil am Projektor und Stefan am Mixer konnten das auch nicht retten. Wir hatten uns nicht viel zu sagen. Das ganze Projekt, erkannte ich damals, war eine Illusion. Offenbar hatten alle Beteiligten eine andere Vorstellung von dem, was es darstellen sollte. Wie heißt es doch immer so schön: Wir zogen nicht an einem Strang. Und so löste sich während des Arvika Festivals in der Helligkeit der schwedischen Sommernacht mein angestrebter Pluralismus in Luft auf. Wieder in Düsseldorf transportierte ich eigenhändig mein komplettes Equipment aus der Klangwerkstatt in meine Wohnung. Dort saß
ich zwischen all meinen Musikmaschinen und überlegte, wie es weitergeht.
Es waren unruhige Zeiten. Bettina hatte inzwischen die Redaktionsleitung einer Stadtzeitschrift in Köln übernommen und pendelte täglich zwischen Köln und Düsseldorf. Das war zwar keine große Strecke, aber auf Dauer eher nervend. Wir stellten uns damals die Frage, was uns eigentlich noch in Düsseldorf hielt. Wir wollten weg. Aber wohin? Köln war natürlich im Gespräch, aber ein so großer Umzug in die nur einige Kilometer entfernte Domstadt erschien uns eher unspektakulär, und so kam Hamburg ins Spiel. Nach einem Testbesuch war es bald beschlossene Sache: Als Bettina und ich im April 1995 heirateten, hatten wir uns entschieden, unseren Wohnsitz nach Hamburg zu verlegen. Denn in der Hansestadt befanden sich damals die großen Zeitschriften- und Musikverlage, der NDR und die großen Schallplattenfirmen. Hamburg war Mitte der Neunzigerjahre die Medienhauptstadt Deutschlands schlechthin. Und so machten wir uns im Juni, zum Ende meiner Sessions mit Electronic, mit Sack und Pack auf den Weg dorthin.
Unsere erste Wohnung befand sich direkt an der Elbchaussee im Stadtteil Ottensen. Die typische Backsteinvilla aus der Jahrhundertwende hatte eindeutig Stil. Wir lebten direkt an der Elbe, konnten das leise Quietschen der Lastkräne im Hafen und das tiefe Tönen der großen Schiffe hören. Größe, Weite. Das Tor zur Welt. Die Hanse. Solche Klischees halt. Die Stadt kannten wir nicht, und so versuchten wir wie die Kinder, das so viel größere Terrain zu erkunden. Es machte einfach Spaß. Reeperbahn, Starclub, eine Spritztour zur Ostsee oder an die Nordsee nach Sylt.
Übrigens, die spürbare Zurückhaltung der Hamburger empfanden wir nie als störend oder unangenehm. Und das als Rheinländer. Für uns war Hamburg ein richtiger Standortwechsel, auf vielen Ebenen eine Befreiung. Das Leben in dieser anglophilen Stadt ist großartig.
Gitarre im Kop
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Spätestens seit ich in Cheshire auf Johnnys schwarz-weißer Rickenbacker geklimpert hatte, verbanden sich meine Erlebnisse in England mit den Klängen der Vinyl-Schallplatten, die Lance Corporal Peter Hornshaw viele Jahre zuvor in mein Kinderzimmer gebracht hatte. In mir hatte sich etwas in Gang gesetzt. Genau wie sich der Umzug von Düsseldorf nach Hamburg positiv auf meine seelische Balance auswirkte, wollte ich auch musikalisch für eine gewisse Zeit meinen Wohnort wechseln und ein Album produzieren, das den Klang meiner Kindheit enthielt.
Etwa zur gleichen Zeit schlug mir mein Manager Stefan vor, die schwedische Band The Mobile Homes zu produzieren, für die er einen Record-Deal bei SPV organisiert hatte. Hans Erkendal, Per Liliefeld, Andreas und Patrik Brun waren im April 1992 in einem Campingwagen von Stockholm nach Düsseldorf gereist, um in der Klangwerkstatt einen Song aufzunehmen. Seitdem waren wir in Kontakt geblieben. Natürlich wollte ich mein Album realisieren, aber die Schweden zu produzieren wäre sicher auch eine interessante Aufgabe. Die Frage war, ob es machbar wäre, an zwei Schallplatten gleichzeitig zu arbeiten. Die Mobile Homes waren allerdings eine Elektro-Band. Ich konnte mich immer schon für die unterschiedlichsten Arten von Musik begeistern, aber ich hielt mich nicht für schizophren genug, gleichzeitig elektronische Musik und Gitarrenpop zu produzieren. Deshalb beschloss ich ihnen vorzuschlagen, ihren Sound ebenfalls etwas mehr in Richtung Gitarrenpop zu verändern. Das schien okay zu sein. Ich weiß wirklich nicht, was mich damals geritten hat, aber ich nahm das Angebot an.
Ganz allein war das allerdings nicht zu schaffen. Über einen Freund lernte ich den in Frankfurt lebenden Markus Löhr kennen, der sich bereit erklärte, mir für mein Album als Co-Producer zur Seite zu stehen. Markus war in den Achtzigerjahren Teil des
erfolgreichen NDW-Trios Hubert Kah und hatte sich als Songwriter und Musik-Produzent einen Namen gemacht. Es traf sich gut, dass er auch ein sehr versierter Gitarrist ist. Als ich ihm mein Vorhaben erklärte, wunderte er sich zunächst, ließ sich aber dennoch darauf ein. Markus lieh mir eine seiner E-Gitarren, auf der ich komponierte und Layouts machte. Die meisten Soli und Gitarrenparts spielte er dann irgendwann ein. Im Computer ließen sich die Tricks der Magnettonband-Ära der Sechziger erstaunlich gut reproduzieren. Auch das Schlagzeug »spielte« ich mit der Computermaus, bis es klang, als hätte ich es live getrommelt.
Der erste Sommer in Hamburg war großartig. Die gefühlte Seeluft, der blaue Himmel, das Licht, die Schiffe, die Möwen, der Klang des Hafens … in dieser Stimmung schrieb ich einen Song für das neue Album der Mobile Homes: »You Make The Sun Shine«. Ich denke, die Atmosphäre dieses Sommers übersetzte sich in die Musik.
