Kapitel 12

MIA

Nachdem das Haus für den Advent dekoriert war, fand Mia endlich Ruhe. Womöglich lag es auch daran, dass ­Valerie und sie sich dabei irgendwie ein wenig angenähert hatten, selbst wenn ihre ganzen Fragen natürlich noch immer ­unbeantwortet waren. Als Kinder hatten sie nur ganz selten Meinungsverschiedenheiten gehabt, und fast immer hatten sie sie noch am selben Tag geklärt. Doch jetzt war die Lage anders. Sie waren keine Kinder mehr, und Mia wusste nicht, wie ihre Schwester sich in den vergangenen langen Jahren entwickelt hatte. Letztlich war ­Valerie fast wie eine Fremde für sie. Und doch – als sie vorhin gemeinsam lachten, hatte sie in ihren Augen das Funkeln der ­Valerie von damals wiederentdeckt.

Dieser Moment hatte sich besonders kostbar angefühlt.

Diesmal schlief sie so tief und fest, dass sie noch nicht einmal träumte. Zumindest konnte sie sich nach dem Aufwachen nicht daran erinnern. Draußen war es schon längst hell. Der Schnee von letzter Nacht war liegen geblieben und hatte die Landschaft wie mit Puderzucker überzogen. Für einige wenige kostbare Sekunden schien die Welt in Ordnung zu sein. So lange, bis ihr alles wieder einfiel. Und ­damit kam die Trauer zurück, legte sich wie eine schwere Decke um ihre Schultern.

Ein Blick auf die Uhr ließ sie hochschrecken. Es war schon nach halb elf! Rudi!

Sie schoss aus dem Bett und eilte nach unten.

»Rudi!«

Der Hund lag im Esszimmer und kaute versonnen an einem großen Hundeknochen.

»Guten Morgen, Mia!«, sagte ­Valerie, die mit einer Tasse Kaffee am Tisch saß. Vor ihr lag aufgeschlagen die Tages­zeitung. »Und keine Sorge, ich war schon mit dem Hund draußen.«

»Du?«, fragte Mia überrascht.

»Ja. Stell dir vor.«

»Ich dachte, du magst keine Hunde.«

»Tu ich auch nicht. Aber er stand winselnd vor der Haustür. Und ich hatte keine Lust, hier womöglich eine ­unschöne Bescherung wegputzen zu müssen. Schnee geräumt habe ich auch schon, und Kaffee ist ganz frisch gemacht.« Sie nickte zur Kaffeemaschine.

»Danke«, sagte Mia ein wenig überrumpelt über den Aktionismus ihrer Schwester und schenkte sich ein. Während sie vorsichtig daran nippte, betrachtete sie ­Valerie. Obwohl ihr Outfit heute legerer war, wirkte sie sogar in Jeans und Pulli so viel schicker, als Mia das jemals möglich wäre, egal was sie anziehen würde.

­Valeries Frisur saß perfekt, und sie wirkte frisch und ausgeruht. Wie machte sie das nur? Sicher waren das die Gene und der Einfluss ihrer Mutter! Anders konnte Mia sich das nicht erklären.

»Kannst du mir vielleicht deinen Wagen leihen? Dann fahr ich gleich noch in den Supermarkt und kaufe für uns ein«, bot ­Valerie an.

»Okay«, stimmte Mia ihr zu. Sie hatte ohnehin keine Lust, unter Leute zu gehen, die ihr das Beileid aussprechen würden. Oder womöglich einigen ihrer Schüler oder deren Eltern zu begegnen, die sicher nachfragen würden, ob es tatsächlich stimmte, dass sie nicht länger am Gymnasium unterrichtete. Für solche Gespräche hatte sie im Moment keine Kraft.

»Im Schrank ist die Kaffeedose mit dem Haushaltsgeld. Nimm dir raus, was du brauchst«, sagte sie zu ­Valerie.

»Ach was«, winkte diese ab. »Das übernehme ich. Ich fülle die Vorräte hier einfach mal ordentlich auf. Da fehlt ja so einiges, wie ich bemerkt habe.«

»Du musst hier nichts auffüllen«, erwiderte Mia scharf, die sich über den gönnerhaften Ton ihrer Schwester ärgerte. Nur weil ­Olivia mit einem superreichen Unternehmer verheiratet war und sie und ­Valerie die letzten Jahre offenbar in Saus und Braus gelebt hatten, konnte Mia das Geld für die nötigen Lebensmittel sehr wohl selbst aufbringen.

»Und du musst das auch nicht bezahlen. Schließlich bist du hier Gast«, setzte sie ausdrücklich noch hinzu.

Bei diesen Worten war das Lächeln aus dem Gesicht ihrer Schwester verschwunden. Gut so! ­Valerie sollte ruhig wissen, dass sie nicht auf ihre Großzügigkeit angewiesen war. Immerhin würde sie schon in wenigen Tagen wieder von hier verschwunden sein.

»Dann schreib einfach eine Liste, was ich besorgen soll«, sagte ­Valerie knapp und verschanzte sich hinter der Zeitung, sodass Mia sie nicht mehr sehen konnte.

