Kapitel 4

Am selben Tag in New York, Manhattan

­VALERIE

Es war fast zehn Uhr vormittags, und ­Valerie spazierte mit ihren Gästen durch den Central Park. In der vergangenen Nacht hatte leichter Schneefall alles wie mit Puderzucker überzogen, und der seit zwei Wochen anhaltende Frost tat sein Übriges, um den Park in eine zauberhafte Winterlandschaft zu verwandeln.

Die beiden elegant gekleideten Frauen neben ­Valerie waren eigentlich keine echten Gäste, sondern wichtige Einkäuferinnen aus Frankreich, die derzeit eine neue und sehr exklusive Schuh- und Lederwarenkette in Europa aufbauten. Auf Wunsch ihres Stiefvaters Anthony sollte ­Valerie ihnen einige der bekanntesten Plätze in der amerikanischen Modemetropole zeigen, die gerade zur winterlichen Jahreszeit ein besonderer Magnet für Besucher waren.

­Valerie sprach, neben drei weiteren Fremdsprachen, fließend Französisch und hatte keine Probleme, sich mit den Frauen in deren Landessprache zu unterhalten.

»Und hier sind wir am Strawberry Field«, erklärte ­Valerie und deutete auf einen Kreis aus Mosaiken, in dessen Mitte das Wort Imagine zu lesen war. Dieser Platz im Park war im Jahre 1985 zum Gedenken an den von Chapman ­getöteten John Lennon errichtet worden.

»Und hier in der Nähe hat John Lennon gewohnt?«, wollte Louanne Sinne wissen.

»Ja … im Dakota-Gebäude.« ­Valerie deutete mit dem behandschuhten Finger in die besagte Richtung.

»Würden Sie bitte ein Foto von mir und Louanne machen, ­Valerie?«, bat Eloise Faure.

»Aber natürlich, sehr gern, Eloise.«

­Valerie griff nach dem Smartphone, das Eloise ihr reichte, streifte den Handschuh ab und machte mehrere Fotos der beiden Damen, die hinter dem Mosaikkreis standen und in die Kamera lächelten. Als sie das letzte Mal auf den Aus­löser drückte, stieg ganz in der Nähe mit lautem Flügelrauschen und Gurren ein riesiger Schwarm Tauben hoch in die Luft und flog so tief über ­Valerie und die beiden Einkäuferinnen hinweg, dass sich der Himmel für ein paar S­ekun­den verdunkelte. Tauben hatte es im Park immer schon mehr als genug gegeben, die meisten bezeichneten sie sogar als Plage, aber so viele auf einmal hatte ­Valerie noch nie gesehen. Auch die beiden Französinnen waren beeindruckt und hielten instinktiv die Hände über die Köpfe, um eventuelle Hinterlassenschaften von oben auf ihren modischen Mützen vorzubeugen.

Sie sahen den Vögeln hinterher, die in enger Formation in Richtung Upper East Side davonflogen.

­Valerie fröstelte es plötzlich, und ein seltsames Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen mochte sie Tauben. Zumindest hatte sie das in ihrer Kindheit getan. Sie versuchte, die Erinnerung daran zu verscheuchen, wie sie es immer tat. Doch obwohl sie es nicht wollte, sah sie sich plötzlich in ihrem früheren Zuhause am Chiemsee im Garten neben ihrem Vater auf einer Decke sitzen. Es war ein sonniger Frühlingstag, und sie waren vorher im See schwimmen gewesen.

»Schau Paps, da ist er wieder!«, flüsterte sie und deutete nach oben. Der Täuberich flog mit ein paar dürren ­Stängeln im Schnabel in die Wipfel der alten Kiefer. Dort war das Ringeltauben-Paar schon seit einigen Jahren zu Hause. ­Zumindest hatte ­Valerie sich in ihrer Phantasie ausgemalt, dass es immer dasselbe Paar war, das dort zusammenlebte.

»Er bessert das Nest aus, damit die Eier sicher sind«, hörte sie ihren Vater sagen. »Und dann wartet er, ob das Weibchen damit zufrieden ist.«

»Und wenn nicht?«, hatte sie gefragt.

Er hatte mit den Schultern gezuckt.

