Kapitel 17

MIA

Mia wusste im Nachhinein nicht mehr, wie sie die Beerdigung überstanden hatte, ohne am offenen Grab zusammenzubrechen. Alma war ihr nicht von der Seite gewichen, während ­Sebastian sich um ­Valerie gekümmert hatte. Die Schwestern selbst hatten nur die nötigsten Höflichkeiten ausgetauscht.

Anschließend waren sie zur Kirche gefahren, die so überfüllt war, dass viele Besucher stehen mussten. Mia saß in der ersten Reihe neben ­Valerie, und das Einzige, das sie wirklich bewusst wahrnahm, war der Gesang des Chores. Als der Pfarrer von ­Alberts Leben und Wirken erzählte, griff sie, wie in einem Reflex, nach der behandschuhten Hand ihrer Schwester.

Durch ihren Tränenschleier hindurch sah Mia, wie irritiert ­Valerie sie ansah. Fast meinte sie zu spüren, dass ­Valerie ihre Hand wegziehen wollte, doch stattdessen drückte sie ihre Hand kurz, hielt sie weiter fest und sah wieder zum Pfarrer. Und egal, wie sehr sie sich entzweit hatten, offenbar gab es da immer noch ein unsichtbares Band aus der Vergangenheit, das die Zwillingsschwestern in dieser schwierigen Stunde zusammenhielt.

Als die Besucher am Ende in langen Reihen nach vorne gingen und sich vom Messdiener ein Sterbebildchen von ­Albert geben ließen, entdeckte Mia nicht nur einige ihrer Schüler und Lehrer aus dem Kollegium, sondern zu ihrer Überraschung auch Frau Wurm-Fischer, die mit ausdrucksloser Miene an ihr vorbeimarschierte. Mia ging nicht davon aus, dass sie gern hier war. Sie hatte sich als Schulleiterin offenbar verpflichtet gefühlt, da ­Albert in der Gegend doch sehr bekannt war und auch Schulleiter anderer Schulen am Gedenkgottesdienst teilnahmen.

Da ihr Vater keine Kremess – wie man in Bayern zum Leichenschmaus sagt – gewollt hatte, sollte es nach der Kirche nur für Familie und engste Freunde zu Hause Kaffee und Kuchen geben, den Alma für heute gebacken hatte.

»Wir fahren schon mal vor. Du kommst doch gleich nach?«, sagte Mia zu ­Valerie, nachdem sich der Platz vor der Kirche langsam geleert hatte. Sie hoffte sehr, dass ­Valerie ihre Streitigkeiten zumindest für heute vergessen konnte. Ein Anfang in der Kirche war immerhin gemacht.

»Ja. Ja, klar … ich hole nur noch den Wagen. Den habe ich ganz hinten geparkt«, sagte ­Valerie, und ihre Stimme klang sehr kratzig.

»Gut … Dann bis gleich … Ach, ­Valerie?«

­Valerie drehte sich noch mal zu ihr um.

»Ja?«

»Die Blumen, die du ausgesucht hast für den Kranz, sie … sie sind wirklich wunderschön, und ich weiß, dass … Papa hätte sich sicher darüber gefreut.«

Auf ­Valeries Gesicht erschien ein trauriges Lächeln. Zu ihrer völligen Überraschung trat sie auf Mia zu und drückte sie kurz an sich.

»Danke, Mia«, sagte ­Valerie.

Mia schaute ihr hinterher, wie sie, sehr elegant in ihrem schwarzen Mantel und den hohen Stiefeln, in Richtung Parkplatz ging.

Eineinhalb Stunden später sah Mia zum wiederholten Male auf die Uhr. Der Pfarrer hatte sich vor ein paar Minuten verabschiedet, weil er noch einen anderen Termin hatte. Und ihre Schwester war immer noch nicht da.

»Sie geht nicht ans Handy«, sagte ­Sebastian, der sich langsam Sorgen zu machen schien.

»Vielleicht hat sie irgendwer aufgehalten?«, spekulierte Alma.

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Mia. »Sie kennt doch kaum mehr jemanden hier.«

»Aber es waren einige ehemalige Mitschüler aus eurem Jahrgang auf der Beerdigung«, warf ­Sebastian ein.