Danach versank ich bis zum Hals in einer 18-monatigen Kompositions- und Produktionsphase, in der ich zwischen Hamburg und Frankfurt pendelte und an deren Ende die Mixing Sessions in den Düsseldorfer Skyline Studios standen. Erstmals arbeitete ich dort mit Mathias Black. Mathias – ein paar Jahre jünger als ich – hatte in den Achtzigerjahren an der Fachhochschule in Düsseldorf Bild- und Tontechnik studiert und sein Studium mit dem Diplom-Ingenieur abgeschlossen. An der Robert-Schumann-Hochschule verpassten wir uns um ein paar Jahre. Zu seiner Ausbildung gehörte natürlich auch Instrumentalunterricht. Ich war überrascht, dass auch er bei meinem ehemaligen Lehrer Ernst Göbler Schlagzeug studiert hatte. Wir waren plötzlich im gleichen Film. Daraus ergab sich natürlich jede Menge Gesprächsstoff und es entstand sofort eine Nähe.
Darüber hinaus entdeckte ich rasch, dass Mathias sich im kompletten Spektrum der Musik auskannte. Ob er eine Band im Proberaum mit abenteuerlichem Equipment aufnahm, eine 48-
Track-Produktion auf einer High-End-Konsole mischte oder einen Remix mit ein paar Samplern und einem Computer realisierte – Mathias passte sich der jeweiligen Situation an und regelte die Tontechnik mit der gleichen Kompetenz und Ruhe, die man von einem Flugzeugkapitän einer großen Passagiermaschine kennt. Da wir eine ähnliche Veranlagung haben, musikalische Inhalte unabhängig vom Genre oder persönlichen Geschmack als Konstruktion sehen zu können, fällt es uns nicht schwer, Musik zu analysieren und über ihre Elemente zu sprechen. Dabei löschen sich unsere Meinungen nicht gegenseitig aus – wie es gelegentlich in egomanischen Studio-Kämpfen vorkommen soll –, sondern sie ergänzen und verstärken sich. Wenn wir uns im Tonstudio zusammentun, bewegen wir uns auf gleichem Niveau, und das Ergebnis kann sich hören lassen. So wurde Mathias in den folgenden Jahren mein engster und wichtigster Mitarbeiter.
Im Rückblick erscheint es mir so, als handelt es sich bei der Mega-Produktion von The Mobile Homes
und Electric Music
nicht um 23 Songs, Album-Mixe, Singles-Mixe, Remixe und zusätzliche Versionen, sondern um einen »Drone«, einen langen durchgehenden Sound, der alle Töne, Geräusche und Stimmen enthält, die in diesem Zeitfenster erzeugt wurden. Beide Alben erschienen fast gleichzeitig im Sommer 1998 bei derselben Plattenfirma. Offensichtlich sahen dort alle in »You Make The Sun Shine« den Song mit dem größten Hitpotenzial, dafür wurde auch ein Video produziert. Für mein eigenes Album fehlte dann allerdings ein Budget für ähnliche Werbemaßnahmen. Electric Music
erreichte einige Printmedien, die entweder verstört auf den unerwarteten Gitarrensound reagierten oder den Pop-Charakter der Songs lobten, aber ohne eine Video-Präsentation bei MTV fand man damals nicht statt. Im Nachhinein ist man ja bekanntlich immer klüger, aber eins war ziemlich schnell klar: Die gleichzeitige Veröffentlichung dieser beiden ähnlichen Produkte, die auch noch
beide mit mir zu tun hatten, war verwirrend für die Plattenfirma, den Einzelhandel, die Medien und zuletzt, aber entscheidend, für die Fans – die außerdem mit mir eher Elektroklänge in Verbindung brachten. Mein Gitarren-Experiment hatte nicht funktioniert. Offenbar war ich als Person viel zu unbekannt, als dass sich irgendjemand für die Tiefen meiner Klangbiografie interessierte. Mea culpa.
Roberto in play
Im Mai 1998 zogen Bettina und ich in den Hamburger Westen. Das hatte vor allem einen praktischen Grund: Die Sessions im Düsseldorfer Tonstudio waren für mich nicht nur anstrengend, sondern auch ziemlich kostspielig geworden. Ein eigenes Studio einzurichten war die logische Konsequenz. Denn nur in meinen eigenen Produktionsräumen würde ich ökonomisch arbeiten können. Wir kauften ein Haus am Stadtrand, in dessen Basement ich mir ein Tonstudio einrichtete – in dem ich übrigens auch dieses Buch geschrieben habe.
Und tatsächlich lief das Business langsam an. Nach unserem Umzug nach Hamburg hatte sich Stefan Ingmann von meinem Management zurückgezogen. Mein neuer Hamburger Manager Jens-Markus Wegener brachte mich damals mit einigen Plattenfirmen in Verbindung, u.a. dem Sony-Label Epic. Über diesen Kontakt lernte ich den in München lebenden österreichischen Aktionskünstler Wolfgang Flatz kennen, für dessen Debutalbum ich einige Songs komponierte und mit ihm an den Lyrics arbeitete. Das Schreiben und die Vor-Produktion des Albums beschäftigte mich einige Monate im Jahr 1999. Love And Violence
und die Single »Wunderkind« erschienen im Sommer 2000.
Parallel dazu kamen immer mehr Anfragen für Remixe und Demo-Produktionen auf meinen Tisch, von denen ich einige
zusammen mit Markus Löhr oder dem Hamburger Musikproduzenten und DJ Gerret Frerichs realisierte, beispielsweise einen Remix der Single »Little Computer People« des Elektro-Künstlers Anthony Rother aus Frankfurt. Der Track war wirklich gut, und ich arbeitete drei Tage mit Gerret an dem Remix. Das Basteln machte zwar Spaß, aber es befriedigte mich nicht. Nach dieser letzten intensiven Phase im Record-Business wurde mir klar, dass es niemals meine zweite Natur werden wird, die Musik anderer Künstler zu remixen oder zu produzieren. Von jetzt an würde ich mich nur noch auf die Musik konzentrieren, die aus meinem Kopf kommt.
