Kapitel 19

MIA

Die beiden Tage nach der Beerdigung verbrachte Mia damit, sich im Haus zu verkriechen und sich mit Filmen und ­Serien abzulenken. Sie hatte ihren Vater verloren, ihre ­Arbeit und dann auch noch ein zweites Mal ihre Schwester. Irgendwann musste sie sich darüber Gedanken machen, wie es mit ihr weitergehen sollte. Doch vorerst wollte sie einfach nur ihre Ruhe haben und möglichst wenig darüber nachdenken.

Bis auf längere Runden, die sie mit Rudi drehte, und regel­mäßige Besuche auf dem Friedhof hatte sie keine Lust, aus dem Haus zu gehen oder mit irgendjemandem zu sprechen. Ihr Handy hatte sie ausgeschaltet, zuvor jedoch Alma und ­Sebastian Bescheid gegeben, dass sie sich ein paar Tage ausklinken wollte.

»Aber du kannst dich doch nicht so einigeln«, hatte ­­Sebastian gesagt.

»Mach dir keine Sorgen. Nach dem, was passiert ist, brauche ich einfach ein wenig Abstand zu allem. Kannst du das nicht verstehen, ­Sebastian?«

Er zögerte kurz mit einer Antwort und sah sie besorgt an.

»Okay … Wenn du wirklich ein wenig Ruhe und ­Abstand brauchst, dann nimm dir die Zeit. Aber du versprichst mir, dass du mich anrufst oder zu mir rüberkommst, wenn es dir schlecht geht oder du doch jemanden zum Reden brauchst!«

»Ja. Das mache ich. Ehrenwort!«

Die meiste Zeit verbrachte sie in ihrem Zimmer, im Wintergarten oder in der Küche, wo sie ihre Kreativität beim Kochen mit den Zutaten auslebte, die sie noch im Haus hatte. So war sie abgelenkt und musste nicht ständig über sich und ihr Leben nachdenken.

Es war später Nachmittag, und Mia bereitete Nudelteig für Ravioli zu, die sie mit einer Ricotta-Parmesan-Mischung füllen wollte. Auf dem Laptop lief eine Folge der Serie This is us , die Mia in der letzten Nacht entdeckt hatte.

Rudi saß auf seiner Decke und sah ihr interessiert zu, in der Hoffnung, ein Stück vom Käse abzubekommen, den er so sehr liebte. Und natürlich konnte Mia seinem bettelnden Blick nicht lange widerstehen und schnitt ein Stück Parmesan ab.

»Rudi, fang!«

Sie warf es ihm zu, und der Hund schnappte geschickt danach.

»Gut gemacht!«, lobte sie ihn.

Dann widmete sie sich dem mehrfach gewalzten Teig und hob ihn vorsichtig über die Ravioli-Matrizen. In diesem Moment klingelte es an der Haustür.

Genervt schnaubte Mia. Rudi stand auf und trabte zur Küchentür.

»Bleib hier, Rudi«, sagte sie. »Wir machen einfach nicht auf!«

Doch es klingelte noch ein weiteres Mal. Vermutlich war es ­Sebastian, der sich davon überzeugen wollte, dass es ihr gut ging. Am besten redete sie kurz mit ihm, dann konnte sie hier weitermachen. Vielleicht lud sie ihn sogar zum Essen ein, falls er Zeit hatte. Nach zwei Tagen war sie einer kleinen menschlichen Ablenkung gar nicht mehr so abgeneigt.

Sie griff nach einem Küchentuch, wischte sich die Hände ab und ging hinaus in den Flur. Rudi folgte ihr neugierig. Als sie die Tür öffnete, konnte sie kaum glauben, wer da vor ihr stand.

»Was machst du denn hier?«, fragte sie Daniel Amantke, der sie freundlich angrinste. Auch heute war er wieder lässig gekleidet und trug eine dicke Winterjacke über der Jeans.