»Stimmt. Das kann sein«, murmelte Mia und hoffte, dass es tatsächlich eine so einfache Erklärung gab. Allerdings hegte sie eher den Verdacht, dass ­Valerie es sich anders überlegt hatte und doch nicht hier sein wollte. Falls es so war, musste sie das akzeptieren.

»Mag noch jemand Kaffee?«, fragte sie. »Oder ein Stück Kuchen?«

Alma schüttelte den Kopf.

»Ja. Noch Kaffee, bitte«, sagte ­Sebastian.

Es klingelte an der Tür.

»Vielleicht ist sie das?«, rief Mia, drückte ­Sebastian die Kaffeekanne in die Hand und ging hinaus. Doch schon durch das Milchglasfenster der Tür sah sie, dass es nicht ­Valerie war.

»Hallo, Rosa!«, begrüßte sie Almas Schwägerin, die Rudi zurückbrachte. Der Hund wedelte vor Freude darüber, wieder daheim zu sein, wild mit dem Schwanz.

»Schon gut, mein Rudi«, sagte Mia und streichelte seinen Kopf, bevor sie mit den beiden zurück in den Wintergarten ging.

»Ich rufe mal im Hotel an«, sagte ­Sebastian und griff nach seinem Handy. Ein paar Minuten später schüttelte er ungläubig den Kopf.

»Komisch. Sie hat schon heute früh ausgecheckt«, sagte er verwundert. »Ich verstehe das nicht. Ihr Flug geht doch erst morgen.«

»Vielleicht will sie die letzte Nacht ja doch noch mal hier im Haus verbringen?«, überlegte Alma.

»Das könnte echt sein«, stimmte ­Sebastian ihr zu, und Mia bemerkte, wie dieser Gedanke ihn wieder zum Lächeln brachte.

Doch Mia glaubte das nicht. Ein ungutes Gefühl ­beschlich sie. Sie griff nach dem Handy und wählte ­Valeries Nummer.

Es klingelte viermal, bevor die Mailbox ansprang.

»Hey, ­Valerie. Wir warten hier alle auf dich. Bitte ruf mich an, wenn du das abhörst, wir machen uns Sorgen«, hinterließ sie eine Nachricht und legte auf.

Es dauerte jedoch noch eine weitere Stunde, bis ­Valerie sich bei ihr meldete:

Bin am Flughafen und fliege heute schon zurück. Es ist ­be sser so für uns alle, hatte sie geschrieben. Mehr stand da nicht.

­Sebastian hatte offenbar eine ähnliche Nachricht bekom­men, denn er starrte ziemlich betreten auf sein Handy. »Warum macht ­Valerie das bloß?«, murmelte er fassungslos. »Einfach so abzuhauen, ohne sich von uns zu verabschieden?«

»Weil wir ihr egal sind«, sagte Mia bitter.

»Wir sind ihr nicht egal«, sagte sie ein paar Stunden ­später. Inzwischen war es Nacht geworden, und Alma und Rosa hatten sich ebenfalls verabschiedet. Mia und ­Sebastian saßen im Esszimmer und hatten fast eine Flasche Rotwein geleert. »Sie ist immer noch wütend auf mich, weil ich ihr das mit Papa nicht gesagt habe. Deswegen ist sie einfach so verschwunden.«

»Aber, falls das wirklich der Grund ist, warum hat sie sich dann nicht wenigstens von mir verabschiedet?«, warf ­Sebastian ein und schenkte den letzten Rest Rotwein in Mias Glas.

»Sie wollte dich wahrscheinlich nicht in einen Gewissenskonflikt bringen«, überlegte Mia.

»Oder sie hatte Angst, dass …«, begann er, stockte dann aber. »Hast du noch Wein hier?«

»Ja.« Sie stand auf und holte eine weitere Flasche aus dem Regal. »Wovor hatte sie Angst?«, bohrte sie nach, während sie den Korken zog.

»Ach … irgendwas ist da zwischen ihr und mir«, rückte er mit der Sprache heraus.

Mia sah ihn sprachlos an.

»Zwischen euch läuft was?«, fragte sie ungläubig.

