Kapitel 18

­VALERIE

­Valerie hatte es gerade noch geschafft, nach der Beerdigung rechtzeitig zum Flughafen zu kommen und ihr Gepäck aufzugeben. Den Entschluss, früher zu fliegen, hatte sie gefasst, nachdem ­Sebastian ihr am Abend zuvor die Sprachnachricht geschickt hatte, in der er sie für den letzten Abend einlud. Spätestens da war ihr klar geworden, dass sie es nicht zulassen konnte, sich in Gefühle zu verstricken, die keinem von ihnen guttun würden. Sie hatte die Bremse gezogen, früh genug, wie sie hoffte.

Da sie wusste, wie schwer es ihr fallen würde, ihre ehemalige Heimat ein weiteres Mal zu verlassen, hatte sie sich weder von ­Sebastian noch von ihrer Schwester verabschiedet. So wollte sie Gesprächen mit den beiden aus dem Weg gehen, die sie momentan überfordert hätten. Doch die Aussprache mit Mia konnte sie natürlich nicht ewig aufschieben. Nicht zuletzt, weil sie die Sache mit dem Erbe zu klären hatten. Aber das ließe sich vermutlich auch per Mail oder am Telefon besprechen, wenn sie beide weniger aufgewühlt wären. Im ersten Impuls hatte sie auf alles verzichten wollen. Sie wollte nicht vom Tod ihres Vaters profitieren. Das wollte sie immer noch nicht. Doch irgendetwas in ihr war trotzdem nicht bereit, alles aus der Hand zu geben. So, als ob mit der Ablehnung seines Erbes auch noch die letzte ­Verbindung zwischen ­Valerie und ihrem Vater gekappt würde.

Jetzt wollte sie erst einmal nach Hause und ein wenig zur Ruhe finden, um über alles nachzudenken.

Als sie nach neuneinhalb Stunden Flug vor dem Hochhaus aus dem Taxi stieg, konnte sie die übliche Hektik und den Lärm um sie herum kaum ertragen. Der Gestank nach Abgasen, das aggressive Hupen und die Menschenmassen, die achtlos aneinander vorbeieilten, waren nicht zu vergleichen mit der ruhigen Beschaulichkeit in ihrer ehemaligen bayerischen Heimat.

Rasch betrat sie das Foyer des Hauses, wechselte ein paar Höflichkeiten mit dem Portier, der ihr die in den letzten Tagen eingegangene Post überreichte, und fuhr dann mit dem Aufzug nach oben in den 18. Stock. Sie griff in ihre Handtasche, um die elektronische Schlüsselkarte herauszuholen, da entdeckte sie den Notenschlüssel von ­Albert mit dem Schlüssel für das Haus am Chiemsee. Sie hatte vergessen, ihn Mia vor der Abreise wieder zurückzugeben. Vielleicht hatte sie es aber auch übersehen wollen? Jetzt hielt sie ihn jedenfalls in der Hand wie einen kostbaren Schatz.

Auf dem Rückflug hatte sie keine Sekunde geschlafen. Sie hatte viel über ihren Vater und die Trauerfeier in der Kirche nachgedacht, die aufschlussreich für sie gewesen war. ­Albert war sehr beliebt gewesen und hatte mit Mia offenbar das Beste aus der prekären Situation gemacht, in die ihn das Scheitern seiner Ehe gebracht hatte. Er hatte sich ein neues Leben aufgebaut. Davon war sie, ­Valerie, leider seit vielen Jahren kein Teil mehr gewesen. Und das schmerzte. Es schmerzte sehr.

Doch auch Mia und ­Sebastian hatten sie gedanklich ­beschäftigt. Vermutlich waren sie ziemlich sauer und auch enttäuscht, dass sie sich so klammheimlich davongemacht hatte. Aber vielleicht täuschte sie sich auch, und womöglich war Mia sogar froh, dass sie endlich wieder weg war?

Wie sie mit den unterschiedlichen Gefühlen Mia gegenüber umgehen sollte, wusste sie nicht. Noch immer war sie wütend, weil sie ihr nichts gesagt hatte. Doch als Mia in der Kirche nach ihrer Hand gegriffen hatte und sie sich buchstäblich aneinander festgehalten hatten, hatte ­Valerie sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder komplett gefühlt. Auch Mias Worte, kurz bevor sie ging, hatten sie berührt. Trotzdem war sie der Überzeugung, mit ihrer Abreise richtig gehandelt zu haben. Mia und ­Valerie waren beide angeschlagen vom Tod des Vaters und jede auf ihre eigene Weise verwundet durch die Gegebenheiten, die viele Jahre zuvor mit der Trennung ihrer Eltern ihren Anfang genommen hatten. Sie würde jetzt ein paar Tage verstreichen lassen und sich dann bei Mia und ­Sebastian melden. Bis dahin hoffte sie, den nötigen Abstand gewonnen und wieder einen klaren Kopf zu haben.