Völlig unerwartet rief mich der Kölner Journalist und DJ Robert Baumanns an, den ich im Rahmen der Promotion von Electric Music
kennengelernt hatte. Er fragte mich, ob ich nicht im August 1999 auf einem ziemlich großes Musikfestitval in Köln auftreten wolle. Ich hatte damals ewig nicht mehr live gespielt und auch keine Band – und so schlug Robert vor, dass ich einfach als DJ auftreten könnte. Ich als DJ? Darauf wäre ich im Traum nicht gekommen. Am Ende sagte ich unter der Bedingung zu, dass Robert mich unterstützt. Das ging klar, und Robert bot mir an, ihn zukünftig Roberto zu nennen – genau wie es Karlheinz Stockhausen tun würde. Stockhausen? Langsam kam heraus, dass Robert mit dem genialen Komponisten tatsächlich befreundet war, nachdem er ihn einmal interviewen konnte.
Also legte ich am 21. August 1999 auf dem Kickzone Festival im Müngersdorfer Schwimmstadion zu Köln mein erstes DJ-Set auf – zusammen mit Roberto natürlich. Ich erinnere mich an ein großes Publikum, eine Menge Applaus und an die immense Freude, die Roberto und ich hatten. Es war sofort alles gut zwischen uns. Als wir die Bühne verließen, war mir klar, was ich lange vermisst hatte und dass ich wieder live auftreten musste. »Roberto«, schrie ich ihm lachend ins Ohr, »das war bestimmt nicht das letzte Mal, dass wir was zusammen machen!« Und in
der Tat war das der Beginn unserer musikalischen Zusammenarbeit, die seit dieser Zeit andauert und aus der sich eine unerschütterliche Freundschaft entwickelt hat.
Live
Obgleich die elektronische Musik mehr oder weniger einer allumfassenden DJ-Kultur Platz gemacht hatte und das Kuratieren von Musik – auch wenn es live geschah – allgemein als Musizieren verstanden wurde, konnte ich mich nicht von der altmodischen Vorstellung eines Musikers lösen, ein Instrument spielen zu wollen. Es gab und gibt zwar immer noch überzeugende ökonomische Gründe, dem Publikum aufgezeichnete Musik »vorzuspielen«, aber ich suchte damals nach einem Kompromiss, der das alte Konzept einer musikalischen Performance mit dem eines DJs verband. Ich kannte zwei Beispiele, die ich für eine geglückte Synthese hielt: Jeff Mills gilt eigentlich als DJ, aber er macht mit zwei, drei Plattenspielern, Drum Machine und einigen anderen Geräten eine Performance, die auch für einen traditionellen Musiker keine Wünsche offenlässt. Und bereits 1981 war ein paar Herren aus dem Rheinland das Zusammenspiel von Mensch und Maschine schon mal ganz gut gelungen.
Während ich noch über eine Live-Strategie nachdachte, erreichte mich 1998 das Angebot von Warner Special Marketing, mit dem Kraftwerk-Track »Tour de France« an einer Compilation-CD teilzunehmen, die anlässlich der Tour de France vom 11. Juli bis 2. August 1998 erscheinen sollte: 21 Racing Tracks – Tour de France
. Mir wäre es vorher nie in den Sinn gekommen, einen Kraftwerk-Song aufzunehmen, aber jetzt sah ich es im wahrsten Sinne des Wortes als eine sportliche Herausforderung. Und schon verschwand ich in meinem Studio und nahm mein Atmen und Stöhnen und das Geräusch des Leerlaufs meines
Rennrades auf. Für die Compilation bekam der Remake von den Marketing-Menschen den Namen »Tour de France ’98« verpasst.
Anlässlich der Veröffentlichung gab es dann mal wieder ein Lebenszeichen meiner früheren Kollegen: ein ungefähr drei Meter langes Anwaltsfax im Auftrag der Firma Kraftwerk. Offensichtlich war das von Warner benutzte »Ex-Kraftwerk« neben meinem Namen ein Problem für sie. Nicht aber für mich, denn ich hatte das weder veranlasst, noch wusste ich davon, und so leitete ich den Schrieb an Warner Special Marketing weiter. Gehört habe ich nichts mehr zu diesem Thema.
»Tour de France« im Computer zu programmieren war natürlich nicht mehr als Routine. Denn um Einsprüche der Mitautoren zu vermeiden, musste ich mich detailgenau an unser Original halten. Die rein handwerkliche Arbeit an dem Track setzte dennoch etwas in mir in Gang. Plötzlich stand die Frage im Raum: Wäre es eigentlich legitim, das Kraftwerk-Repertoire aufzuführen? Schließlich spielten Ralf und Florian ja auch unsere gemeinsam komponierten Songs, obwohl ich die Gruppe verlassen hatte. Gleichzeitig dachte ich an eine mögliche visuelle Ebene, ohne dabei einen exakten Plan zu verfolgen. Über meinen Musikverlag ließ ich für den Fall der Fälle eine zentrale Frage rechtlich prüfen: Darf ich »meine« Kraftwerk-Songs zusammen mit selbstproduzierten Filmen live aufführen, oder würden während einer solchen Performance eventuell Rechte verletzt weren? Das sei völlig unbedenklich, lautete die Antwort. Gut. Jetzt konnte ich weiter in diese Richtung denken.
Also begann ich von Herbst 1999 bis zum Frühjahr 2000 das Repertoire zu programmieren. Den authentischen Klang herzustellen war für mich kein Problem, denn ich hatte ja bei seiner Entstehung mitgewirkt und besaß außerdem die meisten Originalgeräte.
Im Grunde folgte ich wieder der Aufführungspraxis von Live-Interpretation und Playback, für die sich in den Anfängen
der Musique concrète der Begriff »Musique mixte« etabliert hatte. Ich ging tatsächlich von den Originalversionen aus, die ich übrigens immer noch für die besten halte. Die Alben Die Mensch-Maschine
und Computerwelt
bildeten den Kern meiner Auswahl – und ich spielte beide Alben vollständig ein. Ferner aus der Techno Pop
-Phase »Tour de France« und »Der Telefon Anruf.« Da ich bei »Trans Europa Express« und »Spiegelsaal« irgendwie meine Finger drin gehabt hatte, bastelte ich auch an diesen beiden Tracks herum. Um die starre Berechenbarkeit der Form unserer Strukuren aufzuheben, verzichtete ich dort, wo es mir sinnvoll erschien, beim Programmieren auf Wiederholungen von Strophen. Ich kürzte unnötig lange Passagen und transponierte beispielsweise »Computerliebe« in eine Tonart, die meiner Stimmlage mehr entspricht, schaffte Überleitungen zwischen den Stücken und vieles mehr. Als Medium für die unterstützenden Tracks der Live-Elektronik-Konzerte wählte ich einen digitalen 16-Spur-Harddisc-Recorder, auf dem ich auch mein letztes Album aufgenommen hatte. Mathias, der ebenfalls eine Maschine der gleichen Bauart besaß, organisierte die Ordnung der Tonspuren und übernahm den tontechnischen Teil der Aufnahme.