»Dann muss er eben ein neues Nest bauen.«

»Ich hoffe, es gefällt ihr.«

»Ich auch. Was meinst du, Walli …«, ihr Vater war der Einzige, dem ­Valerie die Abkürzung ihres Namens hatte durchgehen lassen. »… sollen wir uns ein Eis aus dem Gefrierschrank holen, bevor ich zum Konzert aufbrechen muss?«

»Ja!«, hatte sie freudig zugestimmt.

»Na dann komm, mein Schätzchen!«

»So etwas habe ich noch nie gesehen«, riss Eloise sie aus ihren seltsamen Gedanken. Die plötzliche Erinnerung war so deutlich gewesen, als ob ihr Vater ihr die Worte ins Ohr geflüstert hätte.

­Valerie räusperte sich.

»Ja, das war wirklich ungewöhnlich«, stimmte sie ihr zu und holte ihr Smartphone aus der Jackentasche. Es war kurz nach halb zehn.

»Wir sollten uns jetzt langsam auf den Weg machen«, forderte sie die Damen freundlich auf.

Der Ablauf des Besuchs der Französinnen war schon seit Langem nahezu minutiös geplant. Um zehn Uhr stand ein Brunch in einem der derzeit angesagtesten Restaurants in der 72nd Street auf dem Programm, dem sich auch ihre Mutter ­Olivia anschließen würde.

Danach ging es zu ihrem Stiefvater Anthony in die Geschäfts­räume der Firma Rubinston Shoes in der Madison Avenue. Die beiden Einkäuferinnen erwartete dort eine exklu­sive Modenschau und Präsentation der neuesten Rubin­ston-Schuhkollektion für den kommenden Sommer.

Der krönende Abschluss des Tages sah auf Wunsch der Französinnen einen Besuch des Rockefeller Centers vor, wo sie den imposanten Weihnachtsbaum bewundern wollten. Anschließend würde man bei einem schicken Abendessen in der Penthousewohnung der Rubinstons in der Upper West Side hoffentlich auf eine gelungene neue Geschäftsverbindung anstoßen.

­Valerie, Louanne und Eloise saßen mit ­Valeries Mutter ­Olivia am reservierten Tisch. ­Olivia, in klassischem Chanel-Kostüm, gab beim Ober die Bestellung für alle auf.

»Und dazu noch eine Flasche Dom Pérignon«, schloss sie und lächelte den Gästen zu.

»Eigentlich unvorstellbar, dass Sie keine Schwestern sind«, sagte Eloise bewundernd. Und das war keine Plattitüde. ­Olivia sah tatsächlich so jung aus, dass kaum jemand sie für ­Valeries Mutter hielt. Ein Umstand, der ­Olivia sehr viel bedeutete. Sie nahm einiges an Aufwand in Kauf, um diesen Eindruck zu erzielen und vor allem zu halten. Regel­mäßiger Sport, viel Schlaf, gesunde Ernährung, teuerste Kosmetikprodukte – und dazu alle Vorzüge, die ihr als Ehefrau eines wohlhabenden Unternehmers zur Verfügung standen. Der karamellfarbene Haarton, den ­Valerie von ihr geerbt hatte, war von ihrer Friseurin erst heute früh erneuert und mit goldglänzenden Highlights versehen worden, die ihre dunkelblauen Augen strahlen ließen.

»Ach wie lieb, Eloise. Vielen Dank«, flötete ­Olivia charmant. »Wir fühlen uns auch meist wie Schwestern, nicht wahr, ­Valerie?«, meinte sie mit einem kurzen Blick zu ihrer Tochter.

»Das tun wir«, bestätigte ­Valerie. Sie war routiniert darin, überzeugend zu klingen. Tatsache war, dass sie nicht wusste, wie sie die Beziehung beschreiben sollte, die sie mit ihrer Mutter verband. ­Valerie liebte sie natürlich sehr, doch ­Olivia verhielt sich nicht wie eine typische Mutter, versuchte tatsächlich eher eine ältere Schwester oder beste Freundin zu sein, allerdings eine, die den Ton angeben wollte. ­Olivia überließ nichts dem Zufall, sie hatte ­Valeries Leben in den letzten achtzehn Jahren, die sie in New York lebten, mehr oder weniger durchgeplant. Glücklicherweise waren die beruf­lichen Vorstellungen von Mutter und Tochter sehr ähnlich, und so musste ­Olivia ­Valerie nicht erst überreden, an der Columbia University Wirtschaftswissenschaften zu studieren und später in Anthonys traditionelles Familienunternehmen einzusteigen. Und als ­Olivia und Anthony ihr zum bestandenen Abschluss eine eigene Wohnung im selben Gebäude schenkten, in dem auch ihre Penthousewohnung war, blieben sie sich auch räumlich sehr nah.

