Kapitel 25

­VALERIE

­Valerie war früh am Morgen in München gelandet. ­Zuerst hatte sie vorgehabt, ins Hotel zu gehen. Doch unterwegs im Taxi nach Prien hatte sie es sich anders überlegt. Sie wollte als Erstes zu Mia fahren und sich mit ihr aussprechen. Es war endlich an der Zeit, dass auch sie erfuhr, was damals passiert war. Auf dem Weg zu ihrer Schwester legte sie einen kleinen Zwischenstopp ein. Sie bat den Taxifahrer, bei einem Blumen- und Dekoladen anzuhalten, in dem sie einen Strauß roter Anemonen und eine Kerze kaufte.

Während sie an ­Alberts Grab die Kerze anzündete und in die Laterne stellte, unterhielt sie sich leise mit ihm.

»Ich hätte mir gewünscht, du hättest mich besucht und mir alles erzählt, statt mir Briefe zu schreiben. Und ich wünschte, du wärst nicht so stur gewesen, unbedingt deine Krankheit verschweigen zu wollen.«

Er hatte aufgehört, ihr Briefe zu schreiben, nachdem er die Diagnose erhalten hatte.

»Aber immerhin kann ich jetzt ein wenig nachvollziehen, wie es überhaupt zu dem Chaos kam. So ganz verzeihen kann ich dir das noch nicht, Paps. Echt nicht. Ich glaube, dafür brauche ich noch ein wenig Zeit. Es ist noch zu frisch, tut noch zu weh. Aber ich will versuchen, wenigstens die Scherben zu kitten, die ihr alle zerschlagen habt, ­damit Mia und ich vielleicht wieder zueinanderfinden. Und es wäre echt gut, wenn du da irgendwie dazu beitragen könntest.« Sie schaute nach oben, als ob er irgendwo dort zwischen den Wolken zuhören würde.

Mia war nicht zu Hause, wie sie schnell feststellte. Doch sie hatte ja noch den Schlüssel ihres Vaters. Allerdings war der Hund im Haus, und sie wusste nicht, wie er reagieren würde, wenn sie so einfach hereinspaziert kam. Sie überlegte kurz, zuerst zu ­Sebastian zu gehen. Doch die Garage stand offen und war leer.

Also drehte sie den Schlüssel um und trat beherzt ein. Rudi kam gleich auf sie zu.

»Hey, Rudi!«, sagte sie bemüht locker. »Du kennst mich doch noch, oder?«

Offenbar tat er das, denn er wedelte mit dem Schwanz, als ob er sich freuen würde.

»Braver Hund. Und wenn du mir nichts tust, schau ich im Kühlschrank nach, ob ich was für dich finde.«

In den Tagen, als sie hier gewesen war, hatte sie mitbekommen, was das Tier besonders gerne fraß. ­Valerie stellte ihre Taschen ab und ging in die Wohnküche. Der Kühlschrank war für die Feiertage bereits ziemlich gut gefüllt. Sie entdeckte Schinken und gab Rudi eine Scheibe, die er mit einem Happs verputzte.

»Siehst du, wir beide kommen richtig gut klar!«, sagte sie erleichtert. Trotzdem hoffte sie, dass Mia bald aufkreuzen würde.

Nachdem sie dieses Mal im Flugzeug mehrere Stunden geschlafen hatte, fühlte sie sich relativ ausgeruht. Sie wollte gerade ihren Koffer nach oben ins Zimmer bringen, da klingelte es an der Haustür.

»Rudi, du bleibst hier«, sagte sie, und schloss die Tür zur Wohnküche, als sie hinausging und die Haustür öffnete.

Sie hatte das Gefühl, die Frau in dem feschen Mantel schon einmal gesehen zu haben. Vermutlich auf der Beerdigung ihres Vaters.

»Guten Tag, ich würde gern mit Frau Garber sprechen«, sagte die Dame mit forscher Stimme.