»Hallo, Mia«, begrüßte er sie, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Ich hätte nicht gedacht, dass du einen Hund hast!«

»Warum sollte ich keinen Hund haben?«, blaffte sie ihn an. Er wollte doch sicher nicht mit ihr über Rudi reden!

»Klar. Warum nicht?«, sagte er.

»Bist du vielleicht allergisch dagegen?«

»Nein. Überhaupt nicht. Ich mag Hunde … Hast du vielleicht kurz Zeit? Es gibt da etwas Dringendes, das ich mit dir besprechen muss.«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Was wollte der Typ nur von ihr?

»Ich kann mir nicht vorstellen, was ausgerechnet wir beide zu besprechen hätten. Etwas Dringendes schon gar nicht. Und überhaupt hab ich jetzt auch gar keine Zeit.«

Sie bemerkte seinen Blick, der über ihre alte Jogginghose und den Pulli wanderte, den sie schon seit ein paar Tagen trug und der am Rand des Ärmels weiß vom Mehl war.

»Was kochst du denn?«, fragte er.

»Ravioli«, antwortete sie und fragte sich gleichzeitig, was ihn das überhaupt anging.

»Also, darf ich kurz reinkommen?«

»Nein!«, rief sie genervt, was Rudi nicht zu gefallen schien, denn er fing alarmiert zu bellen an.

»Rudi, still! Alles gut. Ab in die Küche!«, gab sie das Kommando, und der Hund folgte, wenn auch sichtlich wider­willig.

»Und du gehst jetzt auch!«, richtete sie das Wort wieder an Daniel.

»Er hatte mir prophezeit, dass es nicht einfach werden würde«, sagte er mit einem Seufzen.

»Wer hat was?«, fragte sie irritiert.

Daniel antwortete nicht, ging einen Schritt zurück und drehte sich zur Seite.

»Kommt ihr mal, Leute? Ich brauch jetzt doch eure Unter­stützung!«, rief er.

Mia riss die Augen auf, als sie plötzlich Joshua und Jette sah, die aus der Dunkelheit um die Ecke und auf die Haustür zukamen. Ihnen folgten weitere Schüler ihres Chores.

»Was macht ihr denn alle hier?«, fragte sie verdattert.

»Wir singen das Konzert nur, wenn Sie wieder mit ­dabei sind«, sagte Joshua, und die anderen stimmten ihm entschlossen zu.

Amantke zuckte fatalistisch mit den Schultern.

»Sie wollen es alle drauf ankommen lassen, von der Schule zu fliegen, wenn sie für das Weihnachtskonzert nicht wieder mit dir üben dürfen«, sagte er.

»Aber die Wurm-Fischer hat mir gekündigt. Sie nimmt mich auf keinen Fall mehr zurück«, erklärte Mia.

»Na und?«, sagte Jegor. »Aber wir tun das.«

»Ach, macht es mir doch bitte nicht so schwer …«, ­begann Mia und spürte, wie Tränen in ihre Augen schossen.

»Normalerweise lasse ich mich nicht erpressen«, sagte Daniel. »Aber ich möchte auch nicht, dass die Schüler Schwierigkeiten bekommen, nur weil sie so loyal zu dir stehen«, sagte er. »Auf eine verrückte Art imponiert mir das nämlich.«

»Aber …«

Doch er ließ sie nicht ausreden.

»Und nur um das klarzustellen: Ich hatte niemals vor, dich von deinem Posten in der Schule zu verdrängen. Und ich finde es überhaupt nicht lustig, dass ich unfreiwillig zum Sündenbock gemacht werde. So habe ich mir den Beginn meiner neuen Arbeit echt nicht vorgestellt.«

Stimmte das wirklich? Mia wusste nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollte.

»Kommen Sie schon, Frau Garber«, drängte Jette.

Mia blickte wieder in die erwartungsvollen Gesichter ihrer Schüler.

»Das ist ja alles schön und gut, aber wie soll das denn gehen?«, fragte Mia.

»Wir haben einen Plan«, sagte Joshua mit einem verschmitzten Lächeln.