Selbst was die Wahl eines geeigneten Heiratskandidaten betraf, hatte ­Olivia ganz genaue Vorstellungen – auch wenn diese nicht zu ­Valeries Zukunftsplänen passten. Besser gesagt sah ­Valerie sich momentan als glückliche Singlefrau und hatte nicht vor, daran in Kürze etwas zu ändern. ­Olivia wäre jedoch nicht ­Olivia, wenn sie es nicht zumindest immer wieder versuchte, ­Valerie geeignete Männer vorzustellen.

»Wie gefällt Ihnen New York bisher?«, fragte ­Olivia die beiden Frauen. Inzwischen waren sie ins Englische gewechselt.

»Oh, es ist sehr imposant«, antwortete Eloise mit starkem Akzent. »Soweit ich das bisher beurteilen kann.«

»Ich freue mich schon sehr auf morgen«, sagte Louanne und lächelte ­Valerie an. »Toll, dass Sie sich die Zeit nehmen, um mit uns das Museum of Modern Art zu besuchen.«

»Aber sehr gerne doch«, sagte ­Valerie, die diesen Aspekt ihrer Arbeit zwar mochte, jedoch auch als sehr anstrengend empfand. Viel lieber würde sie sich im Betrieb vermehrt in die Arbeit der Geschäftsführung einbringen. Doch sie wusste, dass sie Anthony damit einen großen Gefallen tat und er sich auf ­Valerie verließ, die dafür sorgte, dass die euro­päischen Geschäftspartner sich rundherum wohlfühlten.

Während sie sich unterhielten, wurde der Brunch serviert.

»Ach sieh doch mal, ­Valerie, wer da kommt!«, sagte ­Olivia.

­Valerie drehte den Kopf und entdeckte den hochgewachsenen Konstantin Treval. Der gutaussehende junge Mann war der jüngste Spross einer alteingesessenen Anwaltsfamilie, und ihre Mütter versuchten schon seit einer Weile, ­Valerie und Konstantin miteinander zu verkuppeln.

­Valerie fand Konstantin gar nicht mal so übel, allerdings erachtete sie ihn eher als Freund, denn als möglichen Lebens­partner. Ähnlich schien es Konstantin zu gehen, denn bisher hatte er ebenfalls noch keine Anstalten ­gemacht, sie über gelegentliche und meist zufällige Treffen hinaus zu einem Date einzuladen. Das jedoch wollten weder ihre noch seine Mutter zur Kenntnis nehmen. ­Valerie war es nur recht, dass Konstantin mehr wie sie tickte. Sie hatte so viel in der Firma ihres Stiefvaters zu tun, dass sie ohnehin kaum Zeit für ein echtes Privatleben in einer neuen Beziehung hätte.

Konstantin kam lächelnd auf den Tisch zu und begrüßte die Damen. ­Olivia stellte ihm die französischen Einkäuferinnen vor.

»Es ist mir ein Vergnügen«, sagte er charmant.

Sie wechselten ein paar unverbindliche Worte, dann verabschiedete er sich.

»Es tut mir leid«, sagte er, »aber ich habe gleich ein Meeting.«

»Natürlich. Wiedersehen, Konstantin«, sagte ­Olivia. »Bis spätestens zu ­Valeries Geburtstagsfeier.«

Konstantin nickte ­Valerie kurz zu.

»Darauf freue ich mich schon sehr. Bis bald, ­Valerie.«

»Bis bald.«

Natürlich hatte ­Olivia auch ihn zu ­Valeries Feier am ersten Weihnachtsfeiertag – einen Tag nach dem tatsächlichen Geburtstag – eingeladen. Für ­Olivia stand dieses bevorstehende gesellschaftliche Ereignis schon seit Monaten im ­Fokus. Sie liebte Partys in ihrem Haus, und der dreißigste Geburts­tag ihrer Tochter war eine hervorragende Gelegenheit, ihr beson­deres Talent für die Ausrichtung unvergesslicher Feste der High Society unter Beweis zu stellen.