Mia holte einen kleinen Notizblock aus der Schublade und notierte die Sachen, die sie brauchten. Wichtig war vor allem das Hundefutter für Rudi. Dann fischte sie Geld aus der Kaffeedose und legte es zusammen mit dem Zettel auf den Tisch.

»Das müsste reichen. Der Autoschlüssel liegt draußen im Flur auf der Kommode im Körbchen«, sagte sie. »Ich geh jetzt duschen.«

Hinter der Zeitung kam von ­Valerie nur ein knappes zustimmendes »Hmm«.

Als Mia aus dem Badezimmer kam, war ­Valerie schon weg. Sie ging in die Küche und hörte endlich alle Anrufe auf dem Anrufbeantworter ab, bei denen es sich ausschließlich um Trauerbekundungen handelte, und las ihre Nachrichten auf dem Handy. Einige beantwortete sie gleich. Sie schrieb ihrer Chorgruppe und bedankte sich für alle aufmunternden lieben Worte und die schönen Blumen, über die sie sich sehr gefreut habe. Nur wenige Sekunden später kamen lächelnde Smileys und Grüße ihrer Schüler, froh über ein Lebenszeichen ihrer Lieblingslehrerin.

»Es macht einfach keinen Spaß ohne Sie«, schrieb Jegor mit traurigen Smileys dahinter. Und Janina, die inzwischen nach München umgezogen war, war total entsetzt, dass Mia nun nicht mehr Chorleiterin war. »Dann will ich auch gar nicht mehr mitsingen«, schrieb sie.

Mia wühlte das alles ziemlich auf. Also schaltete sie das Handy auf stumm und drehte es um, damit sie gar nicht mehr mitbekam, wenn neue Nachrichten eingingen.

Dann griff sie zur Zeitung und blätterte sie durch. Als ihr im Heimatteil das Foto ihres Vaters entgegensprang, musste sie heftig schlucken. Der Nachruf war viel größer, als sie gedacht hatte. Es gab sogar noch eine zweite Erwähnung im Feuilleton. Während sie las, konnte sie ihre Tränen nicht z­urückhalten.

Rudi setzte sich auf und sah sie an. Dann trabte er zu ihr und legte seinen Kopf auf ihren Oberschenkel.

»Er fehlt dir auch, nicht wahr?«, sagte sie heiser. Zärtlich streichelte sie über sein Fell. Auch wenn ­Albert durch seine Krankheit vieles vergessen hatte, so hatte er bis zum Schluss einen liebevollen Zugang zu Rudi gehabt, den er vor sechs Jahren aus einem Tierheim geholt hatte.

Bis ­Valerie zurückkam, hatte Mia sich wieder einigermaßen gefangen. Doch das rotfleckige Gesicht verriet sie.

»Der Bericht in der Zeitung ist wirklich sehr schön ­geworden. Sehr wertschätzend und berührend«, sagte ­Valerie in freundlichem, aber sachlichem Ton und stellte einen gut gefüllten Einkaufskorb und eine Papiertüte ab, der ein würziger Duft nach Kräutern, Tomaten und geschmolzenem Käse entstieg. Es war offensichtlich, dass ­Valerie doch mehr eingekauft hatte, als Mia aufgeschrieben hatte. Aber darüber würde sie jetzt besser einfach hinwegsehen.

»Ich habe Pasta aus dem Dolce Vita mitgebracht«, sagte ­Valerie, während sie die frischen Lebensmittel aus dem Korb in den Kühlschrank einräumte.

Das Dolce Vita war Mias Lieblings-Pizzeria im Ort und ein Familienbetrieb in der zweiten Generation.

»Such dir aus, was dir lieber ist. Und falls du nichts magst – auch kein Problem. Dann wärme ich es mir morgen auf. Und die Lebensmittel, die nicht auf der Liste standen, sind ebenfalls für mich. Ich möchte deine Gastfreundschaft schließlich nicht zu sehr strapazieren. Immerhin bin ich unein­geladen hergekommen.«

Mia schluckte. Offenbar hatte sie ihre Schwester vorhin doch sehr verletzt. Vielleicht war es an der Zeit, versöhnlichere Töne anzuschlagen. Schließlich würde ­Valerie noch ein paar Tage hier bei ihr wohnen.

»Hör mal«, sagte sie deswegen. »Das vorhin war vielleicht etwas …«

»Schon gut, Mia«, unterbrach ­Valerie sie und schloss den Kühlschrank. »Wo der Rest hingehört, weiß ich nicht.«

»Danke. Das räume ich schon ein.«

­Valerie öffnete die Papiertüte, holte zwei flache Schalen heraus und zog die Deckel ab.

»Rigatoni mit Basilikum-Pesto … und da hab ich noch Lasagne. Ich weiß noch, dass du früher beides mochtest. Was ist dir lieber?«

Mia konnte nicht anders. Nun musste sie lächeln.

»Ich nehme die Lasagne«, sagte sie und holte Teller und Besteck.