»Nein … ja … nein. Ach, da läuft nicht wirklich was. Aber irgendwie vielleicht schon. Zumindest denke ich, dass da was ist.«

Er nahm ihr die geöffnete Flasche aus der Hand und schenkte die beiden Gläser gut voll.

»Du denkst, dass da was ist?«, hakte Mia nach. Sie fragte sich, was sich in den letzten Tagen zwischen den beiden ­abgespielt haben mochte.

»Ich glaube, sie hat Angst vor ihren Gefühlen«, redete ­Sebastian weiter, nachdem er einen großen Schluck getrunken hatte.

Mia sah ihn nachdenklich an.

»Ihr beide hattet schon immer einen ganz besonderen Draht zueinander«, erinnerte sie sich. Womöglich war mehr daraus geworden.

»Ich hätte nicht gedacht, dass sie mir nach all den Jahren noch so vertraut sein kann. Es war, als ob wir uns nur ein paar Wochen nicht gesehen hätten.«

Genauso hatte Mia es auch empfunden, als sie ihrer Schwester nach der langen Zeit zum ersten Mal wieder gegen­übergestanden war.

»Hast du dich in sie verliebt?«, fragte Mia ihn ganz direkt. Sie hatten noch nie um den heißen Brei herum­geredet, egal, um was es ging.

Er zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung, wie ich es genau nennen soll. Vor allem, nachdem sie einfach so verschwunden ist. Aber … aber ich mag sie echt sehr, Mia. Und vielleicht bin ich auch verliebt in sie …«

»Himmel noch mal, ­Sebastian! Könntest du dich vielleicht irgendwann mal auf eine Frau einlassen, die es dir nicht so schwer macht?«, fuhr sie ihn nur halb im Scherz an.

»Entschuldige, das nächste Mal suchst du mir einfach eine aus, damit ich ja nichts falsch mache«, schoss er ­zurück.

»Besser wär’s!«, sagte Mia. »Du siehst doch, was bei dir immer rauskommt.«

»Immerhin besser, es wenigstens zu versuchen, statt sich ein Schild umzuhängen: Für die Liebe bis auf Weiteres gesperrt. So wie eine gewisse Mia das schon seit Jahren macht.«

»Das mache ich doch gar nicht!«, empörte sie sich.

»Ach, nein? Lüg dich nur weiter an, wenn du damit ­besser klarkommst.«

»Ich lüge mich nicht an!«

»Klar tust du das. Ich kenne dich lange genug!«

»Blödmann!«

»Blödfrau!«, schlossen sie die Diskussion ab, wie sie es oft taten, wenn sie nicht einer Meinung waren, aber keiner von ihnen nachgeben wollte. Sie grinsten plötzlich und prosteten sich zu.

Trotzdem hatte er einen wunden Punkt getroffen. Seitdem sie München damals verlassen hatte, waren Männer für sie tatsächlich tabu gewesen. Sie hatte sich eingeredet, dass ein Partner ihr Leben nur unnötig verkompliziert hätte. Doch auch vorher hatte keine ihrer Beziehungen die vier Jahreszeiten überdauert. Sobald es tiefer geworden war und darum ging, zusammenzuziehen und gemeinsam etwas aufzubauen, hatte sie jedes Mal die Notbremse gezogen und sich unter irgendeinem Vorwand getrennt.

»Ich bin einfach keine Frau für was Festes«, resümierte sie und wischte mit dem Zeigefinger einen Tropfen Rotwein vom Tisch weg.

»Aha«, sagte er nur und trank einen weiteren Schluck Wein.

»Man kann ja auch ganz gut leben, ohne dass man in einer Partnerschaft steckt«, versuchte sie zu erklären.

»Klar. Man kann auch gut leben, wenn man jeden Tag nur Bohnen und Reis isst.«

»Etwas Dämlicheres ist dir als Vergleich nicht eingefallen?«

»Leider nicht«, gab er zu. »Aber du weißt ganz genau, was ich meine.«

Mia sah ihm an, dass er sich wirklich Sorgen um sie machte. Deswegen konnte sie ihm auch nicht böse sein. Trotzdem wollte sie jetzt ganz bestimmt nicht weiter ­darüber reden. Nicht am Tag der Beerdigung ihres Vaters und nicht nachdem ­Valerie ohne Abschied verschwunden war.