»Einen Plan?«

»Yep, und zwar einen ziemlich guten«, ergänzte Jegor mit schelmischem Blick.

»Okay. Jetzt kommt erst mal alle rein! Dann reden wir«, sagte Mia und musste sich ein Grinsen verkneifen.

Der Wintergarten war groß genug, um die siebzehn Mitglieder des Chores aufzunehmen. Alle bis auf ­Nele waren heute mitgekommen, um sie zu überreden.

Mia bat Joshua, die anderen mit Getränken zu versorgen, und verschwand währenddessen rasch in ihr Zimmer, um in frische Sachen zu schlüpfen. Als sie in den Spiegel sah, entdeckte sie seit Langem mal wieder ein Funkeln in den Augen.

Im Wintergarten saßen die Schüler dicht gedrängt auf dem Sofa oder am Boden. Nur Daniel stand neben der Kommode, wo er scheinbar die Fotos betrachtet hatte.

»Das ist voll schön hier, Frau Garber«, sagte Tami, die im Alt sang und jetzt begeistert eine kleine Schneekugel schüttelte, die ­Albert von einer Konzertreise aus Tokio mitgebracht hatte. »Voll weihnachtlich alles.«

»Danke, Tami.«

»Hätte ich gar nicht gedacht, dass Sie so auf Weihnachten stehen«, sagte Jegor.

»Tja … tu ich aber«, sagte Mia lächelnd.

»Und Weihnachten ist immer für ein Wunder gut, deswegen wird das mit dem Konzert auch klappen«, meinte Joshua.

»Also, ich finde das ja ganz rührend von euch, dass ihr euch so für mich einsetzt, aber ich weiß wirklich nicht, wie ihr euch das vorstellt«, sagte Mia und betonte noch einmal, dass es keine Chance gab, die Direktorin umzustimmen.

»Das wissen wir leider auch«, sagte Mirko.

»Aber Sie haben sich zumindest dieses letzte Weihnachtskonzert noch verdient«, stellte Joshua klar. »Wenn Sie schon von der Schule gehen müssen, dann mit einem richtigen Knaller!«

»Außerdem wird die Wurm-Fischer sich bestimmt nicht trauen, Sie beim Konzert aus der Kirche zu werfen«, fügte Jegor grinsend hinzu.

Mia spürte, wie ihr Herz über die Loyalität ihrer Schüler vor Freude aufging. Allerdings war sie fast noch mehr überrascht von Daniel, dass er dabei mitspielte. Offenbar hatte sie ihn anfangs tatsächlich falsch eingeschätzt.

»Ich habe einen Deal mit den Kids«, sagte der Lehrer, als ob er ihre Gedanken erraten hätte. »Du probst eure Lieder heimlich außerhalb der Schule mit ihnen und bist beim Konzert mit dabei, dafür machen sie zukünftig auch wieder ordentlich im Unterricht mit.«

»Das ist ja Erpressung!«, sagte Mia. Trotz ihrer Freude darüber, wie sehr die Schüler sie zurückhaben wollten, konnte sie als Pädagogin ein solches Verhalten eigentlich nicht gutheißen.

Sie bemühte sich um einen strengen Blick und taxierte die jungen Leute.

»Also, jetzt sag ich euch mal was. Erstens: Erpressung geht überhaupt nicht!«

Ihre ehemaligen Schüler nickten nur halbherzig.

»Aber was noch viel wichtiger ist, ihr dürft euer Talent und eure Zukunft nicht einfach so aufs Spiel setzen. Und schon gar nicht für mich. Ich habe euch alle zusammen­gebracht, um aus euch einen Chor zu machen. Doch das seid ihr nur, wenn ihr zusammen singt! In eurem Leben werdet ihr immer wieder auf Schwierigkeiten und Probleme treffen, die zu meistern sind. Ihr werdet immer mal wieder Dinge tun müssen, die euch nicht sonderlich gefallen werden. Und nicht immer werdet ihr Menschen um euch haben, die euer Bestes wollen. Manche werden euch ausnutzen und eure Geduld und eure Gutmütigkeit an Grenzen bringen. Andere wiederum werden euch zur Seite stehen, euch fordern und fördern. Aus alldem werdet ihr lernen, eure Erfahrungen machen und daran wachsen. Wichtig ist, dass ihr euch selbst treu bleibt und euch auf das besinnt, was ihr am besten könnt.«

Im Zimmer war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören.