»Gut. Die Rigatoni sind mir eh lieber«, bemerkte ­Valerie und füllte das Gericht auf ihren Teller, während sie die ­Lasagne zu Mia schob.

»Hast du eigentlich einen Freund?« Die Frage war Mia ganz plötzlich herausgerutscht.

Überrascht sah ­Valerie sie an.

»Nein«, antwortete sie. »Seit einer Weile nicht mehr. Und du?«

Mia schüttelte den Kopf.

»Auch nicht … Mit dem letzten habe ich Schluss ­gemacht, kurz bevor ich wieder hierhergezogen bin.«

Sie schaufelte die Lasagne auf ihren Teller. Danach began­nen sie schweigend zu essen.

»Ist es dir schwergefallen, wieder zurückzukommen?«, fragte ­Valerie nach einer Weile.

»Darüber habe ich gar nicht nachgedacht. Papa hat mich gebraucht, deswegen kam ich zurück.«

­Valerie nickte gedankenverloren.

»Die Rigatoni schmecken richtig gut«, sagte ­Valerie schließlich. »Wie ist deine Lasagne?«

»Perfekt wie immer.«

»Wenn du noch was von mir abhaben möchtest, nimm dir ruhig was«, bot ­Valerie an. »Du kannst es inzwischen ja echt vertragen.«

»Du meinst, im Gegensatz zu früher, als du schlank und ich ein echtes Moppelchen war?« Schon wieder hatte sie die Frage schärfer vorgebracht, als Mia das eigentlich ­gewollt hatte.

­Valerie legte die Gabel weg und sah sie an.

»Hör mal, ich weiß, dass du es momentan besonders schwer hast, Mia. Und du musst mich auch nicht mögen. Aber vielleicht könnten wir ein wenig respektvoller mit­einander umgehen?«

Mia sagte nichts darauf. Und das war auch besser so. In ihr tobten die unterschiedlichsten Gefühle, und sie wusste nicht, wie sie diese unter Kontrolle bringen sollte. All die Jahre hatte sie sich gewünscht, dass ihre Schwester wieder da wäre, und jetzt war sie da, und doch konnte sie es nicht genießen, konnte sich noch nicht einmal so richtig darüber freuen, und nicht nur deswegen, weil der Tod ihres Vaters dieses Zusammentreffen überschattete. Mit ­Valeries ­Ankunft war alles wieder aufgebrochen, der ganze Schmerz von damals, all das, was sie so lange verdrängt hatte, kam wieder zum Vorschein.

»Oder ist es dir lieber, wenn ich ins Hotel gehe?«, unterbrach ­Valerie ihre Gedanken.

»Schon gut. Du kannst natürlich hierbleiben.«

»Nur noch ein paar Tage, dann bist du mich ohnehin wieder los«, sagte ­Valerie.

Mia schluckte. ­Valerie hatte recht. Es musste doch zu schaffen sein, dass sie sich wie zivilisierte Menschen verhielten.

»Vielleicht ist es aber auch an der Zeit, dass wir endlich mal über alles reden, Mia. Über Vater, Mutter, und wie es damals dazu kam, dass …«

»Bitte, ­Valerie. Nicht jetzt«, sagte Mia leise, aber eindringlich. »Ich … ich kann das jetzt nicht.«

»Na gut. Aber dir ist schon klar, dass wir irgendwann reden müssen?«, fragte ­Valerie.

»Ich weiß.«

»Okay und …«

In diesem Moment klingelte es an der Haustür, worüber Mia mehr als erleichtert war. Sie stand auf. Rudi hob den Kopf und machte sich dann mit ihr auf den Weg in den Flur.

­Sebastian und Max waren gekommen.

»Hey, ihr beiden«, begrüßte Mia sie erfreut.

»Hallo, Mia«, sagten die beiden gleichzeitig.

»Kommt doch rein.«

­Valerie kam in den Flur und begrüßte ­Sebastian und Max ebenfalls.

»Habt ihr Lust auf einen gemeinsamen Spaziergang?«, schlug ­Sebastian vor.

»Das ist eine gute Idee«, sagte ­Valerie. »Ein wenig Bewegung würde mir jetzt guttun.«

Doch Mia schüttelte den Kopf.

»Nein, danke«, winkte sie ab. »Ich hab noch ziemlich viel zu tun.«

»Ach komm, so wichtig wird das schon nicht sein«, sagte ­Sebastian.

»Doch. Außerdem ist mir jetzt echt nicht danach. Aber ihr könnt doch auch ohne mich gehen«, schlug Mia vor, die gerne ein wenig allein sein wollte.

»Na gut. Wenn du meinst.«

»Hast du vielleicht einen Schlüssel für mich, Mia?«, bat ­Valerie.

»Ja.« Mia zog die Schublade einer kleinen Kommode neben der Haustür auf. Ganz hinten in einem Beutel war ein Schlüssel mit einem Anhänger in Form eines Notenschlüssels.

»Hier. Das ist der von Papa.«

»Danke!«, sagte ­Valerie, sah ihn kurz an und steckte ihn ein, bevor sie in ihre Schuhe schlüpfte.