Über mein Management lernte ich in diesem Zeitraum eine Gruppe Medienkünstler kennen, die sich den programmatischen Namen
Bauhouse
gegeben hatten. DJ Clemens Wittkovski und die beiden VJs
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Fabian Grobe und Alexander Koch verknüpften elektronische Tanzmusik – House, Dub, Acid – mit einer sehr rhythmisch geprägten visuellen Ebene. Wir hatten große Lust, etwas zusammen auf die Beine zu stellen. Die Jungs organisierten ein paar Gigs in Leipzig, Dresden und Berlin. Während ich meine Live-Elektronik-Nummer abzog, exerimentierte Fabian mit unterschiedlichsten Filmsequenzen zu meinen Tracks. Ich staunte nicht schlecht, welchen enormen Aufwand sie mit ihren Computerterminals und ihrer selbst geschriebenen
Software betrieben. Das Interessante an Fabians Performance war, dass er keine Filme zur Musik abspielte, sondern wie ein Jazzmusiker mit Filmsequenzen improvisierte. Diese visuelle Musik begeisterte mich über alle Maßen. Natürlich hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie man sie herstellt, aber ich legte einfach los, beschaffte mir die nötige Hardware wie drei Videorecorder, zehn Second-Hand-Fernseher unterschiedlichster Größe, eine Videokamera und einen Videomischer. Ja, es waren mühevolle Tage, an denen ich versuchte, die Komponenten miteinander zu verbinden und zum Laufen zu kriegen. Oft half mir nur eine Standleitung nach Düsseldorf, wo mir Mathias mit seiner technischen Kompetenz auf die Sprünge half.
Da ich keine Software zum Editieren besaß, filmte ich längere Sequenzen wie beispielsweise das Fernsehprogramm, Lichterketten, Bilder oder Verkehr, mischte verschiedene Quellen und nahm sie wieder mit meiner Kamera auf. Mit dem Videomixer ließen sich Splitscreens und digitale Effekte erzeugen. Interessant: Wie in der elektronischen Musik stellten sich prompt Artefakte – durch Störsignale zufällig generierte Bilder – ein, die in das Material einflossen. Diese Experimente waren spannend, und schon bald stapelten sich über hundert VHS-Kassetten und mindestens ebenso viele DV-Kassetten in meinem Aufnahmeraum. Doch ich brauchte Unterstützung. Über eine Empfehlung lernte ich den Artdirektor Karsten Binar kennen, der damals beim WDR für das Fernsehen arbeitete. Es gelang mir, ihn davon zu überzeugen, für ein paar Nummern meines zukünftigen Programms Visuals zu produzieren. Für den Song »TV« drehte er beispielsweise einen längeren Loop mit Testbildern, für »Metropolis« ein Autobahnkreuz, für »Numbers« … na klar: Zahlen in allen erdenklichen Bewegungen. Karsten sollte, so war meine Idee, bei unseren zukünftigen Live-Shows von der Bühnenseite aus die Videos zur Musik synchronisieren.
Dann war es so weit. Am 31. Mai 2000, meinem 48. Geburtstag,
hatten wir unser erstes offizielles Booking: Das Electronic Beats Festival im Palladium, Köln. Ganz nebenbei erfuhr ich, dass das gesamte Programm von MTV2 live übertragen wurde: von Null auf Hundert direkt bei der Premiere.
Als wir mittags im Venue eintrafen, war die weiße Farbe mit dem Schriftzug BARTOS auf unseren Flightcases noch nicht ganz trocken. Erst am Morgen hatte ich sie noch schnell mit einem Farbroller und einer Schablone beschriftet. Vor der Phalanx der Cases auf der Bühne fühlte ich mich unsicher. An meinen eigenen Namen als Gruppen- und Produktnamen musste ich mich noch gewöhnen. Wir waren im Line-up des Festivals natürlich eine kleine Nummer und hatten demzufolge keine Priorität beim Soundcheck. Bartos, welcher Bartos? Souverän ignorierte uns der Bühnenmanager. Es gelang uns immerhin, zwei, drei Songs zu testen. Róisín Murphy, damals noch mit ihrer Band Moloko auf dem Festival, applaudierte vom Balkon aus, als ich mit dem Düsseldorfer Musiker und Toningenieur Dave Anderson, den ich als Keyboarder für den Live-Auftritt gewinnen konnte, »Computer Love« anspielte. Irgendwann danach brach die Crew des Festivals einfach den Soundcheck ab. Danke.
Für die visuellen Loops standen uns nur ein paar große Fernseher zur Verfügung, die einsam irgendwo herumstanden, als hätte eine Spedition vergessen, sie dort abzuholen. Mit mulmigem Gefühl standen wir schließlich im Fokus der Kameras wie festgenagelt hinter den Keyboards auf der Bühne und legten mit unserem Set los: »Numbers«, »Computer World«, »Metropolis«, »Home Computer«, »TV«, »Neon Lights«, »The Model«, »Computer Love«, »The Robots«.
Der erste Gig war für mich eine kalte Dusche. Aber zum Glück folgten die nächsten Bookings in Riga und auf dem Arvika Festivel in Schweden, die beide viel besser funktionierten – abgesehen davon, dass es in Schweden im Sommer einfach nicht dunkel wird und die Filme fast unsichtbar blieben … Aber trotzdem, ir
gend etwas stimmte noch nicht auf der Bühne. Es brachte nichts, wenn Karsten von der Seite der Bühne wie ein Bildtechniker beim Theater die Filme steuerte. Nein, er musste für das Publikum sichtbar sein. Also wählte ich für die Visuals die Form eines Triptychons und platzierte vor jeder der drei Leinwände einen Akteur: Dave links mit Keyboard und Vocoder, ich selbst ebenfalls mit Keyboard in der Mitte, und auf der rechten Seite konstruierte ich für Karsten einen Arbeitsplatz, der mit Tisch, Mischpult und Kontrollmonitoren für die Zuschauer eine ähnliche Atmosphäre wie die Bildregie eines Fernsehstudios vermittelt. Das Publikum sollte die Kontrollmonitore sehen und dem Mischen der Medien folgen. Karsten brachte jetzt neben seiner Kompetenz auch seinen Laptop plus einer professionellen Videoedit-Software mit an seinen neuen Medienarbeitsplatz. Das war’s, wir hatten unser Setup.