»Also, ich will, dass ihr verdammt noch mal euer Talent nutzt und singt! Und dass ihr euch von niemandem, auch nicht von einer Frau Wurm-Fischer davon abhalten lasst. Denn dann hätte sie es nicht nur geschafft, mich aus der Schule zu werfen, dann wäre damit auch der Chor Geschichte, der uns allen so viel bedeutet. Wollt ihr das wirklich?«

»Nein«, murmelten sie und schüttelten die Köpfe.

»Eben! Deswegen legt all eure Leidenschaft und euer Können in den Gesang«, fuhr sie fort, »auch wenn die äußeren Umstände nicht immer so sind, wie ihr euch das wünscht. Und auch dann, wenn ich nicht mehr da bin.«

Sie warf einen kurzen Blick zu Amantke, der ihren Vortrag aufmerksam verfolgte.

»Mit Herrn Amantke habt ihr es offenbar doch nicht so schlecht getroffen, wie ich befürchtet hatte«, gab sie mit einem schrägen Lächeln zu. »Und darüber solltet ihr echt froh sein! Jeder andere Lehrer hätte sich eurer Verhalten nicht bieten lassen und euch rausgeworfen. Ich werde mit euch üben und beim Auftritt dabei sein, aber nur wenn ihr euch in seinem Unterricht genau so bemüht und mit Begeisterung dabei seid, wie ihr das in meinem Unterricht wart. Habt ihr das verstanden?«

Sie nickten wieder.

»Das gilt auch für die Zukunft! Und dann gibt es noch Punkt drei.« Sie machte wieder eine kleine Pause und schluckte. »Ich bin ziemlich froh, dass ihr heute da seid! Danke euch allen total! Das … das bedeutet mir sehr viel!«

Begeistert johlte Joshua los, und die anderen stimmten mit ein. Daniel nickte ihr lächelnd zu.

Sie vereinbarten die ersten Termine für die geheimen Proben, die nach der Schule oder an den Wochenenden stattfinden sollten. Da niemand davon erfahren durfte, vor allem nicht Direktorin Wurm-Fischer oder ­Nele, die sie verpetzen könnte, würden sie sich bei Mia zu Hause treffen.

Plötzlich bemerkte Mia, dass Mirko sein Handy anhatte. Filmte er gerade das, was hier besprochen wurde?

»Was machst du denn da, Mirko?«

»Facetime mit Janina, damit sie auch alles mitbekommt«, erklärte er.

»Mit Janina?«

Mia nahm ihm das Smartphone aus der Hand.

»Hallo, Frau Garber!« Janina winkte ihr aus dem kleinen Bildschirm zu.

»Janina! Das ist ja eine Überraschung! Wie geht es dir in München?«

»Gut. Und meine Mama hat erlaubt, dass ich beim Konzert mitsinge«, erklärte sie glücklich. »Und wenn die Proben am Wochenende sind, kann ich sogar kommen und mit dabei sein.«

»Wie toll, dann sehen wir uns ja bald«, sagte Mia und reichte Mirko wieder das Handy.

Joshua hatte bereits eine neue WhatsApp-Gruppe ­gegründet.

»Hey, passt bitte alle auf, dass ihr nicht versehentlich was in die falsche Chor-Gruppe schreibt«, mahnte er alle.

»Wir sind ja nicht doof«, meinte Jette.