­Valerie selbst nahm es mit der stoischen Gelassenheit hin, mit der sie fast alles hinnahm, was ihre Mutter für sie plante. Sie sah dieser Party ohne große Begeisterung entgegen. Am liebsten würde sie ihren Geburtstag gar nicht ­feiern. Aber da sie wusste, dass die Feier für ihre Mutter überaus wichtig und auch Anthonys geschäftlichen Interessen dienlich war, tat sie so, als könne sie es ebenfalls kaum erwarten.

Plötzlich spürte sie ein leises Vibrieren. Es kam aus ihrer Handtasche, die neben ihr auf der lederbezogenen Bank stand. Sie hatte vorhin vergessen, das Handy auf Flug­modus zu stellen, wie sie es sonst immer tat, wenn sie mit Kunden beschäftigt war. Sie ignorierte den Anruf und lenkte das Thema wie nebenbei auf ihren Stiefvater und damit auf die neueste Schuhkollektion. Anthony wollte diesen großen Deal mit den Europäern unbedingt noch heute unter Dach und Fach bringen, und sie würde alles dafür tun, damit es auch klappte.

Nun klingelte das Handy in ­Olivias Handtasche.

»Oh, tut mir leid«, sagte sie und drückte den Anruf weg, ohne auf das Display zu sehen.

»Kein Problem«, meinte Louanne.

»Wir sind schon sehr gespannt auf die neuen Modelle«, sagte Eloise und nahm den letzten Schluck Champagner aus ihrem Glas.

»Soll ich uns noch eine Flasche bestellen?«, fragte ­Olivia, die selbst bisher nur an ihrem Glas genippt hatte. Alkohol, egal in welcher Form, bedeutete für sie überflüssige Kalorien, auf die sie ihrer Figur zuliebe weitgehend verzichtete.

Doch die beiden Einkäuferinnen lehnten dankend ab.

In diesem Moment kam der Geschäftsführer des Lokals auf sie zu. Er beugte sich zu ­Olivia.

»Entschuldigen Sie, Frau Rubinston. Ihr Mann hat gerade angerufen«, sagte er leise. »Er kann weder Sie noch Ihre Tochter erreichen, es sei jedoch sehr dringend, hat er gemeint.«

»Danke.«

­Olivia wirkte überrascht und griff nach dem Handy.

»Entschuldigen Sie bitte. Ich muss nur ganz kurz abklären, was los ist«, sagte sie zu den beiden Damen und rief ihren Mann an.

»Anthony … Wir sind hier gerade …« Plötzlich sprach sie nicht mehr weiter. Sie hörte zu und nickte nur ab und zu.

»Danke, Anthony … ja … bis dann.« Ihre Stimme war leise, und ihr Gesicht schien etwas blasser geworden zu sein.

­Valerie fragte sich, was passiert war.

­Olivia legte auf und wandte sich an die beiden Französinnen, die sie ebenfalls neugierig anschauten. Sie räusperte sich, als ob sie sich einen kleinen Moment Zeit verschaffen wollte.

»Entschuldigen Sie die Unterbrechung«, begann sie schließlich mit einem Lächeln, das tatsächlich nur aufgesetzt war, wie ­Valerie erkannte. Sie griff nach ihrem Glas und trank es in großen Schlucken leer. Das war für ­Valerie endgültig der Beweis, dass etwas Ernstes geschehen sein musste. Beunruhigt warf sie ihrer Mutter einen fragenden Blick zu.

»Wir reden später«, sagte ­Olivia leise und winkte dem Ober. »Bringen Sie uns doch noch eine Flasche.«

Eine Dreiviertelstunde später verließen sie das Restaurant. Draußen wartete schon eine Firmenlimousine. ­Olivia wandte sich an die beiden Frauen.

»Der Fahrer bringt Sie jetzt zur Firma. Mein Mann erwartet Sie dort, und die Modenschau wird wie besprochen stattfinden. Nur leider werden meine Tochter und ich Sie nicht begleiten können.«

»Aber Mutter …«, begann ­Valerie überrascht. Sie hatte die Präsentation der neuen Kollektion lange mit Anthony geplant und vorbereitet. Egal was passiert war, sie musste und wollte unbedingt dabei sein! Die Kunden waren zu wichtig, als dass etwas schiefgehen dürfte.

»Ich erkläre es dir gleich, ­Valerie«, unterbrach ihre Mutter sie jedoch sofort in einem Ton, der ­Valerie daran hinderte, weiter nachzufragen. Das würde warten müssen, bis sie allein waren. Sie verabschiedeten sich von Eloise und Louanne.

