Seitdem Mia erfahren hatte, dass ihre Mutter sich scheiden lassen wollte, war es, als wäre der Welt um sie herum jegliche Farbe entzogen worden. So, als würde man einen Farbfilm auf einem Schwarz-Weiß-Fernseher ansehen.
Sie hatte hinter ihrem Vater gestanden, als er mit Olivia telefonierte, und den Streit ungefiltert mitbekommen. Albert hatte offenbar völlig vergessen, dass seine Tochter noch im Zimmer war, während er mit Olivia heftig diskutierte. Als das Wort Scheidung fiel, war Mia kreidebleich geworden. Scheidung? So etwas passierte in anderen Familien, aber doch nicht bei ihren Eltern!
Sie hatte leise aufgestöhnt, und Albert hatte sich zu ihr umgedreht.
»Mia … meine Kleine, bitte geh nach oben«, hatte er hilflos gesagt und ihr kurz über den Kopf gestreichelt, bevor er sich wieder auf das Gespräch mit Olivia konzentriert hatte.
»Du willst was? … Das ist jetzt aber keine gute Idee … Na gut, Mia, deine Mutter möchte mit dir sprechen«, hatte Albert gesagt, während er sichtlich um Fassung rang und ihr den Telefonhörer entgegenhielt.
»Mama! Du und Valerie, ihr müsst wieder nach Hause kommen«, hatte Mia ins Telefon geschluchzt. »Bitte!«
»Mia, mein Mädchen, du musst dich beruhigen. Ich weiß, dass es schwer ist, aber weißt du, manchmal kann man etwas nicht aufrechterhalten, weil …«
Doch Mia hatte sie nicht ausreden lassen.
»Du kannst uns doch nicht einfach so verlassen!«
»Bitte, Mia, versteh doch …«
Albert hatte ihr den Hörer aus der Hand genommen.
»Mia ist gerade völlig durcheinander.«
Mia hatte nicht gehört, was ihre Mutter darauf antwortete, aber ihr Vater hatte nur ein hartes »Nein!« gezischt und dann aufgelegt.
Als er sich zu ihr umdrehte, hatte Mia die große Verzweiflung in seinen Augen gesehen. Sie hatte ihn trösten wollen und wollte gleichzeitig von ihm getröstet werden. Er hatte sie in die Arme genommen und fest an sich gedrückt.
»Keine Sorge, meine Kleine«, hatte er ihr ins Ohr geflüstert. »Ich werde alles tun, damit sie wieder zurückkommen. Alles … alles wird wieder gut werden.«
Doch dem Klang seiner Stimme hatte jegliche Überzeugung gefehlt. So, als hätte er bereits aufgegeben. Vielleicht hatte er sogar schon längst damit gerechnet, nachdem Olivia ihre Rückkehr immer weiter hinausgeschoben hatte.
In diesem Moment hatte Mia eine Wut auf ihre Mutter empfunden, die fast an Hass grenzte. Sie war die Schuldige, diejenige, die ihre Familie zerstörte. Und ihr Vater war womöglich nicht stark genug, um das zu verhindern.
Mia hatte sich von Albert losgemacht und war nach oben in ihr Zimmer gerannt. Doch Albert wollte sie in diesem Zustand nicht allein lassen und war ihr gefolgt.
»Komm!«, hatte er sie aufgefordert. »Lass uns hinausgehen!«
Sie hatte protestiert, ihn gebeten, sie in Ruhe zu lassen. Doch er hatte nicht lockergelassen, und schließlich hatte sie nachgegeben. Stundenlang waren sie am Ufer des Sees spaziert, ohne allzu viel miteinander zu reden. Passend zur Stimmung war der Tag trüb gewesen, und Mia hatte sich gefühlt wie in einem schlechten Traum.
Als sie nach Einbruch der Dunkelheit die Straße entlang aufs Haus zugingen, hatte Albert sie am Arm genommen und mit festem Blick angeschaut. »Egal was kommen wird, Mia. Wir beide werden zusammenhalten. Nicht wahr?«
Mia hatte genickt.
»Und Valerie muss auch wieder bei uns sein!« Bei diesem Satz hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt, weil er ihre Mutter ausschloss. Natürlich wünschte sie sich am liebsten, dass am Ende die ganze Familie wieder komplett war. Doch im Moment war Valerie ihr deutlich wichtiger als ihre abtrünnige Mutter.
Gleich nach ihrer Rückkehr schrieb Mia eine E-Mail an ihre Schwester und musste bis spät in der Nacht warten, bis sie eine Antwort von ihr bekam. Valerie war ebenso verzweifelt wie Mia. Und das Schlimmste für sie war, dass sie in New York niemanden hatte, mit dem sie darüber reden konnte. Die Schwestern schworen sich, alles zu versuchen, um die Eltern wieder zu versöhnen. Auch wenn sie keinen blassen Schimmer hatten, wie sie das über die große Entfernung hinweg anstellen sollten.