Nach einer langen heißen Dusche zog ­Valerie ein bequemes Nachthemd an und schlüpfte unter die Bettdecke, in die sie sich, wie immer, wenn es ihr nicht gut ging, fest einwickelte. Doch obwohl ihr Körper völlig übermüdet war, dauerte es eine Weile, bis sie zur Ruhe fand. Sie versuchte es mit Atemübungen und kleinen Meditationen. Und schließlich segelte sie doch in einen tiefen Schlaf hinüber.

»­Valerie! Um Himmels willen!«, riss die Stimme ihrer ­Mutter sie unsanft aus dem Schlaf.

­Valerie schälte sich erschrocken aus der Bettdecke und setzte sich auf. Draußen war es bereits hell. Noch ein wenig orientierungslos sah sie ihre Mutter, die mit einem großen Blumenstrauß in ihrem Schlafzimmer stand.

»Mutter!«

»Ich dachte schon, hier wären Einbrecher und ich müsste die Polizei anrufen. Gut, dass ich deine Handtasche in der Diele sah.«

»Was machst du denn hier?«

»Ich wollte frische Blumen für deine Rückkehr ins Wohn­zimmer stellen«, erklärte ­Olivia. »Wie sollte ich denn ahnen, dass du schon zurück bist? Du hast nichts der­gleichen gesagt.«

­Valerie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Ein Blick auf das Handy zeigte ihr, dass es kurz nach halb neun Uhr früh war.

»Ich bin nach der Beerdigung gleich zum Flughafen«, erklärte ­Valerie, stand auf und schlüpfte in einen seidenen Morgenmantel.

»Gut, dass du wieder zurück bist. Möchtest du vielleicht mit nach oben kommen und gemeinsam mit mir frühstücken?«, fragte ­Olivia.

­Valerie zögerte mit einer Antwort. Eigentlich wäre sie am liebsten allein geblieben, aber ihr war auch klar, dass ihre Mutter wissen wollen würde, wie sie die Tage am Chiemsee erlebt hatte.

»Na gut«, sagte sie. »Ich dusche noch kurz, dann komme ich hoch zu dir.«

Eine halbe Stunde später saß sie zusammen mit ­Olivia am Tisch des Esszimmers, das von einer der teuersten Innen­architektinnen der Stadt eingerichtet worden war. Ingrid, das schwedische Hausmädchen, schenkte ihnen Kaffee ein.

Es herrschte ein seltsames Schweigen. Eines, das von unausgesprochenen Fragen nur so zu brodeln schien. Und trotzdem unterbrach es keine der Frauen.

Obwohl sie den Tag vorher nur wenig gegessen hatte, verspürte ­Valerie auch jetzt kaum Appetit. Lustlos löffelte sie etwas Obstsalat mit Joghurt und ließ sich eine zweite Tasse Kaffee einschenken.

»Danke, Ingrid.« Sie nickte der jungen Frau zu, die erst seit wenigen Wochen im Haus angestellt war. »Meine Mutter und ich kommen jetzt allein zurecht.«

Ingrid nickte ebenfalls und ging aus dem Zimmer.

»Wirklich tragisch, dass ­Albert so früh an einem Herzinfarkt sterben musste«, unterbrach ­Olivia schließlich die Stille.

­Valerie nahm einen Schluck Kaffee. Dann stellte sie die Tasse ab und sah ihre Mutter an. Obwohl sie wie immer perfekt gestylt war, sah sie älter aus, seitdem sie von ­Alberts Tod erfahren hatte. Und ­Valerie kam es so vor, als ob sie auch abgenommen hätte, was ihr Gesicht härter wirken ließ.

»Er litt schon seit ein paar Jahren an Alzheimer«, sagte ­Valerie.

»Alzheimer?«, fragte ­Olivia überrascht, was jedoch nicht so ganz zum Ausdruck in ihren Augen passte. ­Valerie spürte plötzlich ein seltsames Kribbeln im Nacken, und das Obst in ihrem Magen fühlte sich an wie kaltes, glibberiges Gelee.

»Mutter?«

»Ja?« ­Olivia schnitt umständlich ein Stück Käse ab und platzierte es auf ihrem Toastbrot.

»Sag bitte nicht, dass du es gewusst hast.«

Ihre Mutter ließ sich Zeit mit einer Antwort.

»Mutter!«, drängte ­Valerie.

»Nein, ­Valerie«, antwortete sie schließlich. »Ich wusste nicht, dass er Alzheimer hatte, aber …« Sie zögerte weiterzusprechen.