»Mutter! Was ist passiert?«, drängte ­Valerie, nachdem sie in den Fond der zweiten Firmenlimousine gestiegen waren, die vor dem Restaurant auf sie gewartet hatte.

»Moment, ich gebe Anthony nur kurz Bescheid, dass die beiden unterwegs sind.«

Während ­Olivia ihrem Mann eine Nachricht schickte, holte ­Valerie ihr Handy aus der Tasche und warf einen Blick auf die entgangenen Anrufe.

»Mia hat versucht, mich zu erreichen«, murmelte sie ziemlich überrascht. »Hat … hat das Ganze vorhin etwas mit ihr zu tun?«, fragte ­Valerie. Nervös sah sie ihre Mutter an.

»­Valerie …«, sagte ­Olivia und griff nach der Hand ihrer Tochter. Doch sie sprach nicht weiter.

»Jetzt bitte, sag schon!«, drängte ­Valerie.

»Ich weiß nicht, wie ich es dir beibringen soll, mein Liebes.«

»Du machst mir gerade wirklich Angst!«

­Olivia senkte kurz den Kopf, dann sah sie ihrer Tochter fest in die Augen.

»Es geht um ­Albert.«

»Was ist mit … Vater?« Es fiel ihr schwer, das letzte Wort auszusprechen.

»Er … er ist tot, ­Valerie.«

Reflexartig zog ­Valerie ihre Hand aus der ihrer Mutter und sah sie ungläubig an.

»Nein«, flüsterte sie kaum hörbar.

Vater … Vater ist tot?

Ihr wurde schlagartig übel.

»Was ist passiert?«

»Ich weiß es nicht, ­Valerie. Aber wir werden das sofort herausfinden, wenn du möchtest.«

In ­Valeries Ohren rauschte es so laut, dass sie gar nicht hörte, was ihre Mutter sagte.

»Bitte halten Sie sofort an, Jack!«, rief sie nach vorne zum Fahrer.

»Aber ­Valerie …« Ihre Mutter sah sie besorgt an.

»Schnell. Anhalten!« Sie presste eine Hand auf den Mund.

»Natürlich!« Der Fahrer schätzte die Situation offenbar richtig ein. Er fuhr sofort in zweiter Reihe an den Straßenrand und schaltete die Warnblinkanlage ein.

­Valerie riss die Tür auf und stieg so rasch aus dem Wagen, dass sie in ihren hohen Schuhen fast stolperte.

»­Valerie!«, rief ihre Mutter besorgt.

­Valerie stützte sich am Dach des Wagens ab und atmete ein paarmal tief ein und aus. Es gelang ihr gerade noch, den Brechreiz zu unterdrücken. Der Champagner, den sie vorhin beim Brunch getrunken hatte, brannte in ihrem Magen.

Ihr Vater war tot. Sie konnte es einfach nicht glauben.

Sie spürte eine Hand auf ihrem Rücken.

»Komm, Liebes. Lass uns jetzt nach Hause fahren«, sagte ­Olivia leise.

Doch ­Valerie schüttelte den Kopf und stieg wieder in den Wagen. ­Olivia folgte ihr.

»Es … es geht schon wieder. Setz mich bitte in der Firma ab«, sagte ­Valerie.

»Das werde ich ganz bestimmt nicht tun. Das Geschäft ist zu wichtig für Anthony, um zu riskieren, dass etwas schiefgeht. Und du kannst jetzt nicht zu hundert Prozent bei der Sache sein.«

»Doch. Das kann ich, Mutter«, widersprach sie, während sie eine weitere Welle der Übelkeit überrollte. Sie schloss für einen Moment die Augen.

»Von wegen! Du bist kreidebleich! Wir fahren jetzt nach Hause, und dann versuchen wir, deine Schwester zu erreichen und herauszufinden, was überhaupt passiert ist«, sagte ­Olivia.

»Na gut«, gab ­Valerie schließlich doch nach, weil sie sich plötzlich selbst nicht mehr sicher war, ob sie dem Geschäftstermin momentan gewachsen war. Mit der Nachricht vom Tod ihres Vaters war etwas in ihr aufgebrochen. Gefühle, die sie seit vielen Jahren unter Verschluss gehalten hatte, bahnten sich unaufhaltsam ihren Weg. Gefühle aus Trauer, Wut, Angst und Liebe.