»Ich will’s hoffen.«

»So, Leute«, sagte Daniel, »nachdem wir jetzt alles ­geklärt haben, wollen wir Frau Garber nicht mehr länger aufhalten.«

»Wir können noch nicht gehen«, sagte Jegor. »Erst ist noch Das Letzte dran.«

»Das Letzte?«

Mia grinste, als sie Daniels fragenden Blick sah.

»Unser spezielles Lied«, erklärte sie kurz und wandte sich dann wieder an die Schüler. »Na gut, aber dafür lasst uns besser ins Musikzimmer gehen.«

Sie hatte den Raum seit ihrem Absturz am Tag der Beerdigung nicht mehr betreten.

Als ihr alle gefolgt waren und sich aufgestellt hatten, setzte Mia sich ans Klavier.

»Habt ihr schon ausgemacht, wer heute die einzelnen Strophen singt?«, fragte sie, und Jegor nickte.

»Gut, dann lasst uns anfangen.«

Sie spielte die ersten Töne am Klavier und nickte den Schülern zu, die mit dem Gesang einsetzen. Amantke stand an der Tür und hörte ihnen amüsiert zu.

Als das fröhliche Lied zu Ende war, applaudierte er ­begeistert.

»Ich verstehe immer mehr, warum sie dich so lieben«, sagte er leise zu ihr, während die Schüler aufbrachen.

Mia wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, und war fast ein wenig verlegen. Obwohl sie es nach ihrer ersten Begegnung nie für möglich gehalten hätte, konnte sie nicht umhin, ihm nach dieser Aktion eine sympathische Seite ­abzugewinnen.

»Können wir noch kurz reden?«, fragte er.

»Können wir«, sagte Mia. Das war sie ihm wohl schuldig, nachdem er sich so für die Schüler und damit auch für sie eingesetzt hatte.

»Willst du was trinken?«

»Vielleicht ein Bier?«

»Gut. Geh schon mal in den Wintergarten, ich komme gleich nach.«

Als sie das Bier aus dem Kühlschrank holte, warf sie einen Blick auf den Tisch und die nicht fertiggestellten Ravioli, zuckte dann mit den Schultern und verließ die Küche.

Aus dem Musikzimmer hörte sie eine bekannte Melodie. Daniel spielte am Klavier: All along the watchtower, von Bob Dylan.

Sie blieb an der Tür stehen und hörte ihm zu. Er war ­völlig versunken in sein Spiel, und zum ersten Mal hatte sie die Gelegenheit, ihn in Ruhe ein wenig genauer zu betrachten. Er hatte seine Brille auf dem Klavier abgelegt, und eine Strähne seiner dunklen Haare fiel ihm in die Stirn. Was sie sah, gefiel ihr. Nicht nur sein Äußeres – er war zweifellos ein attraktiver Mann –, sondern vor allem die Hingabe, mit der er sich in die Musik fallen ließ. So, als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt gäbe.

Er drehte den Kopf zur Seite, und als er sie entdeckte, hörte er zu spielen auf.

»Mach doch weiter«, forderte sie ihn auf.

»Vielleicht ein anderes Mal«, sagte er und stand auf.

Sie reichte ihm eine Flasche.

»Willst du das Bier lieber aus einem Glas?«, fragte sie.

»Nein. Das passt so … Prost.«

»Prost!«

Sie stießen an – Mia mit einem alkoholfreien Bier – und nahmen einen Schluck.

»Es tut mir leid, dass ich dich offenbar falsch eingeschätzt habe«, gab sie unumwunden zu.

»Entschuldigung angenommen«, sagte er lächelnd. »Die Situation war aber auch wirklich nicht einfach. Und ich kann inzwischen verstehen, dass du sauer warst. Was ist da eigentlich zwischen der Direktorin und dir passiert? Du bist ja offenbar ein rotes Tuch für sie.«

Mia zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Echt nicht. Diese Frau konnte mich von Anfang an nicht leiden«, sagte sie und nahm einen weiteren Schluck. »Tja. Und jetzt hat sie es geschafft, mich loszuwerden.«

»Weißt du schon, wie es für dich weitergehen wird?«

»Nein …«

»Du musst auf jeden Fall weiter unterrichten«, sagte er. »Du bist ein Gewinn für alle Schüler.«

»Mal sehen …«, sagte sie, freute sich aber insgeheim über seine Worte.