Visuelle Musik
Früher hatte ich den Rhythmus von bewegten Bildern nie bewusst wahrgenommen. Bei Kraftwerk war die visuelle Ebene zwar wichtig, aber eher im Sinne einer Kulisse, als Bestandteil eines szenischen Raums. Eine wirkliche Interaktion von Bild und Ton hatte es nicht gegeben. Erst als ich selbst zur Musik zwischen zwei Bildquellen umschaltete oder den Fader hin und her bewegte, um weich zu überblenden, lernte ich, welche Kraft im Bildschnitt liegt. Eine komplett neue Welt tat sich damals für mich auf, die mich begeisterte und über die ich alles wissen wollte.
In den 1990er-Jahren liefen im Fernsehen auf diversen Kanälen stundenlange Sendungen mit Technomusik und Visuals, die alle einer bestimmten Ästhetik folgten. In diesen Visuals wurden vor allen Dingen klare Bilder mit Videoeffekten verfremdet. Das
ist amüsant, wenn man selbst hinter dem Mischpult steht und diese Modulationen vornimmt. Auf der visuellen Ebene ging es dabei mehr oder weniger – genau wie in der Musik – um Wiederholungen, die sich durch Veränderungen mit Effekten linear entwickeln. Diese Form der Bildbearbeitung interessierte mich nicht. Wiederholungen von Filmsequenzen wirken völlig anders als musikalische Loops. Aber mich überzeugte die Idee, Film wie Musik zu verstehen und mit den Bildern zu improvisieren. Visuelle Musik
war für mich ein völlig neuer Gedanke. Von diesem Moment an recherchierte ich, was es damit auf sich hat und wo der Ursprung dieser Idee liegt. Die Techno-Visuals schienen oberflächlich verwandt mit den Liquids und Avantgardefilmen aus den Sixties zu sein – Erinnerungen an psychedelische Lightshows von Velvet Underground, Grateful Dead und Pink Floyd wurden wach –, aber um zu den Anfängen der modernen audiovisuellen Gestaltung zu kommen, musste ich in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück, als die Malerei immer abstrakter wurde und die Künsler sich für Musik interessierten, die ja grundsätzlich gegenstandslos ist.
In den Zwanzigerjahren arbeitete und lehrte am Bauhaus
unter anderen Wassily Kandinsky, der alles daransetzte, musikalische Eigenschaften wie Dynamik, Rhythmus oder Gleichzeitigkeit ins Räumliche zu übertragen. Etwa zur gleichen Zeit interessierten sich Künstler wie Walter Ruttmann, Hans Richter und Viking Eggeling für das neue Medium Film und wollten dessen Geschwindigkeit und Rhythmus in ihre Arbeit einbeziehen, übertragen. Richters Rhythmus 21
und die Diagonal-Symphonie
Eggelings gelten heute als Klassiker. So unterschiedlich ihre Techniken auch waren, sie führten dazu, dass Rechtecke, Dreiecke, Kreise und Linien durch die Dimension der Zeit lebendig wurden. Walter Ruttmanns Lichtspiel Opus 1
war der erste abstrakte Film, der öffentlich gezeigt wurde. Wenn Ruttmann, Richter und Eggeling geahnt hätten, welche Anerkennung und Bewunderung
ihre avantgardistischen Experimentalfilme heute immer noch hervorrufen, hätten sie sich mit Sicherheit sehr gewundert. Denn ihre Arbeiten erreichten damals nur wenig Aufmerksamkeit.
Ganz anders die Filme von Oskar Fischinger, die im Vergleich dazu beliebt und erfolgreich waren. In seinen experimentellen Animationsfilmen behandelte er von Anfang an Bild und Ton gleichwertig. Neben seinen rein künstlerischen Arbeiten produzierte Fischinger Werbefilme, wie für die Zigarrettenmarke Muratti (1934/35), die vor den Hauptfilmen liefen. Wenn ich an dieser Stelle großzügig die nächsten vierzig Jahre überspringe, lande ich bei den Film-Experimenten von Andy Warhol, Nam June Paiks Video Art und der Fluxus Bewegung, schließlich bei den Promoclips der Musikindustrie, dem Musikfernsehen und den Clubs und Raves der Techno- und House-Szene, in denen sich in den Neunzigerjahren eine neue Jugendkultur entwickelte. Innerhalb dieser Bewegung begannen die ersten Videokünstler mit ihren Experimenten. Sie kombinierten die unterschiedlichsten Quellen miteinander: Super-8-Filme, kommerzielle Filme, Fernsehprogramme, Werbung, Kameraeinspielungen. Diese visuellen Inhalte – oft liebevoll naiv »Found Footage« genannt – wurden von ihnen wie Musik verstanden und verarbeitet.
Heute sind Computer schnell genug, um bewegte Bilder in Echtzeit zu manipulieren. Mit diesen Bildern kann man nun wie ein Jazz-Musiker improvisieren. Wie das funktioniert? Ich schneide eine Sequenz von einigen Sekunden aus einem Film. Es entsteht ein Ausschnitt, völlig ohne Zusammenhang. Sagen wir, Karl Bartos fährt mit einem Cabriolet durch Hamburg. Woher er kommt und wohin er fährt ist egal. Er wird zu einer abstrakten Figur, die etwas tut, was zunächst keine Bedeutung hat, keinen Sinn ergibt. Aber wir können mit diesem visuellen Fragment arbeiten wie mit Musik. Wir können es wiederholen, rhythmisieren, langsamer oder schneller laufen lassen, anhalten, wieder starten, rückwärts abspielen, vergrößern, verkleinern, spiegeln,
die Farben invertieren, filtern, um die eigene Achse drehen und vieles mehr. Die visuelle Ebene – die wir im Allgemeinen mit unserem Intellekt erfassen – wird jetzt emotional wahrgenommen. Um diese Entwicklung – die ich gerade ausschnittweise und im Zeitraffer dargestellt habe – wirklich zu begreifen, brauchte ich Zeit zum Nachdenken und Ausprobieren, und so verbrachte ich im Grunde die nächsten Jahre damit, diese Informationen zu sammeln, zu studieren und umzusetzen.