»Aber was?«

»Irgendwie überrascht es mich auch nicht so wirklich.«

»Es überrascht dich nicht?«, hakte sie irritiert nach. »Was meinst du damit?«

»Es … es ist ein paar Monate her.« ­Olivia spielte sichtlich auf Zeit.

»Bitte Mutter, lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen? Was war vor ein paar Monaten? Hat Mia es dir gesagt? Oder vielleicht Alma?«, drängte ­Valerie.

»Welche Alma?«, fragte ­Olivia rasch, ohne auf Mia einzugehen.

»Vaters Pflegerin.«

­Olivia schüttelte den Kopf und spielte nervös mit der Serviette. Ihr war anzusehen, dass sie sich nicht sonderlich behaglich fühlte.

»­Albert hat mich angerufen. Wie aus heiterem Himmel«, erklärte sie schließlich.

»Was? Er hat dich angerufen? Warum hast du mir das nicht gesagt?«

»Weil ich nicht wusste, was ich davon halten sollte«, gab ­Olivia zu. »Immerhin hatten wir so viele Jahre keinen Kontakt mehr gehabt. Und es … es war ein seltsames ­Gespräch.«

»Seltsam?«

­Olivia nickte.

»Ich war ziemlich in Eile, weil Anthony und ich uns auf dem Empfang der Wittendales treffen wollten. Und plötzlich rief er an. Du kannst dir sicher vorstellen, wie überrascht ich war.«

Das konnte ­Valerie allerdings.

»Was hat er denn gesagt?«

»Er fing damit an, wie sehr er es bedauere, dass ich ihn damals verlassen habe. Und dass er mir etwas sagen müsse, aber er es nicht könne …«

»Und dann?«

»Na ja, ich war wirklich schon sehr in Eile«, sagte ­Olivia ein wenig verlegen. »Du kennst doch die Wittendales, die mögen es gar nicht, wenn man zu spät kommt. Und da sagte ich zu ­Albert, dass ich ihn später zurückrufen würde. Doch daraufhin …«

»Was?«

»Das war eben so seltsam. Plötzlich fragte er mich, wer ich überhaupt sei. Und wo ich seine Nummer herhätte … Und da dachte ich, er wolle mich einfach nur provozieren und womöglich einen Streit beginnen. Immerhin waren die letzten Gespräche zwischen uns nicht sonderlich friedlich verlaufen, damals.«

»Und dann?«

»Ich … ich legte auf.«

»Einfach so?«, fragte ­Valerie ungläubig.

»Entschuldige, aber ich hatte keine Lust auf irgendwelche Vorwürfe. Außerdem ging ich davon aus, dass er sich bestimmt noch mal melden würde, wenn es wirklich so dringend sei.«

­Valerie wusste gar nicht, was sie darauf antworten sollte.

»Jetzt ist mir natürlich klar, dass das vielleicht ein Fehler war, und wenn er tatsächlich Alzheimer hatte …«, sie machte eine kurze Pause und sah ­Valerie um Verständnis bittend an. »Aber das konnte ich doch nicht wissen!«

»Trotzdem hättest du erwähnen können, dass er angerufen hat.«

»Ja … das hätte ich wohl«, gab sie zu. »Aber ich wollte nicht, dass du dich womöglich aufregst. Früher ging es dir jedes Mal schlecht, wenn sich Gespräche um deinen Vater drehten.«

­Valerie sparte sich eine Antwort. Dass es ihr nicht gut ­gegangen war, hatte auch damit zu tun gehabt, wie ihre Mutter sich damals gegenüber ­Albert verhalten hatte.

»Vielleicht wollte er dir von der Krankheit erzählen«, spekulierte ­Valerie, und in diesem Moment kam ihr noch ein anderer Gedanke. Vielleicht hatte er aber auch angerufen, weil er mit ihr sprechen wollte! Ohne Vorwarnung überkam sie eine heftige Wut auf ihre Mutter. Ähnliches hatte sie Mia gegenüber empfunden, nachdem sie von ­Alberts Krankheit erfahren hatte. Es kam ihr so vor, als ob beide Frauen sie ­absichtlich von ihrem Vater hatten fernhalten wollen.

»Warum hast du ihn nicht zurückgerufen?«, fuhr ­Valerie sie an. »Konntest du zwischen deinen ach so wichtigen Terminen nicht mal ein paar Minuten für ihn erübrigen?«

Erstaunt sah ­Olivia ihre Tochter an. Sie war es ganz offensichtlich nicht gewohnt, dass ­Valerie auf diese Weise mit ihr sprach.

»Nicht in diesem Ton, ­Valerie!«, mahnte sie sogleich streng. »Das verbitte ich mir!«

­Valerie stand auf.