»Weißt du denn schon, was du jetzt machen möchtest, wo …«, begann ­Sebastian, nachdem sie eine Weile ­geschwiegen hatten, beendete den Satz jedoch nicht. Sie hatte ihm heute auf der Autofahrt zum Friedhof von der Kündigung erzählt. Seine Empörung darüber hatte sie von dem, was ihr bei der Beerdigung bevorstand, ein wenig ­abgelenkt. Er hatte sie ermuntert, sich juristische Beratung zu holen, doch Mia hatte bereits für sich beschlossen, das nicht zu tun. Die Vorstellung, womöglich zwar zu gewinnen, aber dann wieder tagtäglich mit Direktorin Wurm-­Fischer zu tun zu haben, schreckte sie davon ab.

Sie schüttelte den Kopf. Wie ihr Leben jetzt nach dem Tod ihres Vaters und ohne Job weitergehen würde – da hatte sie absolut keinen Plan.

»Ich geh jetzt erst mal schlafen«, sagte sie.

»Du wirfst mich also raus?«

»Ganz genau.«

»Ich glaube, das ist vielleicht auch besser so«, sagte er. Seine Aussprache war inzwischen schon ein wenig ver­waschen vom Alkohol.

Sie begleitete ihn zur Haustür.

»Danke, ­Sebastian, für … für alles.«

»Hey, schon okay.«

»Und wegen ­Valerie …«, begann sie, doch er schnitt ihr sogleich das Wort ab.

»Besser für uns alle, wir vergessen es.«

»Ja … Sie ist jetzt bald wieder in New York, und wir … wir sind immer noch hier.«

»Ganz genau … Nacht, Mia.«

Er umarmte sie kurz und ging dann nach Hause.

Eine Weile lang stand sie im Flur und wusste nicht, was sie jetzt machen sollte. Eigentlich war sie nicht müde, auch wenn sie sich erschöpft fühlte.

­Valerie war einfach verschwunden. So wie damals. Und dieses Mal hatte sie es selbst entschieden. Vielleicht wäre alles anders gewesen, wenn Mia ihr rechtzeitig gesagt hätte, dass ­Albert krank war. Im Nachhinein konnte sie sich selbst nicht verstehen.

Schuldgefühle und Trauer kamen mit einem Schlag zurück. Sie holte die angebrochene Flasche und das Glas aus der Wohnküche und nahm sie mit ins Musikzimmer.

Sie schenkte Wein ein und setzte sich damit ans Klavier.

»Du fehlst mir so, Papa«, murmelte sie und versuchte, die Tränen zu unterdrücken, die in ihren Augen brannten. »Wenn ich dich doch nur noch einmal sehen dürfte. Noch ein einziges Mal mit dir singen und lachen dürfte …«

Sie nahm einen Schluck Wein und starrte auf die Klaviertasten. Die Stille im Raum war erdrückend und kaum auszuhalten. Abrupt stellte sie das Glas ab. Ohne es vorgehabt zu haben, begann sie zu singen – ein wenig heiser von ungeweinten Tränen, aber doch kraftvoll. Feeling Good von Nina Simone, eines der Lieblingslieder ihres Vaters, das er ihr schon vor vielen Jahren beigebracht hatte. Wie oft hatte er es am Klavier gespielt und sie dazu gesungen! Sie schloss die Augen, und ihre Finger bewegten sich wie von selbst über die Tasten. Das Lied nahm sie auf eine Art Zeitreise mit, und sie stellte sich vor, dass ­Albert hinter ihr stand und ­zuhörte. Und solange sie die Augen nicht öffnete, konnte sie sich einreden, dass dem tatsächlich so war.

Als die letzten Töne des Klaviers verklangen und die Stille den Raum zurückeroberte, fühlte sie sich ein wenig getröstet. Langsam öffnete sie die Augen und konnte akzeptieren, dass ihr Vater nicht da war, auch wenn es schmerzte.

Sie nahm das halbvolle Weinglas und stand auf. Es war Zeit, ins Bett zu gehen. Doch im Vorbeigehen warf sie einen Blick auf den alten Sekretär ihres Vaters. Dort hatte er Texte geschrieben und dann am Klavier die Melodien dazu komponiert.