Sie wollte gerade die Flasche auf dem Sekretär abstellen, da fiel ihr ein Notenblatt mit einem Text auf, der in ihrer Handschrift geschrieben war. Ihr Herz begann mit einem Mal, schneller zu schlagen. Vor ihr lagen die Noten und der Text für ein Weihnachtslied. Sie hatte es also wirklich ­geschrieben! Dabei war sie überzeugt gewesen, dass sie das in ihrem betrunkenen Zustand nur geträumt hatte. Doch offenbar hatte sie aus den Erinnerungen an die Melodie ihres Vaters und seinen unvollständigen Aufzeichnungen tatsächlich ein Lied komponiert. Und der seltsame Traum hatte sich mit ihren Erinnerungen an die Wirklichkeit vermischt.

»… dass du sogar ein eigenes Lied für sie geschrieben hast, finde ich einfach toll«, riss Daniel sie aus ihren Gedanken. »Das Letzte – was für ein lustiger Titel.«

»Was?« Sie drehte sich zu ihm um.

Sein Lächeln verschwand, er sah sie besorgt an.

»Ist was? Du bist ja ganz blass geworden.«

»Nein«, sagte sie. »Mir geht es gut … Ich hab nur etwas gefunden.«

Er entdeckte das Blatt in ihrer Hand.

»Ein Lied? Hast du das auch selbst geschrieben?«

»Es ist eigentlich von meinem Vater«, murmelte sie. »Ich hab es nur fertig gemacht.«

»Darf ich?«, fragte er.

Sie nickte und reichte ihm das Blatt.

»Das ist ja ein Weihnachtslied«, sagte er überrascht, nachdem er den Text überflogen hatte. Er setzte sich wieder ans Klavier und legte die Hände auf die Tasten. »Soll ich es mal versuchen?«

»Ja, bitte«, sagte sie schnell. Es war besser, wenn er es spielte, denn sie selbst zitterte in diesem Moment viel zu sehr.

»Gut.«

Ohne Probleme begann er, die Noten auf dem Klavier zu spielen. Schon die ersten Klänge versetzten sie wieder in die Stimmung ihres eigenartigen Traumes, in dem sie das Lied gemeinsam mit ­Albert fertiggestellt hatte. Sie trat ­näher zu Daniel und setzte mit der ersten Strophe ein. Ohne den Blick vom Notenblatt zu wenden, spielte er weiter und nickte anerkennend.

Daniel war ein ausgezeichneter Pianist und hatte genau das richtige Gespür für das Lied, obwohl es für ihn völlig neu war.

Als Mia den Refrain zum zweiten Mal sang, begleitete er sie mit der zweiten Stimme, die er gekonnt improvisierte. Mia konnte kaum fassen, wie toll sie beide harmonierten. Fast so, als hätten sie schon unzählige Male miteinander musiziert.

Als das Lied zu Ende war, drehte er sich zu ihr um.

»Du weinst ja«, sagte er besorgt.

Dabei hatte sie überhaupt nicht mitbekommen, dass ihr Tränen über das Gesicht liefen. Doch es waren keine ­Tränen des Schmerzes, sondern Tränen der Rührung. Verlegen wischte sie sie mit dem Unterarm weg.

»Es ist alles gut«, sagte sie schniefend und bemühte sich zu lächeln. Sie öffnete eine Schublade im Sekretär, in die allerlei Krimskrams gestopft war, und fand tatsächlich ein angefangenes Päckchen Papiertaschentücher.

»Das Lied … es ist etwas ganz Besonderes«, sagte er, während sie sich die Nase putzte.

»Das ist es«, gab Mia ihm recht.

»Geht’s wieder?«

»Ja!« Sie lächelte.