»Du hättest es mir sagen müssen«, wiederholte sie und ging Richtung Tür.

»Du gehst doch jetzt nicht einfach!?«, rief ­Olivia ihr hinterher.

Doch da knallte ­Valerie bereits die Tür hinter sich zu.

Auf dem Weg zu ihrer Wohnung wurde ihr bewusst, dass sie es in all den Jahren, seit sie in New York lebten, nie wirklich gewagt hatte, sich ihrer Mutter oder gar Großmutter offen zu widersetzen. Damals, in der völlig fremden Umgebung, so weit entfernt von ihrer alten Heimat, war sie auf ihre Mutter angewiesen gewesen. Durch den Tod ihres Vaters und die Rückkehr nach Bayern war etwas in ihr aufgebrochen. Sie hatte das Gefühl, dass die ­Valerie von damals sich endlich aus diesem Kokon befreite, in den sie sich nach der Trennung ihrer Eltern als Schutz vor Verletzungen zurückgezogen hatte.

Nun saß sie auf dem Sofa im Wohnzimmer und versuchte, Mia anzurufen, um sie zu fragen, ob sie von diesem Telefonat ihrer Eltern gewusst hatte. Doch ihre Schwester ging nicht ans Handy, und ­Valerie wollte keine Nachricht hinterlassen.

Um ihre Wut und die Hilflosigkeit, die sie durch das Verhalten ihrer Mutter verspürte, ein wenig abzuschütteln, zog sie ihre Sportsachen an und machte sich auf den Weg zum Central Park. In hohem Tempo lief sie die verschneiten Wege entlang und versuchte, den Kopf freizubekommen. Der Tag war so kalt und trüb wie ihre Stimmung. Nach einer Dreiviertelstunde machte sie sich auf den Rückweg, als ihr Handy klingelte. Sie ging davon aus, dass es ihre Mutter war, oder vielleicht Mia, die zurückrief, doch als sie stehen blieb und das Handy aus der Hosentasche fischte, sah sie, dass der Anruf von ­Sebastian kam.

Sie zögerte so lange, bis das Klingeln aufhörte und ihre Mailbox ansprang. Er hinterließ keine Nachricht. Sie wollte das Handy schon wieder zurückstecken, doch dann rief sie ihn in einer spontanen Anwandlung zurück und konnte die Überraschung darüber in seiner Stimme hören.

»Hey. Ich glaub es ja nicht. Du rufst mich tatsächlich ­zurück?«

»Sieht ganz so aus«, sagte sie, immer noch ein wenig atemlos vom Laufen.

»Bist du gerade unterwegs?«, fragte er.

»Ja … ich war joggen im Central Park und bin jetzt auf dem Rückweg in meine Wohnung«, erklärte sie.

»Warum bist du gestern einfach so verschwunden, ­Valerie?«, fragte er ohne Umschweife.

»Weil es besser für uns alle war«, antwortete sie.

»Wieso denkst du eigentlich, für andere entscheiden zu müssen, was für sie das Beste ist?«, fragte er und klang ­dabei ziemlich genervt.

Das saß! Genau das Verhalten, was sie an ihrer Mutter störte, hatte sie selbst angenommen.

»Na gut. Dann war es eben für mich besser, dass ich ging«, räumte sie deshalb ein. »Außerdem – ein Tag hin oder her spielte auch keine Rolle mehr.«

Daraufhin sagte er nichts.

­Valerie begann in ihren durchgeschwitzten Sachen zu frieren und beschleunigte ihre Schritte.

»Bist du noch dran?«, fragte sie schließlich.

»Ja … ich weiß nur nicht, was ich sagen soll, damit du verstehst, was ich dir sagen will.«

»­Sebastian. Ich denke, ich weiß ganz genau, was du mir sagen wolltest. Und genau das war mit ein Grund für meine vorzeitige Abreise.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass aus dir so ein Feigling werden könnte«, sagte er.

Sie überlegte kurz, ob sie sich verhört hatte.

»Feigling? Ich?«, fragte sie empört nach.

»Klar. Du verdrückst dich einfach klammheimlich. Was ist das sonst, wenn nicht Feigheit?«

»Ich sag dir mal was. Das hat nichts mit Feigheit zu tun, sondern einfach nur mit Vernunft.«

»Oh Gott! Du willst vernünftig sein? Das ist ja irgendwie noch schlimmer als Feigheit!«

Er sagte das so voller hörbar gespielter Empörung, dass sie unerwartet lachen musste und sich der Knoten, der sich seit dem Gespräch mit ihrer Mutter festgezurrt hatte, ganz plötzlich auflöste.