15 Minutes Of Fame
Der Millenium-Bug blieb aus, aber im neuen Jahrtausend tat sich auf der geschäftlichen Ebene etwas bei mir: Im Juli 2000 unterzeichnete ich einen Vertrag für mein erstes Album unter dem Namen Karl Bartos beim Hamburger Label Orbit, das seine Produkte damals über Virgin vertrieb. Ich hatte mich entschieden, nur noch unter eigenem Namen zu arbeiten. Nach den Jahren des Experimentierens fühlte es sich einfach richtig an.
Eine meiner ersten Aktionen für das Album war es, den Frankfurter Musiker Anthony Rother persönlich kennenzulernen. Seinen Track »Little Computer People«, den ich geremixt hatte, fand ich brillant. Anthonys Begabung, mit Maschinen lebendige Musik zu machen, war offenkundig. Kurzerhand lud ich ihn zu mir nach Hamburg ein. Zwei Tage verbrachten wir in meinem Studio und »schmissen ein paar Ideen in den Computer«, von denen sich eine in Richtung Popmusik entwickelte.
Während ich an dem neuen Song arbeitete, las ich parallel das Buch
Andy Warhol: Superstar
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von Isabelle Dufresne, die als »Ultra Violet« zum engeren Kreis von Warhols Factory zählte. Ich interessierte mich für seine Underground-Filme, seine seltsamen Bücher und Statements. Er wollte ja unbedingt ein Roboter sein, und auch andere seiner Ansichten kamen mir bekannt vor.
Irgendwie schien Warhol ein Soziopath gewesen zu sein – oder spielte er nur einen Soziopathen? Mit seinem Zitat »In the future, everyone will be world-famous for 15 minutes« im Kopf machte ich mich an den Entwurf der Lyrics für den Song und bastelte weiter am Arrangement.
In dieser Zeit starteten gerade die neuen Formate der Castingshows im Fernsehen. Ich konnte (oder wollte) mir deren hohe Einschaltquoten nicht erklären. Eins ist klar: Das Geld verdienen dabei sowieso nur die Produzenten und die A-, B- oder C-Listen-Celebrities in der Jury. Wahrscheinlich brachten mich diese Shows auf den Gedanken, auf das Phänomen der modernen Celebrity-Kultur einzugehen, das auch schon Warhol fasziniert hatte. Ich beschäftigte mich damals mit diesem Phänomen und sammelte Schlüsselbegriffe – stars, celebrities, fame, religion, paranoid, it-girl
– und verfasste eine Art Trash-Text im Duktus einer Reportage. Wie eine Kamera im Film die subjektive Sichtweise einnimmt, wechselt die Perspektive im Refrain zur Sichtweise der Superstar-Aspiranten. Sie proklamieren ihr Credo: »We want 15 minutes of fame.«
Meiner neuen Plattenfirma gefiel der Song. Ungeduldig machte mir Labelchef Sascha Basler den Vorschlag, nicht auf das Album zu warten, sondern ihn zeitnah zu veröffentlichen. Ich musste kurz an unsere verstolperte »Tour de France«-Single denken, aber dann war ich einverstanden. Natürlich brauchte ich für die neue Single auch das obligatorische Musikvideo. Und was lag näher, als ein Andy-Warhol-Pop-Thema in New York zu filmen? Am 12. September machten wir uns auf den Weg. Wir, das war ein kleines Film-Team bestehend aus Produzentin Ulrike Licht, Regisseurin Stefanie Sixt, dem Product Manager des Labels und natürlich meiner Wenigkeit. Wieder verbrachte ich eine knappe Woche im Mayflower. Wir filmten in der ganzen Stadt. Ich glaube, wir hatten vergessen, uns eine Genehmigung zu besorgen, und mussten aufpassen, nicht erwischt zu werden. Vor der
Kamera ließ ich mich gerne von Stefanie dirigieren. Auf ihren Wunsch kletterte ich auf Flachdächer mit den typischen Wassertanks, erklomm Feuerleitern, lief völlig unbekümmert mehrmals um das World Trade Center herum, das ziemlich genau ein Jahr später nach den unmenschlichen Anschlägen der Al-Qaida in sich zusammenbrach, schlenderte – von der Regisseurin mit einer Super-8-Kamera in einer Rikscha sitzend verfolgt – durch Little Italy, begegnete im Central Park dem damaligen deutschen Außenminister Joschka Fischer, fuhr mit der U-Bahn downtown. Das Ganze war eher eine Art Underground-Shooting.
Trotz des programmatischen Titels und der tatkräftigen Unterstützung der Bevölkerung Manhattans, deren ausgewählte Vertreter den Refrain mitsingen, wurde der Clip jedoch so gut wie nie auf MTV gezeigt. Mein Ärger hielt sich in Grenzen, denn als Virgin den Deal mit Orbit nicht verlängerte, war Promotion für die Single sowieso nicht zu erwarten. Da spielte es auch keine Rolle mehr, dass die Scheibe damals gerade auf dem Sprung in die britischen Charts war. So regelten sich alle Probleme von selbst.
Expo-Gigs
Völlig überraschend machten mir die Veranstaltungsmacher der Expo 2000 das Angebot, an zwei Oktoberabenden jeweils ein Konzert im Rahmen der Weltausstellung zu geben. Expo 2000? Moment mal, da war doch was! Im letzten Dezember hatten sich Ralf und Florian tatsächlich mit neuer Musik zurückgemeldet: mit der Erkennungsmelodie für die Weltausstellung in Hannover. Der nur wenige Sekunden dauernde deutschsprachige Jingle – der in fünf weitere Sprachen übersetzt wurde – verursachte ein heftiges Medienecho. Es gab Gerüchte, dass für diesen Job ein verhältnismäßig hohes Honorar an die Gruppe gezahlt worden
war. Die Wellen schlugen ganz schön hoch, aber wie immer legte sich auch dieser Sturm im medialen Wasserglas bald wieder. Jedenfalls hieß es, Kraftwerk seien beschäftigt und könnten nicht zur Eröffnung der Weltausstellung am 1. Juli auftreten.
Als die Frage an mich herangetragen wurde, ob nicht ich Lust hätte, dort live zu spielen, dachte ich sofort an die Pariser Weltausstellung des Jahres 1889, als Claude Debussy die Musik anderer Kulturkreise kennenlernte. Er soll total vom Sound eines javanischen Gamelan-Ensembles beeindruckt gewesen sein. Und obwohl diese Veranstaltung vielleicht in Zeiten der Globalisierung ihre Beutung verloren hat, ist das auch heute noch mein erster Gedanke, wenn ich Weltausstellung, World’s Fair oder Expo höre.