­Olivia hatte sich unter anderem von ihm getrennt, weil sie das finanzielle Auf und Ab nicht mehr länger hatte ertragen können. Nach einigen sehr erfolgreichen Stücken, die ­Albert für die Werbebranche geschrieben hatte, war Geld jedoch kein Thema mehr gewesen. Sie waren zwar nicht reich, doch sie kamen nach der Trennung finanziell gut über die Runden. Eine Ironie des Schicksals, die ihm seine Frau und die zweite Tochter jedoch auch nicht mehr zurück­gebracht hatten.

Mia nahm am Sekretär Platz und griff nach einem auf Daumenlänge heruntergespitzten Bleistift, mit dem ­Albert die Notenblätter beschrieben hatte, und drehte ihn zwischen ihren Fingern. Nach der Diagnose hatte er weder komponiert noch getextet, auch nicht an seinen guten Tagen. Doch manchmal hatte er sich ans Klavier gesetzt und völlig versunken meist ältere Lieder gespielt. In diesen Momenten schien seine Krankheit weit weg gewesen zu sein.

»Auf dich, Papa!«, sagte sie und nahm einen großen Schluck des samtig fruchtigen Rotweins. Der sanfte Nebel des Alkohols schien sie gleichzeitig in dämpfende Watte zu packen und ihre Sinne trotzdem zu schärfen.

Mia öffnete die Schublade, die bisher für sie tabu ­gewesen war. Darin hatte ­Albert allerlei private Notizen und seine ersten Entwürfe für Lieder aufgehoben.

»Die meisten davon sind nicht gut genug, um sie zu ­spielen. Aber auch nicht schlecht genug, um sie wegzuwerfen«, hatte er ihr einmal erklärt, als er noch gesund gewesen war. »Und somit darf niemand außer mir sie je zu Gesicht bekommen, bis ich sie überarbeitet habe.«

Mia hatte das sogar in den Zeiten seiner Krankheit respektiert. Doch nun konnte sie nicht länger widerstehen. Mit leicht zitternden Fingern holte sie Notenblätter und vollgeschriebene Seiten heraus, die von Notizblöcken abgerissen worden waren.

Teilweise waren die Lieder nicht fertig geschrieben oder Textzeilen wild durchgestrichen und diverse Anmerkungen dazu notiert worden. Ein aus einem Notenheft herausgerissenes Blatt Papier erregte ihre Aufmerksamkeit. Es lag oben auf und war als Einziges zerknüllt, so, als ob ihr Vater es schon weggeworfen und dann doch aufgehoben hätte. ­Gerade dieses Blatt machte sie neugierig. Die Schrift des Bleistiftes sah relativ frisch aus, auch wenn der englische Text durch das Zusammenknüllen an vielen Stellen schwer lesbar und unvollständig war. Hatte er daran erst kürzlich gearbeitet, ohne dass sie es mitbekommen hatte? Manchmal war er allein im Musikzimmer gewesen, während Alma kochte, und hatte dort Musik gehört. Hatte er vielleicht doch irgendwann versucht, ein neues Lied zu komponieren?

»Was ist das nur?«, murmelte sie und schrieb die Wörter, die sie entziffern konnte, auf den Block.

Als sie begann, die lesbaren Noten zu summen, zuckte sie zusammen. Sie kannte die Melodie! Ihr Vater hatte sie in den letzten Tagen vor seinem Tod immer wieder gesummt.

Plötzlich bekam sie eine Gänsehaut. Mia ging mit dem Blatt und einem Stift zurück zum Klavier. Ohne es erklären zu können, spürte sie, dass es mit diesem unvollständigen Lied etwas Besonderes auf sich haben musste.

»Wann hast du das nur geschrieben, Papa?«, murmelte sie vor sich hin.

Aufgeregt begann sie, die Noten vom Blatt und einen Teil der Melodie, die ihr Vater gesummt hatte, aus dem Gedächtnis zu spielen. Wie getrieben versuchte sie, die Bruchstücke beim Refrain zu einer Melodie zusammenzusetzen. Doch mit dem, was herauskam, war sie nicht zufrieden. Aus den unvollständigen Textstellen konnte sie allerdings erkennen, dass es sich wohl um ein Weihnachtslied handelte.