»Wie geht es dir denn überhaupt?«, fragte ­Sebastian Mia ein wenig leiser, während Max mit dem Hund spielte.

»Ich komme schon klar«, sagte sie und zuckte lapidar mit den Schultern.

»Das Kaminholz kommt wahrscheinlich Ende nächster Woche«, informierte er sie. »Ich helfe dir natürlich. Wie versprochen.«

»Danke, ­Sebastian.«

»Schon gut. Hör mal, die Sache mit der Schule und deinem Chor ist ja wirklich …«, begann er.

»Woher weißt du das?«, unterbrach Mia ihn sofort.

»Das hat sich natürlich schon im Ort rumgesprochen. Man hört die wildesten Gerüchte. Du kennst doch die Leute hier«, sagte er. »Ich weiß ja nicht, was genau passiert ist, aber das darfst du nicht akzeptieren, Mia.«

»Man kann nicht so einfach fristlos gekündigt werden«, mischte ­Valerie sich plötzlich ein. »Du musst dich da rechtlich beraten lassen.«

»Du weißt es auch?« Mia sah ­Valerie an.

»Ja«, antwortete ihre Schwester. »Und es tut mir echt leid für dich! Auch darüber wollte ich mit dir reden.«

»Da gibt es nichts zu reden!«, fuhr Mia sie an.

»Mia …«

»Gehen wir jetzt endlich?«, drängelte Max ungeduldig.

»Ja. Lasst den Max nicht so lange warten«, sagte Mia. »Und macht euch keine Gedanken um mich. Ich kümmere mich schon um meine Sachen.«

­Sebastian sah sie besorgt an.

»Du musst das nicht alles alleine schaffen, Mia.«

»Wenn ich Hilfe brauche, dann melde ich mich«, sagte sie etwas versöhnlicher und bemühte sich um ein Lächeln.

»Okay … und du willst wirklich nicht mitkommen?«, hakte er nach.

»Nein.«

»Schade, aber wie du meinst. Dann bis später!«, sagte ­Sebastian, und die drei machten sich auf den Weg.

Mia war erleichtert, als sie endlich weg waren. Sie hatte nicht gewollt, dass ihre Schwester erfuhr, dass sie ihren Job verloren hatte. Und ihr Mitleid wollte sie schon gar nicht. Wie sie wusste, war ­Valerie eine erfolgreiche Geschäftsfrau im Unternehmen ihres Stiefvaters. Da konnte sie als unbedeutende Lehrerin natürlich nicht mithalten. Und inzwischen war sie auch noch eine Lehrerin ohne Anstellung.

Doch trotzdem hatten ­Sebastian und ­Valerie natürlich recht. Sie durfte das nicht so ohne Weiteres hinnehmen. Gleich in der kommenden Woche wollte sie einen Versuch starten, mit Direktorin Wurm-Fischer zu sprechen.

Mia nutzte die Zeit allein, um einige E-Mails zu beantworten und auch noch vor der Haustür zu dekorieren. Hier stellte sie jedoch nur ein paar dicke Kerzen in Weckgläsern und einen Weihnachtsmann mit einer kleinen Laterne in der Hand auf, in die sie ein Teelicht steckte.

»Hallo, Mia!«, rief die Briefträgerin ihr zu, als sie gerade ins Haus gehen wollte.

»Hallo, Christine!«

»Mein herzliches Beileid.«

»Danke.«

»Diesmal habe ich einiges für dich.« Sie stellte ihr Fahrrad ab und holte einen Packen Briefe aus der großen Box, die vorne am Lenker befestigt war. Dann verabschiedete sie sich, und Mia ging mit der Post ins Esszimmer. Es waren hauptsächlich Trauerkarten. Doch ein Brief stach ihr ­sofort ins Auge. Absender war die Privatschule Schloss Willing. Mia schluckte, als sie das Kuvert aufriss. Ihre Kündigung. Jetzt war es offiziell. Damit erübrigte sich das geplante ­Gespräch mit Frau Wurm-Fischer. Ihr blieb nur noch die Möglichkeit, sich juristischen Rat zu holen, um die Rechtmäßigkeit der Kündigung anzweifeln und eventuell rückgängig machen zu lassen. Doch wollte sie das überhaupt noch? Die Direktorin hatte ihr von Anfang an das Leben schwer gemacht. Vielleicht war es ja besser, dieses Kapitel in ihrem Leben abzuhaken und sich an einer anderen Schule zu bewerben, die Mias Engagement zu schätzen wusste? Gleichzeitig widerstrebte es Mia, es dieser Frau so einfach zu machen. Zugegeben, sie war etwas aufbrausend gewesen, aber ansonsten hatte sie sich nichts zu Schulden kommen lassen. Sie würde nach der Beerdigung und ­Valeries Abreise noch mal in Ruhe über alles nachdenken und dann entscheiden, wie sie vorgehen würde.

Inzwischen hatte ­Sebastian eine Nachricht geschickt, dass sie zurück waren und bei ihm noch heiße Schokolade tranken. »Komm doch auch!«, hatte er geschrieben, doch Mia hatte dankend abgelehnt. Im Moment war ihr einfach nicht nach Gesellschaft zumute.

