Das Taxi wartete bereits, als Valerie aufgewühlt das Haus verließ. Das Testament, die Briefe und der Streit mit Mia hatten sie völlig aus der Bahn geworfen. Sie hatte vorhin tatsächlich die Nerven verloren. Dabei hatte sie ihr Leben lang immer versucht, sich unter Kontrolle zu haben, egal wie aufgewühlt sie war oder mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen hatte. Zumindest sollten andere Menschen ihr nicht ansehen können, wie es in ihr aussah. Damit war sie die letzten Jahre ziemlich gut gefahren. Doch hier am Chiemsee schien sie nicht mehr Herrin über ihre Gefühle zu sein.
»Wohin soll es gehen?«, fragte die ältere Taxifahrerin, nachdem sie eingestiegen war.
»Zum Yachthotel, bitte«, antwortete Valerie, die dort bereits telefonisch ein Zimmer reserviert hatte.
»Gern.«
Die Entfernung war nicht allzu weit, und als sie knapp zehn Minuten später die Lobby betrat, verspürte sie ein vages Gefühl der Erleichterung. Der dezente Luxus, den das traumhaft am See gelegene Viersternehotel ausstrahlte, erinnerte sie mehr an ihre Welt in New York. Hier fiel es ihr leichter, die aufgewühlten Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen und hinter einer Maske zu verstecken.
»Einen wunderschönen Aufenthalt in unserem Haus«, wünschte der junge Angestellte freundlich, nachdem er auf die Frühstückszeiten und den weitläufigen Wellnessbereich mit Schwimmbad hingewiesen hatte.
»Danke«, sagte sie.
Sport wäre jetzt genau das Richtige, um sich abzureagieren. Doch natürlich hatte sie für ihre Reise keinen Badeanzug eingepackt. Die Bekleidungsgeschäfte in Prien hatten am späten Samstagnachmittag bereits geschlossen. Nachdem sie ihr Zimmer bezogen hatte, mietete sie einen Wagen, um in den nächsten Tagen mobil zu sein und fuhr nach Rosenheim. In der Sportabteilung eines Kaufhauses fand sie einen Badeanzug und trank danach in einem kleinen Café einen Espresso, bevor sie wieder zurück nach Prien fuhr. Da sie in New York nur ganz selten selbst mit dem Auto unterwegs war, genoss sie den kleinen Ausflug nach Rosenheim, der sie ein wenig ablenkte.
Im Hotelpool zog sie so lange ihre Bahnen, bis sie langsam die Erschöpfung in ihren Gliedern spürte. Doch die Bewegung half tatsächlich, ihr Gleichgewicht wieder einigermaßen herzustellen.
Jetzt lag sie in einem flauschigen Bademantel auf dem Bett in ihrem Zimmer und schaute durch das Fenster hinaus auf den See, der im Dunklen geheimnisvoll funkelte. Die aufgeschlagene Speisekarte lag neben ihr, doch sie hatte sich noch nicht entscheiden können, was sie essen wollte. Sie wusste nicht, ob sie überhaupt einen Bissen hinunterbringen würde.
Obwohl sie das Gefühl hatte, jetzt wieder mehr in sich zu ruhen, hatte sich seit dem Nachmittag etwas unwiderruflich verändert. Durch das Testament und die Briefe hatte sie sich endgültig der Tatsache stellen müssen, dass sie ihren Vater nie mehr sehen würde, dass sie nie mehr eine Gelegenheit haben würde, sich mit ihm auszusprechen. Ihren hilflosen Zorn darüber hatte sie an Mia ausgelassen. Und im Moment konnte sie ihr auch nicht verzeihen, dass sie Valerie nichts von seiner Krankheit erzählt hatte.
Doch gleichzeitig nagten bittere Selbstvorwürfe an ihr. Warum war sie nicht schon viel früher einfach in ein Flugzeug gestiegen und nach Bayern geflogen, um ihren Vater und Mia zu besuchen? Was hatte sie davon abgehalten? Ihre Mutter? Olivia hatte sie tatsächlich niemals dazu ermuntert, Kontakt zu ihrem Vater aufzunehmen, geschweige denn, ihn zu treffen.
In den ersten Jahren nach der Trennung war der Kontakt völlig abgebrochen. Erst nach und nach hatte es eine vorsichtige Annäherung mit gelegentlichen Telefonaten an besonderen Feiertagen gegeben. Doch die Situation war schwierig geblieben. Für Mia war Olivia die einzige Schuldige an der ganzen Misere, und wann immer Valerie um Verständnis für ihre Mutter warb, hatten die Schwestern darüber einen heftigen Streit vom Zaun gebrochen und sich noch mehr voneinander entfernt.