Enttäuscht stand sie schließlich auf und streckte sich. Als sie auf die Uhr schaute, war es fast zwei Uhr früh. Die Zeit war nur so verflogen, ohne dass sie merklich weitergekommen war. Doch sie wollte nicht aufgeben.

Der Wein war inzwischen leer getrunken, und sie holte Nachschub aus der Küche. Dazu ein Päckchen Erdnüsse, weil sie auch hungrig geworden war. Dann setzte sie sich wieder ans Klavier und versuchte es erneut. Doch wieder ohne Ergebnis. Irgendwann klappte sie genervt den Klavierdeckel herunter und legte die Unterarme darauf. Erschöpft und müde ließ sie den Kopf auf die Arme sinken und schloss die Augen. Immer wieder hörte sie in Gedanken den Teil der Melodie, den ­Albert gesummt hatte. Doch es wurde einfach kein vollständiges Lied daraus. Sie öffnete die Augen.

»Warum finde ich nur die richtigen Töne und Worte nicht?«, rief sie verzweifelt.

»Weil du es nicht mit deinem Herzen versuchst …«, sagte ihr Vater, der plötzlich neben ihr stand, »… sondern mit dem Kopf.«

Mia setzte sich gerade hin.

»Papa? Du bist hier?« Sie starrte ihn fassungslos an.

»Das bin ich doch immer, meine Kleine«, sagte er sanft.

Ein Gefühl von purem Glück erfüllte sie. Ihr Vater war wieder zurück! Und er schien völlig klar im Kopf zu sein, so, als ob es die Krankheit und den Tod nie gegeben hätte. Hatte sie das alles nur geträumt?

»Rutsch doch mal rüber«, forderte er sie auf.

Sofort machte sie auf der Klavierbank für ihn Platz und klappte den Deckel wieder auf.

»Was ist das denn für ein Stück, Papa?«, fragte Mia, als ob es keine anderen Dinge zu klären gäbe. Es schien ihr völlig logisch zu sein, dass ­Albert nun neben ihr saß. Sie überlegte kurz, ob sie ihm sagen sollte, dass sie gedacht hatte, er sei gestorben. Doch es war wohl besser, das nicht zu tun. Vermutlich würde er ohnehin nur über den vermeintlichen Scherz und ihre immer schon lebhafte Phantasie lachen. Letztlich war doch jetzt alles wieder gut. ­Albert war zurück, und alles andere war völlig unwichtig.

»Es ist ein Weihnachtslied«, riss ­Albert sie aus ihren Gedanken. »Ich wusste nie, ob ich es zu Ende schreiben soll. Aber ich finde einfach keine Ruhe, so lange es nicht fertig ist. Deswegen musst du das für mich machen, Mia.«

Er sah sie aus seinen olivgrünen Augen an, die ihren so ähnlich waren.

»Ich? Aber allein schaffe ich das doch nicht, Papa«, ­erklärte sie ihm.

»Deswegen bin ich ja hier, um dir dabei zu helfen. Es ist wirklich sehr wichtig, dass du das für mich zu Ende bringst.«

»Ich werde es versuchen«, versprach Mia.

»Danke, mein Liebes. Ich weiß, dass du es kannst.«

»Lange nicht so gut wie du«, sagte sie.

»Oh doch, mein Mädchen. Das ist dir leider nur viel zu wenig bewusst. Glaub an dich, Mia. Dann wird alles möglich sein.«

»Danke, Papa!«, sagte sie leise. »Ich hab dich lieb.«

»Ich dich auch!«

Er lächelte sie zärtlich an, legte einen Arm um sie und drückte sie an sich.

Mia fühlte sich glücklich und geborgen und ignorierte die leise Stimme in ihrem Kopf, die ihr sagte, dass er womöglich wieder verschwinden, sie erneut allein lassen könnte.

»Ich bin schon so gespannt auf das Lied«, sagte sie, nachdem er sie wieder losgelassen hatte.

»Na dann, lass uns beide mal loslegen«, sagte ­Albert und zwinkerte ihr zu.