»Hör mal, Sebi«, sagte sie. »Es ist nicht gemütlich, solche Gespräche verschwitzt und frierend auf der Straße zu führen. Was hältst du davon, wenn ich dich später noch mal anrufe, wenn ich geduscht habe?«

»Hm. Ich weiß nicht, ob ich dir trauen kann. Vielleicht vertröstest du mich einfach nur, und ich höre nie wieder was von dir.« Seine Worte klangen nur halb spaßig. Offenbar konnte er wirklich nicht einschätzen, ob sie es ernst meinte. Das traf sie. Aber sie konnte es ihm nicht verdenken.

»Du wirst es wohl darauf ankommen lassen müssen«, sagte sie schließlich. »Bis in einer Stunde!?«

»Na gut. Bis in einer Stunde … Und ­Valerie?«

»Ja?«

»Wenn du mich nicht zurückrufst, dann …«

»Dann was?«

»Keine Ahnung, aber ich lasse mir was einfallen! Was echt Mieses. Also überlege es dir gut.«

Sie glaubte, ein Grinsen in seiner Stimme zu hören.

»Okay, das will ich natürlich nicht riskieren. Bis dann«, sagte sie und legte lächelnd auf.

Knapp eine Stunde später saß sie frisch geduscht und in eine Decke gewickelt auf dem Sofa. Die Aussicht, gleich wieder mit ­Sebastian zu sprechen, trieb ihren Puls leicht in die Höhe. Irgendetwas hatte ihr vorheriges Telefonat in ihr verändert, doch sie wusste nicht, was genau das war. Waren es seine Bedenken, ihr nicht trauen zu können, die sie aufgerüttelt hatten? Oder eher seine gespielte Empörung darüber, dass sie zu vernünftig geworden war? Vielleicht brauchte sie nach dem Gespräch mit ihrer Mutter aber einfach nur einen guten Freund, mit dem sie darüber reden konnte, weil sie ihm trotz allem vertraute? Plötzlich konnte sie es kaum mehr erwarten, seine Stimme zu hören. Auch wenn es ein paar Minuten zu früh war, griff sie zum Hörer und wählte seine Nummer.

Nach dem zweiten Klingeln hob er ab.

»Hi, Mister Rudolph, New York is calling«, begrüßte sie ihn.

»Hey! Ich bin echt beeindruckt«, sagte er erfreut. »Hast wohl Angst gehabt, dass ich mir eine schlimme Strafe überlege?«

»Klar. Nur deswegen rufe ich an.«

»Dann ging mein Plan ja auf.«

»Könnte man so sagen … Aber, ­Sebastian, auf eines müssen wir uns einigen«, sagte ­Valerie, und ihre Stimme klang nun sehr ernst.

»Müssen wir das?«

»Müssen wir. Wir können über alles reden«, stellte sie unmissverständlich klar. »Nur nicht über irgendwelche ­Gefühle, die womöglich mit uns zu tun haben. Dann lege ich sofort auf«, warnte sie ihn.

Sie hörte, wie er einmal tief durchatmete.

»Na gut. Kein Wort über irgendwelche Gefühle, die mit uns zu tun haben«, versprach er.

»Gut.«

»Sag mal, können wir uns vielleicht per Skype oder Facetime unterhalten? Es wäre viel angenehmer, wenn wir uns auch sehen könnten«, schlug er vor.

Sie lächelte.

»Oh, ich hoffe, dich stört meine Gurkenmaske nicht«, feixte sie.

»Echt jetzt?«

»Finde es raus.«

Sie tauschten die Skypeadressen aus, und kurz darauf winkte er ihr auf dem Bildschirm ihres iPads zu.

»Also doch keine Gurkenmaske.«

»Enttäuscht?«

»Nur ein bisschen … Aber toll, dass es geklappt hat.«

­Sebastian prostete ihr mit einer Tasse Kaffee aus seinem Homeoffice zu.

»Ich habe heute noch eine lange Nachtschicht vor mir«, erklärte er ungefragt. »Morgen früh muss ich ein Konzept abgeben.«

»Wenn es jetzt ungünstig ist, können wir auch morgen reden«, bot sie an, doch er schüttelte den Kopf.

»Jetzt meldest du dich schon mal!«, sagte er. »Wie wär’s mit einer Wohnungsbesichtigung?«

»Du willst, dass ich dir meine Wohnung zeige?«, fragte sie amüsiert.

»Yep – ich möchte echt gern wissen, wie du so lebst.«

»Na gut«, sagte sie, stand vom Sofa auf und nahm das iPad in die Hand. »Dann komm mal mit.«

Sie ging mit ihm durch die Wohnung, damit er sich ein Bild machen konnte.

»Wow – ziemlich schick, aber sieht auch gemütlich aus!«, sagte er, als sie wieder zurück im Wohnzimmer waren.