Für den Tag vor dem Heiligabend hatten die Mädchen ein Telefongespräch vereinbart. Dazu würde Valerie sich mitten in der Nacht ins Wohnzimmer schleichen, wenn alle tief und fest schliefen. Tagsüber schien ihre Großmutter stets ein Auge auf sie zu haben, und Valerie hatte kaum eine Gelegenheit, ungestört mit Mia zu sprechen.
Um nicht auch selbst einzuschlafen, hatte sie am Nachmittag mehrere Dosen Cola ins Haus geschmuggelt, die sie am Abend heimlich in ihrem Zimmer trank. Trotzdem konnte sie gegen zwei Uhr früh die Augen kaum mehr offenhalten. Noch eine Stunde, dann würde sie mit ihrer Schwester reden können, ohne dass ihre Mutter oder die Großeltern ihr dabei zuhörten.
Tagelang hatte Valerie versucht, den richtigen Moment abzupassen, um allein mit ihrer Mutter zu sprechen. Doch Kate hatte für Olivia so viele Einladungen zu Festen und Ausstellungen organisiert, dass sie kaum zu Hause war. Valerie hatte ohnehin das Gefühl, dass sie Gesprächen mit ihrer Tochter bewusst aus dem Weg ging.
Einmal war der Anwalt ihrer Großeltern gekommen, mit dem sie sich lange in Richards Büro zurückgezogen hatten. Hinterher hatte ihre Mutter rot verweinte Augen gehabt, doch auch darüber hatte sie ihrer Tochter gegenüber kein Wort verloren.
Sie sah auf die Uhr. Noch zehn Minuten, bis es so weit war. Doch inzwischen machte sich die viele Cola bemerkbar. Sie musste dringend auf die Toilette. Allerdings könnte sie dann jemanden wecken, und an ein ungestörtes Telefonat wäre nicht mehr zu denken. Also würde sie es zurückhalten müssen, bis danach.
Leise stieg sie aus dem Bett und schlich mit einer kleinen Taschenlampe aus dem Zimmer. In der Wohnung war es völlig still, und sie kam ungesehen ins Wohnzimmer. Sie nahm das Telefon und setzte sich damit hinter das große Sofa, damit ihre Stimme gedämpfter sein würde. Ohnehin würde sie nur flüstern können, damit sie nicht doch womöglich jemand hörte.
Endlich war es so weit, und sie wählte auf dem Tastentelefon die lange Nummer nach Deutschland, die sie natürlich auswendig kannte.
Schon nach dem ersten Klingeln wurde das Telefon abgenommen.
»Valerie?«
»Ja, ich bin’s«, flüsterte Valerie und hatte das Gefühl, dass man sie trotzdem durch die ganze Wohnung hören konnte.
»Hast du bei Mama schon was erreichen können?«, wollte Mia wissen.
»Leider nein. Ich glaube, es ist ihr wirklich ernst«, antwortete Valerie betrübt.
»Papa muss unbedingt zu euch nach New York fliegen und sie dort überreden.«
Valerie hörte Mias Hoffnung in der Stimme.
» Ja«, sagte Valerie ganz leise. »Du und er.«
»Ich glaube, er versucht gerade, das Geld dafür aufzutreiben«, sagte Mia. »Zumindest habe ich gestern gehört, wie er mit der Bank telefonierte … Ach, Valerie, wenn die beiden sich nur wiedersehen würden. Sie haben sich doch so geliebt. Außerdem sind wir eine Familie. Sie können sich doch nicht einfach so trennen. Das geht doch nicht!«
»Ich hoffe nicht, Mia.« Dennoch verhielt sich ihre Mutter nicht so, als ob Albert ihr noch sehr wichtig wäre. Sie traute sich jedoch nicht, Mia ihre schlimmste Befürchtung mitzuteilen.
»Aber was tun wir, wenn die beiden sich tatsächlich scheiden lassen« , stellte Mia die Frage, vor der auch Valerie sich fürchtete.
»Keine Ahnung. Ich hab gehört, dass Mama zu Oma sagte, dass sie dich auch herholen möchte«, flüsterte Valerie.
»Und Papa hier ganz allein lassen? Niemals!«, rief Mia empört. »Du solltest besser zu uns kommen, Valerie. Zurück nach Hause.«
Der Gedanke, ihre Mutter in New York zurückzulassen, tat zwar weh, aber vor die Wahl gestellt, würde Valerie sich vermutlich für ihre alte Heimat entscheiden.
»Dass ich zu euch zurückkomme, wird Mama aber nicht zulassen!«, sagte Valerie und vergaß für einen Moment völlig, dass sie leise sein musste. Sofort senkte sie ihre Stimme wieder. »Im schlimmsten Fall wird uns nichts anderes übrig bleiben, als uns gegenseitig in den Ferien zu besuchen.«
» Aber das will ich nicht«, protestierte Mia und konnte die Tränen kaum mehr zurückhalten. Es sah ganz so aus, als würde es keinen Ausweg geben, aber das durfte einfach nicht sein!
»Ach, Mia … ich doch auch nicht. Vielleicht überlegt Mama es sich ja doch noch anders.«
In diesem Moment hörte Mia die Haustür.
»Papa kommt zurück«, sagte sie.