»Rudi! Wir gehen Gassi!«, rief sie schließlich dem Hund zu. Obwohl sie es gar nicht vorgehabt hatte, dehnte sich der Spaziergang zu einer langen Runde aus.

Rudi war begeistert über den Schnee und tollte auf einer abgelegenen Wiese fröhlich herum. Mia sah ihm eine Weile lang zu und freute sich, dass zumindest er so ausgelassen sein konnte. Sie hing unterdessen vielen Gedanken nach, die neben der Kündigung hauptsächlich die Situation mit ­Valerie betrafen. Sie war genervt, dass sie sich ungefragt in alles einmischte, kaum dass sie hier war. Als würde Mia es nicht auch allein schaffen. Aber sie war auch nicht gerade allzu nett zu ihr gewesen.

»Ach Papa«, sagte sie und seufzte mit einem hilflosen Blick gen Himmel. »Warum ist das alles so schwierig?«

Sie dachte an die letzten Stunden, die sie mit ihm verbrachte hatte. Als sie in der Nacht im Garten waren und er diese kleine Melodie gesummt hatte, an die sie sich jetzt plötzlich wieder erinnerte. Es war so ein friedlicher ­Moment gewesen. Leise begann sie zu summen und fühlte sich dabei ein wenig besser. Es war, als ob ihr Vater ihr ganz nah war und ihr Trost spendete. Damit verflüchtigte sich auch dieses seltsame Gefühl der Wut auf Gott und die Welt, das sie mit sich herumtrug.

Wieder warf sie einen Blick nach oben.

»Es ist wohl an der Zeit für ein ausführliches Gespräch mit ­Valerie. Nicht wahr?!«, murmelte sie.

Auf dem Nachhauseweg besorgte sie in einer Konditorei verschiedene Tortenstücke für sich und ­Valerie als eine Art Friedensangebot. Doch als sie zurückkam, war ­Valerie immer noch bei ­Sebastian und Max.

Sie nahm eine lange heiße Dusche, zündete den Kachelofen im Wintergarten an und machte es sich auf dem Sofa gemütlich. Sie zappte durchs Fernsehprogramm, um sich ein wenig abzulenken, bis es an der Haustür klingelte und Alma kam. Mia freute sich über ihre Gesellschaft. Bei Alma wusste sie, woran sie war und konnte auch einfach sie selbst sein.

»Lust auf Kaffee und was Süßes?«, fragte Mia. »Ich habe jede Menge Käsesahne und Sachertorte besorgt.«

»Gern ein Stück Sachertorte«, nahm Alma das Angebot an, während sie aus ihrer Jacke schlüpfte. »Wo ist denn ­Valerie?«

»Bei ­Sebastian und Max.«

»Und warum bist du nicht auch drüben?«

Mia zuckte mit den Schultern. »Mir war einfach nicht danach.«

»Du solltest nicht so viel allein sein.«

»Ich hab ja Rudi. Und dich.«

Sie gingen in den Wintergarten.

Alma sah sich erstaunt um.

»Oh wie schön! Hier ist ja auch schon dekoriert. Warst du das?«

»­Valerie hat mir geholfen.«

»Wann habt ihr beide das denn alles gemacht?«, fragte sie.

»Letzte Nacht … Ich konnte nicht schlafen.«

»Ach Mädchen.« Alma drückte Mia kurz an sich. »Dann kommt ihr also etwas besser klar?«

»Hmm, ja«, murmelte sie ausweichend. »Ich mache uns mal Kaffee«, sagte Mia und löste sich von ihr.

Sie trug gerade das Tablett mit Kaffee und Kuchen aus der Küche, da kam ­Valerie zurück.

»Schön, dass ich euch beide jetzt zusammen hier habe«, sagte Alma, nachdem sie zu dritt um den Tisch im Wintergarten saßen und jede mit Kaffee und Torte versorgt war. »Es gibt etwas, das ich mit euch besprechen muss.«

Alma griff nach ihrer großen Handtasche und holte ein ziemlich dickes braunes Kuvert heraus.

»Was ist das denn?«, wollte Mia wissen.

»Euer Vater hat mir das gegeben. Es ist schon eine Weile her. Und es war an einem Tag, an dem er ganz klar war. Er hat mich gebeten, es euch nach seinem Tod zu geben. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell der Fall sein wird.«

Almas Augen schimmerten verdächtig, und auch Mia schluckte.

»Bevor ich euch das aber gebe, möchte ich gerne noch etwas sagen … Mia, ich weiß, wie verzweifelt und traurig du bist, dass ­Albert so plötzlich starb. Aber so schlimm das auch ist – für euren Vater …«, nun wandte sie sich wieder an beide, »für ­Albert war es ein Geschenk, dass er auf diese Weise gehen durfte. Er hat mir einmal anvertraut, dass er am meisten Angst davor hat, er könnte seine Würde verlieren, wenn er durch die Krankheit irgendwann überhaupt nicht mehr wissen sollte, wer er ist und was er tut. Aber das ist ihm, Gott sei Dank, erspart geblieben.«

Bei diesen Worten kullerten Tränen über ihre Wangen, und auch Mia weinte. ­Valerie räusperte sich, sie kämpfte ebenfalls sichtlich um ihre Fassung.