»Danke.«

»Trotzdem passt du viel besser nach Bayern als nach New York.«

­Valerie wusste darauf keine Antwort und erkundigte sich stattdessen nach Max.

»Dem geht’s super. Der ist heute bei seiner Mutter.«

In der nächsten Dreiviertelstunde hielt er sich tatsächlich an das Versprechen, nicht über irgendwelche Gefühle zu sprechen. Er erzählte von Max, der sich vom Christkind nichts sehnlicher als einen Hund wünschte. Und wie er nach einer Lösung suchte, damit sein Sohn nicht allzu enttäuscht war, wenn am Heiligen Abend kein kleiner Welpe unter dem Weihnachtsbaum saß.

»Ich mag Hunde gern, aber momentan reicht es mir, die Verantwortung für mein Kind und die Arbeit unter einen Hut zu kriegen. Jetzt auch noch einen Welpen zu erziehen, das schaffe ich einfach nicht«, sagte er.

­Valerie konnte das gut nachvollziehen, hatte jedoch auch keinen passenden Rat parat, wie er das am besten regeln konnte.

»Du findest bestimmt noch eine Lösung«, ermunterte sie ihn.

Kurz überlegte sie, ihm von ­Alberts Anruf bei ihrer Mutter zu erzählen, der sie doch ziemlich irritiert hatte. Aber andererseits würde dieses Thema vermutlich wieder zu schwierigen Gesprächen führen, und das wollte sie im ­Moment nicht. Also erzählte sie ihm mehr von ihrer Arbeit in der Firma ihres Stiefvaters, für die er sich sehr zu interessieren schien.

Schließlich musste er sich an die Arbeit machen. Doch sie vereinbarten, sich in den nächsten Tagen wieder online auszutauschen.

Als sie aufgelegt hatte, spürte ­Valerie ein Lächeln im ­Gesicht. Und zum ersten Mal seit ihrer Abreise aus Bayern hatte sie wieder Appetit. Sie ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Bis auf etwas Käse, ein angebrochenes Glas Oliven und verschiedene Weine herrschte darin ­jedoch gähnende Leere. Morgen würde sie einkaufen gehen. Und vielleicht würde sie sogar damit anfangen, ab und zu selbst etwas zu kochen. Sie knabberte ein wenig Käse, zog sich um und machte sich in einem spontanen Entschluss auf den Weg in die Firma. Sie wollte lieber arbeiten, als anzufangen zu grübeln.

Auf ihrem Schreibtisch hatte sich inzwischen einiges angesammelt. Sie ließ sich von Serena auf den neuesten Stand bringen und fühlte sich wieder ganz in ihrem Element.

Anthony kam in ihr Büro und begrüßte sie mit einer herz­lichen Umarmung.

»Wie schön, dass du wieder da bist, Val«, sagte er und sah sie aus seinen fast schwarzen Augen ein wenig besorgt an. »Wie geht es dir?«

»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht«, sagte sie offen. »Ich glaube, ich muss das alles erst verarbeiten, Anthony.«

»Das verstehe ich. Möchtest du dir nicht lieber noch ein paar Tage freinehmen?«, bot er an.

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, die Arbeit ist jetzt genau das Richtige für mich«, sagte sie.

»Verstehe.« Er lächelte. »Dann komm am besten mit ins Besprechungszimmer. Ich habe gleich ein Meeting mit dem Designer. Er hat Vorschläge für die neu geplante Kinder­kollektion.«

»Du willst das jetzt wirklich machen?«, fragte ­Valerie überrascht, da Kinderschuhe bisher noch nicht zum Sortiment gehörten. Sie hatte ihm den Vorschlag erst vor ein paar Wochen unterbreitet. Zunächst hatte er der Sache skeptisch gegenübergestanden. Umso mehr wunderte sie sich, dass er es sich offenbar anders überlegt hatte.

»Die Französinnen haben danach gefragt, als wir die Verträge machten. Der europäische Markt ist anscheinend ­momentan sehr offen für Qualitätsschuhe, auch für Kinder. Warum sollten wir das nicht nutzen? Und wie du mir letztens so schön gesagt hast: Kinder sind die Kunden von morgen. Und je früher sie mit unseren Schuhen zufrieden sind, desto eher werden sie auch später auf unsere Marke zurückgreifen.«

»Das freut mich, Anthony.«

»Ich überlege, erst einmal eine kleine Linie zu machen, als Versuchsballon. Wenn das funktioniert, dann können wir es weiter ausbauen.«

»Gute Idee. Na, dann bin ich mal auf die Vorschläge ­gespannt«, sagte ­Valerie und folgte ihm ins Besprechungszimmer.