Natürlich sagte ich damals zu. Allerdings fragte ich mich, was passieren würde, wenn meine Mitstreiter und ich auf dem Gelände loslegten und nicht die Gruppe Kraftwerk. Immerhin spielten wir in Teilen das gleiche Repertoire. Würden wir ausgebuht werden? Bei den Auftritten am 2. und 3. Oktober hatte ich gemischte Gefühle, aber es passierte … nichts. Jedenfalls keine negative Reaktion. Wir erhielten Applaus, und davon viel. Es waren zwei gute Gigs in Hannover, ich sang damals zum ersten Mal »The Young Urban Professional« live, den ersten Track meines letzten Albums. Danach schwor ich mir, nie wieder Stücke mit längeren Lyrics zu komponieren, die ich dann auswendig lernen muss.
Gesang der Jünglinge
Mitte 2000 rief mich Hans Erkendal von den Mobile Homes aus Stockholm an. »Ich glaube, ich habe hier was Interessantes für dich«, sagte er. »Hast du schon mal vom Polar Music Prize
gehört?« »Nö«, gab ich zu. »Mann, das ist der inoffizielle
Nobelpreis für Musik, und dieses Jahr, Anfang Mai, sind drei Personen ausgewählt: Bob Moog, Burt Bacharach und Karlheinz Stockhausen. Für Letzeren sollst du die Laudatio halten. Der Polar Music Prize
ist hier bei uns schon ein ziemlich großes Ereignis, Kalle«, erklärte mir mein Freund. Dabei war seiner Stimme eine gewisse Erregung anzuhören. »Großes Theater mit König und allem Drum und Dran. Was sagst du?« Ich war ziemlich überrascht, wenn ich ehrlich bin, aber das hatte neben der Ehre, die mir zuteilwerden würde, noch einen anderen Grund: Wir hatten genau für Mai eine kleine Tournee durch Skandinavien geplant – Kopenhagen, Malmö, Stockholm und Göteborg – das würde von den Terminen zusammenpassen und sich perfekt ergänzen. Kurz: Ich sagte zu.
Am frühen Nachmittag des 12. Mai 2001 landeten Bettina und ich in Stockholm. In einer schwarzen Limousine wurden wir direkt zum altehrwürdigen Grand Hotel chauffiert, wo das Komitee des Polar Music Prize
alle designierten Preisträger und ihre Laudatoren untergebracht hatte. Als wir aus unserem Fenster auf den Stockholms ström, Norrström
und die Brücke Strömbron
blickten, wurde mir bewusst, wie wunderschön und still die Hauptstadt Schwedens ist. Für 19:30 Uhr hatten wir eine Einladung in die amerikanische Botschaft in der Tasche. Immerhin waren in diesem Jahr zwei der Preisträger US-Amerikaner: Robert Moog und Burt Bacharach. Der Botschafter ließ es sich nicht nehmen, ihnen zu Ehren ein kleines Fest zu geben. Die Botschaft wurde schwer bewacht, alles war groß und prächtig. Auch Stockhausen – dessen unverkennbare Aura für mich aus einiger Enfernung deutlich wahrnehmbar war – und seine Entourage befanden sich unter den Gästen. Eine längere Zeit stand ich neben einer blonden Lady, die genau wie ich das lustige Treiben still beobachtete. Erst auf den zweiten Blick wurde mir klar: Keine andere als Agnetha Fältskog von ABBA stand da neben mir.
Am Nachmittag des folgenden Tages besuchten wir ein
Seminar in der Musikhochschule, bei dem die Stockhausen-Komposition »Aries« aufgeführt wurde. Auch Mr. Bacharach stellte uns an diesem Nachmittag Auszüge aus seinem Werk vor. Und was für ein Werk das ist! Lässig saß der damals 73-Jährige in einem hellblauen Trainingsanzug am Klavier und begleitete sich selbst zu seinen All-Time-Classics wie »Raindrops Keep Falling On My Head«, »I’ll Never Fall In Love Again« oder »That’s What Friends Are For«. Ein Evergreen nach dem anderen reihte sich aneinander. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, einen solchen Songwriter beim Klavierspiel zu erleben.
An diesem Abend hatte der deutsche Botschafter die designierten Preisträger und ihre Laudatoren zum Dinner geladen. Dies Fest war erheblich kleiner und intimer als das in der US-Botschaft. Statt Fingerfood gab es gesetztes Essen und Plaudereien am Kamin. Dabei hatte ich unverhofft die Gelegenheit, allein mit dem damals 72-jährigen Karlheinz Stockhausen zu sprechen. Mit leuchtenden Augen berichtete er mir, dass demnächst seine Musik in Dänemark zur Uraufführung gebracht werden sollte. Ich aber wollte eine Sache ganz genau von ihm wissen.
»Herr Stockhausen«, begann ich schüchtern, »ich frage mich, wie Sie es überhaupt schaffen, immer wieder für diese wirklich großen Inszenierungen ein Budget zu organisieren.« »Och, wissen Sie«, antwortete er im feinsten rheinischen Singsang, »ich rede eine Weile, stelle mein Werk vor, und nach meinem Vortrag kann ich es dann auch meistens realisieren.« Dabei lachte er mich an und schien sich offenbar köstlich über den Inhalt seiner Verkaufsgespräche zu amüsieren. Ich nehme an, er lachte über die Dinge, die er mir in seiner pauschalen Antwort verschwiegen hatte. Es war mir natürlich bekannt, dass Stockhausen ein spiritueller Mensch ist, dass er die Musik mit großer Emotion betrachtet und darüber hinaus seine Arbeit eine ausgeprägte naturwissenschaftliche Seite hat. Und nun erlebte ich auch noch seine private, humorvolle Sicht auf die Welt
.