»Euer Vater durfte mit Würde gehen. Und das ist wirklich ein Geschenk. Für ihn und für euch«, sagte Alma ­abschlie­ßend. Sie ergriff jeweils eine Hand der Schwestern und drückte sie schweigend.

Schließlich löste Alma sich und drückte Mia das Kuvert in die Hand.

»Das ist für euch. Und ich lasse euch jetzt besser damit alleine.«

»Danke, Alma«, sagte ­Valerie leise.

Mia konnte nichts sagen und nickte ihr nur zu.

Alma stand auf und verabschiedete sich. Mia legte das Kuvert auf den Tisch und begleitete sie zur Tür.

Als sie zurückkam, sah ­Valerie sie fragend an.

»Sollen wir das jetzt öffnen?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete Mia, obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie das wirklich wollte.

»Dann sehen wir mal nach«, sagte ­Valerie entschlossen und öffnete das Kuvert.

Sie zog einen schmalen weißen Umschlag heraus, auf dem das Wort Testament geschrieben stand, zusammen mit einem weiteren dicken braunen Kuvert, auf dem Für ­Valerie stand. ­Valerie reichte Mia das Testament.

»Lies du es bitte«, sagte sie.

Mit zitternden Fingern öffnete Mia das Kuvert und holte den Brief heraus. Die letzte Nachricht ihres Vaters! Schon wieder brannten Tränen in ihren Augen. Sie räusperte sich und begann dann zu lesen:

»­Valerie und Mia, meine beiden geliebten Töchter. Der Tag, an dem eure Mutter euch zur Welt gebracht hat, war für mich der wundervollste in meinem Leben. Ich danke Gott, dass es euch gibt.« Mia ließ den Brief sinken. Sie konnte nicht mehr weiterlesen.

­Valerie nahm ihn ihr aus der Hand. »Leider hat das Schicksal es uns nicht einfach gemacht und uns ­getrennt …«, fuhr sie fort. »… doch ich hoffe von Herzen, dass es zumindest euch beide inzwischen wieder zusammengeführt hat. Nichts wünsche ich mir mehr. Und bitte verzeiht mir alle Fehler, die ich gemacht habe. Könnte ich die Zeit zurückdrehen, würde ich vieles anders machen. Doch leider ist das nicht möglich.«

Auch ­Valerie musste kurz innehalten, las dann jedoch weiter. »Ich, ­Albert Garber, bestimme mit meinem letzten Willen, dass meine Töchter ­Valerie und Mia das Haus am Chiemsee, die Rechte an meinen Musikstücken und alles, was ich besitze, zu gleichen Teilen erben. Ich wünsche euch eine glückliche Zukunft und habe euch immer lieb! Euer Papa … Datum und Unterschrift«, beendete ­Valerie und wischte sich nun auch eine Träne aus dem Gesicht.

Danach herrschte für einige Sekunden Stille.

Mia musste erst einmal verarbeiten, was ­Valerie eben vorgelesen hatte. So sehr sie den letzten Willen ihres Vaters ­respektierte und sich über die berührenden Worte freute, so wenig konnte sie im ersten Moment nachvollziehen, warum er das Haus beiden Schwestern vererbt hatte. ­Valerie lebte doch in New York. Und Mia würde es sich niemals leisten können, ihr den Anteil auszuzahlen. Zudem war ihre Schwester so vermögend, dass sie gewiss nicht auf das Erbe angewiesen war. Kaum war ihr das durch den Kopf gegangen, schämte sie sich für ihre Gedanken. Sie wollte nicht so sein wie ihre Mutter, für die Geld immer ein unglaublich wichtiges Thema gewesen war.

­Valerie sah Mia an, als ob sie auf irgendeine Reaktion von ihr wartete. Doch Mia wusste nicht, was sie jetzt hätte sagen sollen.

»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich etwas von ihm erben würde«, murmelte ­Valerie schließlich.

»Es steht dir zu«, sagte Mia bemüht, war aber auch irgendwie enttäuscht, dass ihr Vater beide Kinder in seinem Testament gleich behandelt hatte.

»Trotzdem …«

»Willst du das andere Kuvert nicht öffnen?«

­Valerie nahm das dicke braune Kuvert in die Hand. Sie schien zu zögern und wirkte fahrig, was Mia sehr überraschte.

»Na gut«, sagte sie schließlich, riss es auf und kippte den Inhalt auf den Tisch. Etwa zwanzig ungeöffnete Briefe rutschten heraus. Alle adressiert an ­Valerie in New York.

­Valerie starrte auf die Briefe. Sie war blass geworden.

»Er hat so oft von dir gesprochen, ­Valerie«, sagte Mia leise.