Schlimm genug, doch nur wenige Monate später hatte Valerie erfahren, dass Albert beruflich in New York gewesen war. Ihr Vater war ihr so nah gewesen und hatte sie ganz offensichtlich nicht sehen wollen. Damals war für sie erneut eine Welt zusammengebrochen. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, hätte sie eine Aussprache erzwingen sollen. Sie konnte nach wie vor nicht verstehen, was damals passiert war. Doch aus Angst vor einer weiteren Enttäuschung hatte sie bis zum Ende ihres Studiums gewartet. Gefestigt, wie sie dachte, und mit dem beflügelnden Gefühl des erfolgreich absolvierten Abschlusses, hatte sie ihren Vater und Mia eingeladen, ohne jedoch Olivia in ihr Vorhaben einzuweihen. Im Nachhinein war sie froh, es nicht getan zu haben. Denn so musste sie die erneute Enttäuschung nur mit sich selbst ausmachen.
Damit war sie wieder an dem Punkt angekommen, ihre Schwester zu verteufeln, weil sie ihr damals die Gründe für die Absage verschwiegen hatte. Nichts hätte sie mit dem Wissen um die Krankheit ihres Vaters aufhalten können, ihn zu besuchen.
Ihr Handy klingelte. Mia! Als ob sie von ihren Gedanken angezogen worden wäre! Valerie spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte, ließ es aber klingeln. Sie stand auf, nahm sich eine Flasche Saft aus dem kleinen Kühlschrank und schaltete den Fernseher ein. Kurz darauf meldete das Handy eine Sprachnachricht, die sie ebenfalls ignorierte. Ein paar Minuten später kam eine WhatsApp-Nachricht. Sie seufzte genervt und wollte das Handy schon ausschalten. Doch die Nachricht war nicht von Mia, sondern von Sebastian.
Max fragt, ob du morgen mal rüberkommst, um mit ihm wieder ein Autorennen zu fahren?
Valerie musste lächeln. Die Stunden, die sie heute mit Sebastian und Max verbracht hatte, waren eine erholsame kleine Auszeit gewesen. Nach dem Spaziergang hatte Sebastian sie auf heiße Schokolade und Kekse eingeladen.
»Ich frage Mia, ob sie auch kommen mag«, hatte er gesagt und ihrer Schwester eine Nachricht geschrieben. Doch Mia hatte abgelehnt.
»Mia hat zwei Phasen, wenn es ihr nicht gut geht. Entweder sie poltert laut herum oder sie zieht sich zurück«, hatte er Valerie erklärt. »Normalerweise dauert es aber nicht lange, bis sie wieder auftaucht. Trotzdem wäre mir wohler, wenn sie sich gerade jetzt nicht abschotten würde.«
»Vielleicht sollte ich gleich zu ihr rübergehen?«, hatte Valerie vorgeschlagen.
»Für eine Tasse Kakao und ein paar Kekse kannst du schon noch bleiben … Magst du Sahne darauf?«
»Besser nicht. Sonst wird mir das zu viel«, hatte sie abgelehnt.
»Aber ich mag Sahne«, hatte Max gerufen. »Ganz viel sogar.«
Später hatte der Kleine ihr sein Zimmer gezeigt, in dem eine große Carrerabahn aufgebaut war, die er zu seinem letzten Geburtstag bekommen hatte.
»Spielst du mit mir, Valerie?«, hatte er sie aufgefordert.
»Ja, wenn du möchtest.«
»Mia hat immer das blaue Auto und ich das rote. Magst du auch das blaue?«
»Klar.«
Überraschenderweise hatte sie sich ziemlich geschickt angestellt und Max schon beim zweiten Versuch geschlagen.
»Nächstes Mal gewinne ich aber wieder!«, hatte er gerufen und konzentriert die Autos wieder in die Spur gesetzt. Das glückliche Lachen, als er sie beim nächsten Rennen tatsächlich schlug, war so ansteckend gewesen, dass sie fröhlich mitgelacht hatte.
»Na warte. Ich verlange Revanche!«, hatte sie gefordert und mit ihm ein paar weitere Rennen ausgetragen, die mal er, mal sie gewonnen hatte.
»Ich will ja kein Spielverderber sein, aber Max, du musst gleich zum Fußballtraining«, hatte Sebastian die beiden schließlich unterbrochen.
»Und ich muss rüber zu Mia … Danke für die leckere heiße Schokolade und die Kekse, Sebastian.«
»Jederzeit gerne wieder!«
Zunächst war sie erfreut gewesen, dass Alma zu Besuch war. Doch dann hatte diese den Schwestern das Testament und die Briefe übergeben, die schließlich zum großen Zerwürfnis geführt hatten.
Valerie griff nach dem Handy und tippte eine Antwort:
Ich bin inzwischen im Hotel. Vielleicht komme ich morgen Nachmittag mal bei euch vorbei, wenn es da bei euch passt.