Stockhausen sollte sein elementares Frühwerk, den Gesang der Jünglinge
, während der Preisverleihung zur Aufführung bringen, die Probe dafür war gegen Mittag des nächsten Tages in den Berwaldhallen – in der die Feierlichkeiten traditionell stattfinden – geplant. Klar, dass ich da vorbeischaute. Ganz in Weiß gekleidet stand Stockhausen in der Mitte der Halle hinter einem Mischpult und dirigierte einige Bühnenarbeiter, die auf einer fahrbaren Leiter die vier Lautsprechergruppen um die Bestuhlung des Saals anbrachten. Er hielt Blickkontakt mit dem Technikerteam und gab wie ein Verkehrspolizist unmissverständliche Zeichen in die eine oder andere Richtung. Scheinbar völlig versunken in die Kommunikation, war für ihn die Neigung der Lautsprecher, jeder Winkel, jeder Zentimeter von Bedeutung. Ich hatte es natürlich auch nicht anders erwartet, denn der Gesang
ist eine der ersten elektronischen Raummusiken der Welt. Die Schallrichtung und die Bewegung der Klänge im Raum wurden von ihm in der Mitte der Fünfzigerjahre in einer eigenen Werkebene in die Komposition einbezogen und schufen eine völlig neue Dimension für das Erlebnis des Hörens.
Dieses Werk nun in diesem speziellen Rahmen hier in Stockholm mit dem Komponisten live erleben zu können, war und ist für mich ein absoluter Höhepunkt. Ich blieb an diesem Nachmittag so lang ich konnte in der Berwaldhalle und verfolgte wie hypnotisiert seine Vorbereitungen. Als sich dann beim Soundcheck die ersten Sounds durch den Saal bewegten, stellte sich trotz der hellen Arbeitsbeleuchtung sofort diese unvergleichliche Wirkung ein, die das Werk hervorruft, und die jeden, der Zuhören gelernt hat, hineinzieht.
Irgendwann musste ich mich vom Soundcheck in den Berwaldhallen losreißen, weil es eine kurze Stellprobe für meinen kleinen Laudatio-Auftritt gab, und dann hieß es: hinein in die Abendgarderobe. Langsam füllte sich der Saal mit dem Publikum, und als König Carl XVI. Gustaf von Schweden, Königin
Silvia und Kronprinzessin Victoria feierlich einzogen, begann um 16:30 Uhr schließlich die Feier mit der Ehrung von Robert Moog, der mit seinen 66 Jahren der jüngste der Preisträger war. Manfred Mann, der britische Musiker, sprach die Laudatio. Dann wurde es auch für mich ernst.
Eigentlich bringt mich nichts so leicht aus der Ruhe, aber als ich dem Publikum als Laudator von Karlheinz Stockhausen vorgestellt wurde, verfolge ich doch recht aufgeregt den projizierten Film, der mich als Ex-Kraftwerker und Roboter in rotem Hemd zeigt. Na klar: Ich bleibe ein Roboter, der Zweite von links, für mein ganzes Leben. Immerhin stellte mich die Moderatorin der Zeremonie als ehemaliges Mitglied einer der einflussreichsten Bands der Popmusikgeschichte vor – das ist ja schon mal was. Jemand winkte mich ans Rednerpult – kann es sein, dass meine Stimme ein wenig zitterte? Und das übrigens nicht, weil die Verleihung live vom schwedischen Fernsehen übertragen wurde. Die Laudatio für Burt Bacharach hielt dann Elvis Costello.
Nach der Zeremonie wurden alle – auch die königliche Familie – mit kleinen, feierlich dekorierten Schiffen zurück ins Grand Hotel zum offiziellen Bankett gebracht. Besonders für Bettina und Frau Moog, die sich bereits am Tag vorher im Fahrstuhl des Hotels über die Frage, ob es der Etikette entspräche, schwarze Strümpfe zu tragen (Bettina: Ja! Frau Moog: Nein!), kennengelernt hatten, war jedoch der nächste Programmpunkt des Abend ein Highlight sondergleichen: ein Aperitif mit der königlichen Familie in einer der oberen Etagen des Hotels. Obwohl wir ja alle nicht gerade Monarchisten sind, war die Spannung fühlbar. Doch vor dem Vergnügen kommt die Pflicht: Die Hofdame der Königin machte uns Herren klar, wie man die Königliche Familie begrüßt, den Damen zeigte sie den Hofknicks. Frau Moog und Bettina schauten sich an und entschieden: No way! Und dann erschienen sie schon alle – Carl XVI. Gustaf von Schweden, die frühere Silvia Sommerlath – die immerhin 1963 in Düsseldorf
ihr Abitur gemacht hatte –, Kronprinzessin Victoria, ihre Schwester Madeleine und der Bruder Carl Philip. Brav sagten wir hej und hallo, schüttelten die Hände, nippten symbolisch am Champagner. Und schon klopfte der Kammerdiener mit seinem Zeremonienstab dreimal auf den Boden, für uns das Signal, nun schnellstens in den Bankettsaal zu eilen. Aber wie das so ist mit einer Gruppen von Menschen, der Abstieg dauerte und dauerte. Als wir endlich den Saal erreichten, standen alle anderen 200 geladenen Gäste geduldig wartend vor ihren Stühlen – niemandem war es erlaubt, sich zu setzen, bevor nicht die Königliche Familie Platz genommen hatte. Strenge Sitten.
Bettina und ich saßen mit unseren schwedischen Freunden Annika und Hans Erkendal und dem großartigen Manfred Mann und seiner Frau an einem Tisch. Während des Banketts bot mir Mr. Mann gut gelaunt an, auf einem meiner nächsten Stücke für mich ein Keyboardsolo einzuspielen. Auch wenn nie etwas daraus wurde: ein symphatischer Gentleman. Neben dem wirklich hervorragenden Menü mit Fisch und Elch erlebten wir an diesem Abend noch zwei musikalische Leckerbissen. Zunächst hörten wir Teile der Komposition AVE
aus Stockhausens Oper Montag aus Licht.
Suzanne Stephens und Kathinka Pasveer – die Lebensgefährtinnen des Komponisten – trugen in unbeschreiblich fantasievollen Kostümen ein delikat choreografiertes Duett für Altflöte und Bassetthorn vor, das in dieser Kombination nicht außergewöhnlicher und spannender hätte sein können – wie exotische Vögel umspielten und umtänzelten sich die beiden Virtuosinnen, gerade so, als hätte ihnen Stockhausen dieses Stück auf den Leib komponiert. Und dann begab sich zu später Stunde Mr. Burt Bacharach an einen Flügel und spielte und sang einige seiner Songs mit der ihm eigenen Eleganz und Würde. Ihn in diesem Saal mit seiner brüchigen, aber fesselnden Stimme singen zu hören, werde ich nie vergessen.