»Ach ja?«, ­Valerie fuhr Mia völlig unerwartet an. »Hat er das?«

Mia sah sie überrascht an. Sie war davon ausgegangen, dass ­Valerie sich freuen, ja berührt sein würde über die Briefe ihres Vaters. Doch das Gegenteil war der Fall. Ihre sonst so beherrschte Zwillingsschwester blitzte sie wütend an.

»Jetzt werden also die berühmten Briefe aus dem Hut gezaubert, die nie abgeschickt wurden? Und die einem zeigen sollen, wie sehr man geliebt und vermisst wurde? Was ist das für ein verdammter Mist? Darauf kann ich sowas von verzichten.«

»­Valerie …«, begann Mia erschrocken über ihren unerwarteten Ausbruch.

»Ja? Was? Was denn, Mia?«, schrie ihre Schwester sie an und stand abrupt auf. »Soll ich mich etwa darüber freuen? Achtzehn Jahre lang habe ich darauf gewartet, ihn endlich wiederzusehen. Und jetzt bleiben mir nur ein paar alte Briefe, mit denen ich mich zufriedengeben soll?«

Aufgebracht ging sie auf und ab.

»Es lag ja wohl nicht nur an ihm, dass ihr euch nicht ­gesehen habt«, schoss Mia nun zurück, die das Gefühl hatte, ihren Vater verteidigen zu müssen. »Du hättest lange vorher Gelegenheit gehabt, ihn zu besuchen.«

­Valerie blieb stehen und sah sie an. Mia konnte sich nicht erinnern, dass sie ­Valerie in ihrer Kindheit jemals so wütend erlebt hatte.

»Ach ja? Ich hätte ihn also besuchen sollen, nachdem er mich erst einmal ein paar Jahre völlig aus seinem Leben gestrichen hatte und kein einziges Mal kam, um mich zu sehen? Dabei konnte er ansonsten in der ganzen Welt herum­fliegen, wenn es um seine Arbeit ging. Kannst du dir vorstellen, wie weh es mir tat, als ich herausfand, dass er ­beruflich sogar zweimal in New York war, sich aber nicht bei mir gemeldet hatte?«

»­Valerie, es war doch …«

Doch sie ließ Mia nicht ausreden.

»Weißt du überhaupt, wie sehr ich ihn und dich vermisst habe?«, rief sie verzweifelt.

»Ja glaubst du denn, ich euch nicht?« Mia stand nun auch auf.

»Du? Uns vermisst? Du wolltest doch noch nicht mal mit Mutter telefonieren!«, warf ­Valerie ihr vor.

»Weil sie dich uns weggenommen hat! Sie hat unsere Familie kaputt gemacht, ­Valerie.«

­Valerie trat einen Schritt zurück und fuhr sich durch die Haare. Sie wirkte völlig aufgelöst und sogar ein wenig verwirrt.

Mia hatte plötzlich Mitleid mit ihr.

»Vater wollte dir mit diesen Briefen zeigen, wie wichtig du ihm warst, ­Valerie. Verurteile ihn nicht dafür«, versuchte sie, ihr in ruhigem Ton zuzureden.

»Du verstehst es nicht«, sagte ­Valerie und schüttelte den Kopf. »Diese Briefe zeigen mir was anderes. Sie zeigen mir, dass ich ihm nicht wichtig genug war. Einen Brief schreiben, das kann jeder. Aber mir die Gelegenheit zu ­geben, mit ihm zu sprechen, noch einmal von ihm umarmt zu werden, das hat er mir genommen. Und daran kann ich nichts mehr ­ändern, egal, wie sehr ich es mir wünsche. Und du, du hast genauso dazu beigetragen«, warf sie Mia vor. »Ich habe euch damals zur Feier bei meinem Universitätsabschluss eingeladen. Ich hatte gedacht, es könnte für uns alle eine Versöhnung werden, nach all den Jahren. Aber du hast dich zuerst gar nicht gemeldet, und als ich noch mal nachfragte, hast du gesagt, Vater könne aus Termingründen nicht reisen.«

Mia spürte, wie ihre Kehle plötzlich eng wurde. Sie kämpfte mit Schuldgefühlen. Ja, sie hatte die Einladung ausgeschlagen. Doch das hatte einen Grund gehabt.

»Vater ging es nicht gut«, versuchte sie zu erklären. »Wir hatten nur wenige Tage vorher die Diagnose erfahren, dass er an Alzheimer erkrankt war. Wir waren total ­geschockt. Ich konnte damals überhaupt nicht absehen, ob so eine Reise für ihn nicht viel zu aufwühlend gewesen wäre.«

»Das mag sein. Aber du hättest es mir sagen müssen, Mia. Dann hätte ich nicht das Gefühl gehabt, dass ich ihm nicht wichtig genug bin, um nach New York zu fliegen. Ich hätte zu ihm reisen und mich mit ihm aussprechen können. Drei Jahre hattest du Zeit, mich anzurufen. Und du hast es nicht gemacht.«

»Aber du sagtest doch damals, dass du künftig nichts mehr mit uns zu tun haben willst«, verteidigte sich Mia.