»Sag mal, was hältst du davon, wenn wir einen Chorsatz für das Lied vorbereiten und die Schüler es ganz zum Schluss beim Weihnachtskonzert singen?«, schlug er vor, und seine Augen blitzten begeistert über seine Idee.

»Ich … ich weiß nicht«, sagte Mia. »Ich glaube, ich muss erst ­darüber nachdenken.«

»Verstehe … Aber ich fände es wirklich schön.«

»Ich sage dir bald Bescheid … Daniel, würde es dir etwas ausmachen, wenn du jetzt gehst? Ich glaube, ich brauche ­gerade ein wenig Zeit für mich. Das war jetzt alles etwas viel für heute.«

»Klar«, sagte er.

»Danke.«

»Und ich freue mich, dass wir die Sache mit dem Chor gemeinsam durchziehen.«

»Ich mich auch … Und danke dir noch mal! Ihr müsst wirklich gut aufpassen, dass niemand das rausfindet. Ich will nicht, dass du meinetwegen auch noch Ärger bekommst. Von den Schülern ganz zu schweigen.«

Er schenkte ihr ein Lächeln.

»Mach dir bitte keine Sorgen. Ich kriege das schon hin. Zusammen kriegen wir das hin.«

Er sah sie an, und Mia hatte den Eindruck, dass er noch etwas sagen wollte. Doch der Augenblick verstrich, und er verabschiedete sich von ihr.

Nachdem Daniel sich auf den Heimweg gemacht hatte, ging Mia zurück ins Musikzimmer und setzte sich ans Klavier. Sie starrte eine Weile auf die Noten, bevor sie anfing, selbst zu spielen und dazu zu singen. Vorhin, zusammen mit Daniel, hatte es sich für sie viel besser angehört. Trotzdem war es ein besonderes Lied. Es war das Lied ihres Vaters an seine Tochter ­Valerie.

Und so verrückt es sich anhören mochte, Mia war überzeugt davon, dass ihr Vater ihr in diesem seltsamen Traum tatsächlich dabei geholfen hatte, dieses Lied fertigzuschreiben. Auch wenn das natürlich gar nicht möglich war.

»Und was soll ich jetzt damit anfangen, Papa?«, murmelte sie mit einem Blick nach oben.

Sie ging ins Esszimmer, griff nach dem Handy und schaltete es nach zwei Tagen im Flugmodus zum ersten Mal wieder ein. Sie hatte viele WhatsApp-Nachrichten, die Schüler tauschten sich bereits rege in der neu gegründeten Chorgruppe aus, und mehrere verpasste Anrufe. Doch nur einer davon interessierte sie wirklich. Der von ihrer Schwester, die jedoch keine Nachricht hinterlassen hatte.

Mia war schon drauf und dran, ­Valerie zurückzurufen, doch dann rechnete sie die Zeit um. In New York war es jetzt halb drei Uhr nachmittags, und ihre Schwester würde vermutlich im Büro sein. Dort wollte sie sie nicht stören. Außerdem wusste sie gar nicht, was sie ihr hätte sagen sollen. Hey, ­Valerie, Papa hat ein Lied für dich geschrieben, aber das wirst du vermutlich genau so wenig hören wollen, wie du seine Briefe lesen wolltest?

Erneut überfielen sie Schuldgefühle. Wieder fragte Mia sich, warum sie ­Valerie nicht viel früher von ihrem Vater erzählt hatte, auch wenn er es damals ausdrücklich nicht ­gewollt hatte. Offenbar hatte er aber tief in seinem Inneren trotzdem den Wunsch nach Versöhnung in sich getragen, selbst wenn er seiner Frau nie hatte verzeihen können, dass sie ihn verlassen hatte.

Zum ersten Mal konnte Mia wirklich nachvollziehen, wie verletzt ­Valerie über die Briefe gewesen sein musste, und Wut überkam sie. Die Zwillingsschwestern waren zum Spielball der Streitigkeiten ihrer Eltern geworden, und damit hatten sie den Mädchen die innige Zuneigung und tiefe Verbundenheit genommen, die sie von klein auf geteilt ­hatten.