»Kannst du ihn mir bitte geben?«
»Klar.«
Albert kam in den Wintergarten und hatte ein Strahlen im Gesicht, wie schon seit Tagen nicht mehr. Irgendetwas war anders, das spürte Mia sofort.
» Valerie ist am Telefon«, rief Mia sofort.
»Was? Jetzt um diese Zeit? Es ist doch mitten in der Nacht in New York«, sagte er überrascht.
»Tagsüber ist es schwierig bei ihr«, erklärte Mia.
»Verstehe. Bitte gib sie mir doch gleich mal, Mia«, bat er seine Tochter.
Mia reichte das Telefon an ihren Vater.
»Aber sie kann nur flüstern, damit sie niemand hört!«, erklärte Mia noch rasch.
Albert nickte.
» Walli, meine Süße … Geht es dir gut?« Auch er hatte seine Stimme gesenkt, so als ob man ihn bis nach Amerika hören könnte.
»Ja, Paps. Und dir?«
Es tat so gut, mit ihm zu sprechen.
»Mir auch … hör mal, meine Kleine. Ich habe einen Plan, wie ich euch beide wieder hierher nach Hause kriege.«
»Wirklich?«
»Ja. Wirklich … Ein Freund leiht mir Geld für den Flug nach New York, was ich mit einem Auftritt dort bei seinem Bruder verrechnen kann.«
» Kommt Mia auch mit?«
»Das geht leider nicht.« Er wandte sich an Mia. »Tut mir leid, Mia.«
Mias Lächeln verschwand für einen kurzen Moment.
»Hauptsache du holst Valerie und Mama wieder nach Hause«, sagte sie jedoch tapfer.
»Ich versuche mein Bestes.«
»Valerie, Mia … Ich weiß, dass ich einiges falsch gemacht habe, weswegen eure Mutter womöglich unglücklich war, aber wenn ich mit ihr allein sprechen kann, dann finde ich die richtigen Worte, damit wieder alles gut wird. Das weiß ich.«
Mia glaubte ihm und spürte, wie ein großer Stein von ihrem Herzen fiel. Ihr Vater würde alles wieder in Ordnung bringen. Ganz bestimmt.
»Du kommst wirklich nach New York und holst uns zurück?«, fragte Valerie leise, die es gar nicht fassen konnte.
»Ja … Aber leider erst Anfang Januar, wenn ich dort spielen werde. Ich habe ohnehin bis Silvester auch hier noch einige Auftritte, die ich nicht absagen kann. So lange müssen wir noch durchhalten. Aber das schaffen wir, oder Walli?«
»Ja … das schaffen wir, Paps!«
»Aber jetzt musst du schleunigst ins Bett, mein Schatz. Du brauchst deinen Schlaf … und verrate bitte niemandem etwas, ich will deine Mama überraschen. Okay?«
»Niemand erfährt etwas von mir« , versprach Valerie.
»Gut. Dann gute Nacht, Walli. Schlaf schön.«
»Gute Nacht, Paps.«
Mit einem glücklichen Lächeln legte Valerie auf. Alles würde gut werden! Die Verzweiflung, die sie noch vor ein paar Minuten gespürt hatte, war wie weggeblasen.
Sie stand hinter dem Sofa auf, beleuchtete mit der Taschenlampe den Weg bis zur Kommode, steckte das Telefon in die Ladestation und ging langsam in Richtung Zimmertür.
Plötzlich hört sie ein leises Geräusch und blieb erschrocken stehen. Beim Versuch, die Taschenlampe auszuschalten, rutschte sie ihr aus der Hand und fiel zu Boden. Rasch bückte sie sich danach und schaltete sie aus. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, während sie lauschte, ob irgendetwas zu hören war. Minuten vergingen, die sich wie Stunden anfühlten, doch sie hörte nichts mehr.
Nach und nach beruhigte sie sich wieder. Vermutlich hatte ihre Angst ihr einen Streich gespielt, oder das Geräusch war von draußen gekommen. Schritt für Schritt setzte sie ihren Weg in der Dunkelheit fort, bis sie im Flur war. Bevor sie zurück ins Bett ging, musste sie unbedingt auf die Toilette. Als sie das Badezimmer erreichte, knipste sie erleichtert das Licht an. Sollte man sie nun entdecken, wäre das kein Problem mehr.
Während sie sich die Hände wusch, betrachtete sie sich im Spiegel. Ihr Gesicht war in den letzten Wochen schmaler geworden, und sie kam sich auf eigentümliche Weise ein wenig anders vor. Doch nicht nur ihr Äußeres veränderte sich. Es war, als ob dieses für sie nach wie vor fremde Land langsam einen anderen Menschen aus ihr machte. Einen Menschen, der sich immer mehr zurückzog und anderen vorspielte, dass es ihm gut ging. Sie konnte es kaum mehr erwarten, dass sie alle wieder zurück in ihrer alten Heimat zusammenfanden.
Leise ging sie zurück in ihr Zimmer und schlüpfte ins Bett. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie ruhig und voller Hoffnung darauf, dass alles wieder gut werden würde, einschlief.