Mia spürt etwas Warmes, Nasses auf ihrem Gesicht und öffnete blinzelnd die Augen. Sie lag auf dem Sofa im Musikzimmer. Durch das Fenster fiel helles Tageslicht. Rudi stand vor ihr und leckte leise fiepend über ihre Wange. Mia hatte Mühe zu schlucken. Ihr Mund fühlte sich so trocken an wie Sandpapier, und in ihrem Kopf schien ein Güterzug Achterbahn zu fahren. Stöhnend richtete sie sich auf.

»Schon gut, Rudi«, sagte sie mit kratziger Stimme, und Rudi wedelte erfreut mit dem Schwanz. »Moment … Du darfst gleich raus.«

Langsam rappelte sie sich hoch, stand auf, merkte jedoch sofort, dass ihr Kreislauf für den Weg zur Haustür noch nicht bereit war. Vorsichtig setzte sie sich noch mal aufs Sofa und schloss die Augen.

Am liebsten hätte sie sich sofort wieder hingelegt und weitergeschlafen, bis es ihr besser ging, aber Rudi würde es sicher nicht mehr lange aushalten. Er musste dringend mal raus.

»Nur noch einen Augenblick, mein Kleiner«, sagte sie leise und bemühte sich, den Schwindel unter Kontrolle zu bekommen, bevor sie ein weiteres Mal versuchte aufzustehen. Diesmal klappte es schon etwas besser, doch einen Spaziergang würde sie jetzt noch nicht schaffen.

Sie entschloss sich, Rudi vom Wintergarten aus in den eingezäunten Garten zu lassen. Dort konnte er sein ­Geschäft verrichten und noch ein wenig herumtollen.

Währenddessen schlurfte sie leicht schwankend in das Badezimmer im Erdgeschoss und wusch sich das Gesicht, zuerst mit warmem, dann mit kaltem Wasser. Als sie in den Spiegel schaute, erschrak sie. Die vom Wein leicht bläulich gefärbten Lippen hoben sich zusammen mit den dunklen Augenringen erschreckend in ihrem kreidebleichen Gesicht ab, als ob ein wenig talentierter Maskenbildner sie für einen Gruselfilm geschminkt hätte.

»Oh Mann«, murmelte sie und schwor sich insgeheim, erst einmal keinen Tropfen Alkohol mehr anzurühren.

Sie putzte die Zähne und musste dabei einen heftigen Würgereiz unterdrücken. Danach ließ sie Rudi wieder ins Haus, der sich hungrig auf das Futter stürzte, das sie ihm in den Napf gekippt hatte. Normalerweise machte ihr das nichts aus, doch heute bereitete der Geruch ihr Übelkeit, und sie musste das Fenster öffnen und mehrmals tief ein- und ausatmen.

Zwanzig Minuten später saß sie ziemlich lädiert am Tisch und versuchte, ein paar Schlucke Kaffee zu trinken und ein Stück trockenen Toast zu essen, damit sie die Kopfschmerztablette nicht auf nüchternen Magen nahm. Noch rebellierte ihr Magen, und der Grund dafür stand in Form von drei leeren Weinflaschen neben der Spüle. Wieso habe ich gestern nur so viel getrunken? , fragte sie sich fassungslos. Die Erinnerung an die vergangene Nacht war ziemlich nebulös, nachdem ­Sebastian sich verabschiedet hatte. Sie wusste nur noch, dass sie im Musikzimmer in den Sachen ihres Vaters gestöbert hatte und dabei in Erinnerungen versunken war. Irgendwann musste sie sich dann aufs Sofa gelegt haben und eingeschlafen sein. Allerdings hatte sie einen besonders schönen Traum gehabt, in dem sie mit ihrem Vater am Klavier saß und mit ihm gemeinsam ein Lied komponiert hatte.

Mia versuchte, sich an die Melodie und den Text zu erinnern, doch dafür schmerzte ihr Kopf viel zu sehr. Sie sollte sich wohl dringend noch mal eine Weile hinlegen. Etwas Besseres hatte sie momentan ohnehin nicht zu tun. Also holte sie eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und ging nach oben in ihr Zimmer.