Valerie hatte die Nachricht kaum abgeschickt, da klingelte schon das Handy.
»Du bist im Hotel?«, fragte Sebastian sofort. »Was ist denn passiert?«
Valerie überlegte kurz, wie viel sie ihm sagen wollte. Schließlich waren er und Mia beste Freunde.
»Ach, Mia und ich hatten eine Auseinandersetzung«, versuchte sie die Sache herunterzuspielen. »Vielleicht war es ein Fehler, dass ich nicht gleich ins Hotel gegangen bin. Immerhin habe ich sie mit meinem Besuch mehr oder weniger überrumpelt.«
»Ich glaube nicht, dass du sie überrumpelt hast, Valerie. Mia hat offenbar geahnt, dass du kommen würdest. Deswegen hat sie auch sofort das Zimmer für dich hergerichtet.«
»Trotzdem – wir kennen uns doch eigentlich gar nicht mehr. Letztlich sind wir wie Fremde füreinander.«
Für einige Sekunden herrschte Stille in der Leitung.
»War der Streit so schlimm?«, fragte Sebastian.
»Ja …«
»Willst du darüber reden?«
»Eigentlich nicht.«
»Und uneigentlich?«
Sie musste lächeln. Es war nicht ihre Art, Probleme mit anderen zu besprechen. Doch in dieser Situation war das anders. Sebastian kannte Mia.
»Na gut«, sagte sie zu ihrer eigenen Überraschung, und dann erzählte sie ihm, was passiert war. Zunächst versuchte sie, möglichst sachlich zu bleiben, doch schon rasch redete sie sich in Rage.
»Verstehst du das? Das hätte sie nicht machen dürfen! Und jetzt diese Briefe? Darauf kann ich wirklich verzichten«, endete sie schließlich aufgebracht.
Sebastian hatte ihr zugehört, ohne sie zu unterbrechen.
»Valerie, ich kann verstehen, dass du dich darüber aufregst«, sagte er nun verständnisvoll. »Vielleicht ist ein kleiner Abstand jetzt tatsächlich genau richtig für euch. Aber …«
»Aber was?«
Inzwischen war sie aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab.
»Aber alles hat immer zwei Seiten«, fuhr er fort. »Ihr müsst euch die Zeit nehmen und euch zusammensetzten. Und dann nochmal versuchen, in Ruhe über alles zu reden«, schlug er vor.
»Das bringt doch nichts … Zumindest nicht jetzt. Vielleicht müssen wir erst noch ein paar weitere Jahre verstreichen lassen. Und es dann erneut versuchen«, sagte sie bitter.
»Valerie …«
»Nein, Sebastian, ich meine das ernst. Und ich möchte jetzt auch nicht mehr darüber reden …« Sie hatte nach dem schwierigen Tag heute tatsächlich keine Energie für weitere Diskussionen.
Sebastian zögerte kurz mit einer Antwort, dann sagte er: »Okay … Versprochen. Ich werde nichts mehr dazu sagen.«
»Danke, Sebastian … Dann wünsche ich dir einen guten Abend und …«
»Deswegen müssen wir doch nicht gleich aufhören zu telefonieren«, unterbrach er sie. »Was hast du denn für morgen vor?«
»Ich? Keine Ahnung«, sagte sie. Darüber hatte sie sich bisher noch keine Gedanken gemacht.
»Hör mal, ich möchte nicht, dass du den ganzen Tag allein im Hotel hockst … Wo bist du eigentlich abgestiegen?«
»Im Yachthotel«, antwortete Valerie.
»Ah – mein Mitleid sollte sich bei so einer Umgebung wohl in Grenzen halten«, sagte er, und sie vermeinte, ein Lächeln in seinen Worten zu hören.
»Zugegeben. Es lässt sich hier aushalten«, sagte sie.
»Trotzdem. Einsam kann man auch unter Menschen an den schönsten Orten sein.«
»Das macht mir nichts aus. Echt nicht.«
»Aber mir … Max und ich kommen dich morgen Vormittag abholen. Sei um zehn Uhr fertig, und zieh dir bitte was Warmes an.«
»Ist das dein Ernst? Was hast du denn vor?«
»Das wirst du morgen herausfinden … Ich muss jetzt los und schnell noch was mit Max besorgen. Mach’s gut, Valerie!«
Und damit legte er auf. Valerie schaute verdutzt aufs Handy und schüttelte dann lächelnd den Kopf.
»Na gut, dann bis morgen, Sebi«, murmelte sie und legte das Handy zur Seite. Dann griff sie nach der Speisekarte.
Nach dem Gespräch mit Sebastian verspürte sie jetzt tatsächlich etwas Appetit. Sie hob den Hörer des Telefons ab und drückte die Taste für den Zimmerservice.