Die Arbeit half ihr tatsächlich, auf andere Gedanken zu kommen. Als sie nach dem Meeting zurück in ihrem Büro diverse E-Mails beantwortete, verflog die Zeit wie im Nu. Es war schon nach neunzehn Uhr, als sie das erste Mal auf die Uhr schaute.

»Brauchen Sie mich noch?«, fragte die Sekretärin.

»Nein, danke, Serena. Sie können jetzt nach Hause gehen. Schönen Abend.«

»Danke. Ihnen auch.«

Da sie selbst noch einiges erledigen wollte, ließ sie sich vom Lieferservice Salat mit Hühnerbrust bringen und ­arbeitete bis tief in die Nacht weiter.

Am liebsten hätte ­Valerie sich am nächsten Abend den ­Besuch bei ihrer Großmutter erspart. Doch sie wusste, dass Kate fest mit ihr rechnete und eine kurzfristige Absage nicht gelten lassen würde.

­Valerie machte sich mit ihrer Mutter und Anthony ­gemeinsam auf den Weg zu ihr. Seit ihrem Streit am Tag zuvor hatten Mutter und Tochter sich nicht mehr gesehen.

»Es tut mir leid, ­Valerie«, sagte ­Olivia leise auf dem Rücksitz zu ihr, sodass Anthony, der vorne neben dem Fahrer saß, nichts mitbekam. »Ich hätte dir vom Anruf deines Vaters erzählen sollen. Aber ich wusste wirklich nicht, was das zu bedeuten hatte.«

­Valerie nickte nur und wollte es fürs Erste dabei bewenden lassen. Letztlich konnte sie ohnehin nichts mehr ­daran ändern. Trotzdem war ihr Ärger auf ihre Mutter immer noch nicht ganz verraucht. Gab es womöglich noch mehr, was sie ihr im Zusammenhang mit ihrem Vater verschwiegen hatte?, fragte eine leise Stimme in ihr. Zudem nagte die Tatsache an ­Valerie, dass ihre Mutter offenbar gar nicht auf den Gedanken gekommen war, dass ­Albert mit ­Olivia womöglich über Mia hatte sprechen wollen. Seit ihrer Rückkehr hatte ­Olivia Mia mit keinem Wort erwähnt. ­Valerie verstand nicht, was dahintersteckte. Nahm ­Olivia es Mia etwa immer noch übel, dass sie ihr die Schuld für die Trennung gab? Irgendwann würden sich auch Mia und ­Olivia aussprechen müssen. Zumindest hoffte ­Valerie, dass das irgendwann passieren würde.

Inzwischen waren sie bei ihrer Großmutter angekommen, die seit dem Tod des Großvaters vor vier Jahren allein im Haus lebte. Sie betraten das Wohnzimmer, in dem Kate sich mit Anthonys deutlich älterem Bruder Michael, Konstantin Treval und dessen Eltern Arlo und Bridget bei einem Aperitif unterhielt. Die Runde der geladenen Gäste war tatsächlich sehr überschaubar.

Nachdem sich alle begrüßt hatten, bat Kate sie in das ­angrenzende Esszimmer. Um nichts dem Zufall zu überlassen, gab es sogar für die wenigen Gäste handgeschriebene Platzkarten, und ­Valerie wunderte sich nicht im Geringsten, dass sie neben Konstantin saß.

»Das mit deinem Vater tut mir sehr leid, ­Valerie«, sagte der großgewachsene Mann mitfühlend, während Rose-Lynne, Kates langjährige Haushälterin, mit Hilfe einer für den heutigen Abend engagierten Hilfskraft die Vorspeise servierte. »Ich habe das vorhin erst von deiner Großmutter erfahren.«

»Danke, Konstantin«, sagte ­Valerie und war überrascht, dass Kate überhaupt jemandem davon erzählt hatte. Normalerweise verdrängte ihre Großmutter es völlig, dass es überhaupt einen Teil der Familie in Deutschland gab. Vor ein paar Jahren hatte sie sogar einmal Anthony als ihren Vater vorgestellt und es hinterher als Fauxpas entschuldigt. Aber ­Valerie wusste, dass ihre Großmutter nichts ohne Grund oder aus Versehen tat. Sie war eine äußerst kluge Frau mit einem ausgeprägten Geschäftssinn.

»Die Garnelen auf dem Paprikapesto sind ausgezeichnet«, lobte Konstantins Mutter die Vorspeise.

»Danke, Bridget. Das freut mich!«, nahm Kate das Kompliment entgegen, als hätte sie selbst das Gericht zubereitet, während ­Olivia sich bereits das zweite Glas Chardonnay einschenken ließ, wie ­Valerie erstaunt zur Kenntnis nahm.