­Valerie war einst der wichtigste Mensch in ihrem Leben gewesen. Als Babys hatten sie sogar nur dann durchgeschlafen, wenn sie nebeneinander in einem Bettchen gelegen ­hatten – das hatten ihnen die Eltern früher immer erzählt. Sie hatten gemeinsam ihre ersten Schritte getan und die kleine Welt im Haus am Chiemsee erobert. Mia hatte immer ­gewusst, wie ­Valerie sich fühlte, genauso wie ihre Schwester gespürt hatte, wenn es Mia nicht gut ging. Und eigentlich spürte sie auch jetzt, dass es ­Valerie genau so wenig gut ging wie ihr. Trotzdem schienen sie keinen Weg mehr zueinan­derzufinden.

»Das darf einfach nicht sein!«, sagte sie laut in Richtung Rudi, der auf der Decke lag und ein zustimmendes Bellen von sich gab. »Ich muss das in Ordnung bringen!«

Ob es ihr gelingen würde, wusste sie nicht, aber sie würde es zumindest versuchen.

Entschlossen ging sie in den Wintergarten und holte die Briefe ihres Vaters aus der Schublade. Mia wusste einfach, dass ihre Schwester sie trotz allem unbedingt lesen musste. Zumindest wollte sie ihr eine zweite Chance dafür geben. Außerdem nahm sie einige Fotos aus den Alben und packte sie zusammen mit den Briefen, einem Weihnachtsstern aus feinem Draht und bunten Perlen, den sie als Kinder zusammen für ihre Eltern gebastelt hatten, und einer persönlichen Nachricht an ­Valerie, in ein großes wattiertes Kuvert. Nachdem sie es mit der Adresse ihrer Schwester versehen hatte, rief sie Daniel an, dessen Nummer sie sich von Joshua hatte geben lassen.

»Ja, hallo?«, meldete er sich.

»Hi, Daniel, hier ist Mia. Entschuldige, wenn ich dich so spät noch störe.«

»Kein Problem. Was ist denn los?«

»Ich habe es mir überlegt mit dem Lied. Ich würde mich sehr freuen, wenn du mir helfen würdest, den Chorsatz ­dafür zu schreiben.«

Sie würde außerdem ­Sebastian bitten, das Weihnachtslied beim Konzert mit der Kamera aufzunehmen, denn sie hatte vor, die Aufnahme später ebenfalls an ihre Schwester zu schicken. Mehr konnte sie nicht tun, aber das zumindest war sie ihr schuldig.

»Aber klar doch«, antwortete Daniel. »Sehr gern.«

»Danke!«

»Geht es morgen Abend? Sagen wir um 19 Uhr bei dir?«, schlug er vor.

»Das wäre super!«, sagte sie. »Du kriegst sogar was zu essen. Immerhin möchte ich mich für deine Hilfe revanchieren. Magst du gern italienisch?«

»Solange es ohne Fleisch ist, total gern. Ich bin Vegetarier«, erklärte er.

»Ah, okay. Na, da passen doch selbstgemachte Ravioli mit Parmesan-Ricotta-Füllung perfekt.«

»Ich kann es kaum mehr erwarten.«

»Dann bis morgen!«

»Bis morgen … und Mia?«

»Ja?«

»Es macht mir ziemlichen Spaß, dieses Chorkomplott gemeinsam durchzuziehen.«

Sie lächelte.

»Mir auch!«

Als sie aufgelegt hatte, spürte sie eine neu gewonnene Energie. Es fühlte sich gut an, etwas zu unternehmen, um wieder mit ihrer Schwester zusammenzufinden. Außerdem war sie ein kleines bisschen neugierig darauf, was das Leben, trotz der schwierigen Zeit, die sie gerade durchmachte, noch alles für sie bereithielt. Und vielleicht spielte Daniel darin ja eine Rolle.