»Ernsthaft? Es hat mich damals große Überwindung ­gekostet, euch einzuladen. Weil ich Angst hatte, dass Vater und du vielleicht ablehnen würdet. Dabei habe ich mir nichts mehr gewünscht, als euch wiederzusehen. Und was ist passiert?« Sie lachte bitter. »Du hast tatsächlich abgesagt! Das, was ich am meisten gefürchtet hatte, ist ein­getroffen. Wieder war ich ihm nicht wichtig genug, als dass er mich sehen wollte. Und aus dieser Enttäuschung heraus hab ich gesagt, dass ich überhaupt keinen Kontakt mehr zu euch möchte!«

Mia schluckte.

»Aber dass Vater krank war und seine Erinnerung mehr und mehr verlieren würde, hätte ich wissen müssen«, fuhr ­Valerie fort.

»Ich wollte es dir ja sagen. Ehrlich. Ich habe nur den richtigen Zeitpunkt nicht gefunden«, versuchte Mia, sich zu verteidigen. »Niemals hätte ich damit gerechnet, dass Papa so bald stirbt!«

Doch das schien ­Valerie nicht im Mindesten zu beschwich­tigen, im Gegenteil.

»Und wie lange hättest du damit noch warten wollen? Bis er durch die Krankheit ohnehin nicht mehr mit mir hätte reden können? Weil er mich komplett vergessen hatte?« ­Valerie stand nun ganz nah vor Mia. »Oder hatte er das vielleicht schon?«

Mia erkannte in den Augen ihrer Schwester, dass neben der Wut auch enttäuschte Verzweiflung über die verpassten Chancen aus ihr sprach. Doch sie konnte das Versprechen nicht brechen, das sie ihrem Vater gegeben hatte, weil er auf keinen Fall gewollt hatte, dass ­Olivia von seiner Krankheit erfuhr.

»Ich würde es nicht ertragen, wenn ­Olivia mich bemitleidet«, hatte er gesagt und damit auch in Kauf genommen, weder ­Olivia noch ­Valerie jemals wiederzusehen.

Mia wusste nicht, wie sie ­Valerie das beibringen sollte, ohne sie womöglich noch mehr gegen ihren Vater aufzubringen. Vielleicht war es besser, wenn Mia die Schuld auf sich nahm?

»Jetzt habe ich nur diese verdammten Briefe«, riss ­Valerie sie aus ihren Gedanken. »Die ich niemals beantworten kann! Was glaubst du, wie ich mich damit fühle?«

Aufgebracht schob sie die Briefe zusammen und warf sie in den Abfalleimer.

Mia war total schockiert.

»­Valerie, spinnst du? … Du kannst sie doch nicht wegwerfen?«

Ihre Schwester drehte sich zu ihr um. Ihr Blick war nun eisig.

»Ich will das alles nicht lesen, denn für mich spielt es keine Rolle mehr, was er zu sagen hat. Es war ein riesen­großer Fehler, dass ich hergekommen bin! Ich werde bis zur ­Beerdigung bleiben. Aber nicht mehr hier in diesem Haus. Du hast es heute ohnehin auf den Punkt gebracht: Ich bin nur Gast hier. Das will ich aber nicht sein, Mia. Ich nehme mir ein Hotelzimmer! Dort bin ich wenigstens willkommen.«

Damit rauschte sie hinaus.

Mia sah ihr hinterher und fühlte sich schrecklich. Damals war es ihr richtig erschienen, ­Alberts Wunsch zu respektieren. Zudem war sie selbst überfordert gewesen. Der Umzug an den Chiemsee, die neue Arbeit, ihr Vater, der immer ­öfter Aussetzer hatte. Das alles hatte ihre ganze Kraft gekostet.

Doch jetzt war ihr klar, dass es ein großer Fehler gewesen war, dieses Gespräch immer weiter hinauszuschieben. Und nicht nur das. Sie hatte ihrem Vater damals gar nichts von der Einladung zur Abschlussfeier erzählt. Vielleicht hätte er ja anders entschieden und es den beiden doch gesagt?

­Albert hatte in seinem Testament geschrieben, er würde die Zeit gerne zurückdrehen. Oh, wie gerne würde Mia das nun auch tun. Doch daran ließ sich nichts mehr ändern.

Erschöpft und unglücklich ließ sie sich in den Stuhl ­sinken. Sie hatte keine Kraft, zu ­Valerie nach oben zu gehen und sie zu überreden, doch noch hierzubleiben. Ihr war klar, dass es zwecklos sein würde. Rudi kam aus der Wohnküche, wo er auf seiner Decke geschlafen hatte. Das Tier sah sie aus seinen hellen Augen mitleidig an. Er schien zu ­spüren, wie schlecht es Mia ging. Sanft stupste er sie mit seiner Schnauze an.

»Ach, Rudi«, murmelte Mia und streichelte gedankenverloren über seinen Kopf.

Sie wusste nicht, ob fünf Minuten oder eine Stunde vergangen waren, als sie hörte, wie ­Valerie die Treppe nach unten ging und kurz darauf die Haustür ins Schloss fiel.