Ohne dass es angesprochen wurde, war im weiteren Verlauf des Abends nicht zu übersehen, dass sich alle eine Verbindung zwischen ­Valerie und Konstantin gut vorstellen konnten. Vor allem Kate ging offenbar fest davon aus, dass die jungen Leute das perfekte Paar abgaben. Nur Anthony schien womöglich zu spüren, dass ­Valerie und Konstantin sich zwar sympathisch waren, aber nicht mehr dahintersteckte. Er lenkte die Gespräche immer wieder geschickt auf völlig andere Themen, was Kate ganz offensichtlich missfiel. ­Valerie hingegen hätte ihn dafür am liebsten umarmt.

Nach dem Dessert entschuldigte sie sich kurz und ging ins Badezimmer. Als sie es ein paar Minuten später wieder verließ, wartete Konstantin im Flur.

»Hör mal, ­Valerie«, sprach er sie an, »ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber ich denke, es geht dir ähnlich wie mir, und dir gehen diese Versuche, uns zu verkuppeln, genau so auf den Geist wie mir?«

Sie musste lächeln.

»Ja. Und wie. Was bin ich froh, dass du das genauso siehst.«

»Wir könnten das jetzt sofort klären. Oder …«

»Oder was?«, fragte sie neugierig, als sie sein verschmitztes Lächeln sah.

»Wir könnten ihnen auch eine Lektion erteilen und erstmal so tun, als ob wir beide einer möglichen Beziehung nicht abgeneigt wären.«

»Und was bringt uns das?«, fragte sie amüsiert.

»Ich kenne ja meine Mutter. Sobald sie merkt, dass das mit uns beiden sicher nichts wird, versucht sie es mit einer anderen Kandidatin. Und auch wenn sie sich bei mir die Zähne ausbeißt, so nervt mich das einfach. Mutter ist ansonsten echt super, aber was das Thema Heiraten betrifft, da scheint sie irgendeine Störung zu haben.«

»Du meinst also, wir sollen nur so tun, damit wir Ruhe vor weiteren Verkuppelungsbemühungen haben?«

»Ganz genau. Aber dafür muss ich wissen, dass du es nicht – verzeih mir, wenn ich das so direkt sage – also, dass du es nicht womöglich tatsächlich ernst meinen könntest. Ich möchte nicht, dass das für dich zu einem Problem wird«, sagte er vorsichtig.

»Ist es nicht«, bestätigte sie und musste plötzlich an ­­Sebastian denken. Einen Mann wie ihn würde ihre Großmutter für ihre Enkeltochter sicherlich nicht gutheißen. Wobei ­Valerie ja selbst wusste, dass es mit ­Sebastian nicht funktionieren würde, also verscheuchte sie die Gedanken an ihn rasch wieder.

»Gut. Dann ist das abgemacht?«, hakte er nach.

»Ja. Es ist abgemacht«, stimmte sie zu.

»Perfekt!«

Um ihren Deal abzuschließen, umarmten sie sich kurz. Genau im richtigen Moment, denn Bridget betrat auf der Suche nach dem Badezimmer den Flur.

»Na, ihr zwei«, sagte sie und konnte ihre Freude darüber, die beiden jungen Leute in so trauter Zweisamkeit zu sehen, kaum verbergen. »Wir vermissen euch da drinnen schon.«

»Wir waren gerade wieder auf dem Weg zu euch«, sagte Konstantin. »Wir hatten nur noch etwas Wichtiges zu ­besprechen, nicht wahr, ­Valerie?«

»Natürlich, Konstantin.«

»Oh. Verzeiht. Ich hoffe, ich habe euch nicht gestört«, sagte Bridget.

»Nicht allzu sehr!«, meinte Konstantin und zwinkerte ­Valerie zu, bevor sie gemeinsam zurück ins Esszimmer gingen.

Als sie wieder am Tisch Platz genommen hatten, ­bemühte sich Konstantin ganz besonders, ­Valerie seine Aufmerksamkeit zu schenken.

»Vielleicht hast du ja mal Lust auf ein Skiwochenende«, fragte er.

»Gern«, sagte ­Valerie. »Allerdings habe ich seit meiner Kindheit nicht mehr auf Skiern gestanden«, gab sie zu.

»Aber früher warst du doch eine gute Skifahrerin, ­Valerie«, sagte ­Olivia. »Das verlernt man nicht. Du brauchst nur wieder ein wenig Übung.«

»Konstantin ist ein ausgezeichneter Lehrer«, mischte sich nun Bridget ein, die sich unübersehbar darüber freute, dass die jungen Leute zusammen in die Berge fahren und Zeit miteinander verbringen würden.

»Ich kann dir gern dabei helfen, wieder Übung zu ­bekommen«, bot er an.

­Valerie bemerkte das zufriedene Lächeln der drei Frauen am Tisch. Offenbar schien ihr Plan zu funktionieren.