»Tut mir leid, aber meine Schwester ist momentan unter­wegs, und ich weiß nicht, wann sie wieder zurück ist.«

»Nun, dann richten Sie Ihrer Schwester einen Gruß von mir aus. Sollte sie es wagen, während des Weihnachtskonzertes nach vorne zu treten oder gar mitzusingen, dann wird es sowohl für Herrn Amantke als auch für die Schüler weitreichende Konsequenzen haben.«

Nun war ­Valerie klar, dass es sich bei dieser Frau um die Direktorin der Schule handeln musste, diese Wurm-­Fischer, die ihrer Schwester gekündigt hatte. Obwohl sie nicht wusste, worum es hier genau ging, setzte sofort ihr Beschützerinstinkt ein.

»Weitreichende Konsequenzen? Ach ja? Wollen Sie meiner Schwester drohen? Oder wie soll ich das verstehen?«, fragte sie kühl. Sie war eine toughe Geschäftsfrau und ließ sich auch bei harten Verhandlungen nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Und von dieser Frau schon gar nicht!

»Drohen? Also bitte! Es geht darum, dass Ihre Schwester ständig meine Autorität untergräbt! Sogar jetzt noch, ­obwohl sie gar nicht mehr an der Schule tätig ist.«

»Womöglich hat das ja auch etwas mit Ihnen zu tun«, sagte ­Valerie ganz ruhig. »Vorgesetzte, die wirklich gut sind, haben keine Sorge, dass ihre Autorität untergraben werden könnte!«

»Sie sind genauso selbstgefällig wie Ihre Schwester und Ihr Vater!«, fuhr Frau Wurm-Fischer sie an, und ein Speichelfaden landete dabei auf ihrem feisten Kinn, was sie nicht bemerkte.

»Mein Vater?«, fragte ­Valerie perplex. »Was hat denn mein Vater damit zu tun?«

Die Direktorin schien zu überlegen, ob sie darauf antworten sollte. Dann sagte sie: »Bevor er Ihre Mutter kennengelernt hat, war er ein paarmal mit meiner Schwester aus. Nicht allzu oft, aber sie hatte sich längst in ihn verliebt gehabt und sich große Hoffnungen gemacht. Dann ging er für ein paar Monate auf Konzertreise. Als er zurückkam, war er verheiratet. Doch das Schlimmste für sie war, dass er noch nicht einmal geahnt hatte, was sie für ihn empfand. Vermutlich wäre es ihm aber auch egal gewesen, denn er hatte nur noch Augen für diese ­Olivia. Meine Schwester hat das nie überwunden und sich nie wieder auf einen Mann ­eingelassen.«

»Das tut mir leid für Ihre Schwester«, sagte ­Valerie aufrichtig. So etwas hatte keine Frau verdient.

»Ihr Mitleid können Sie sich sparen …«

»Es tut mir trotzdem leid. Allerdings muss man im Leben auch lernen, mit Enttäuschungen klarzukommen. Und so wie ich das verstanden habe, waren die beiden doch in keiner festen Beziehung. Trotzdem verstehe ich nicht, was das alles mit Mia zu tun hat?«

»Als ich damals an die Schule kam, habe ich sofort ­gewusst, dass sie seine Tochter sein musste. Und sie ist ­genau wie er.«

»Also deswegen haben Sie ihr die ganze Zeit das Leben so schwergemacht? Für eine Sache, für die sie gar nichts konnte? Na, Sie sind mir ja vielleicht eine verkorkste Person!«

Wurm-Fischer schnappte nach Luft.

»Jedenfalls werde ich nicht dulden, dass sie heute beim Konzert dabei sein wird!«

Damit drehte sie sich um und ging.

­Valerie sah ihr kopfschüttelnd hinterher.

In diesem Moment fuhr ­Sebastian in seine Einfahrt und stieg aus. ­Valeries Herz begann plötzlich wie wild zu schlagen, und ihre Knie wurden weich. Als er sie entdeckte, starrte er sie ungläubig an.

»­Valerie?!«

Langsam ging er auf sie zu.

»Was machst du hier?«, fragte er ernst. »Bist du hier, um das Haus zu verkaufen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich bin hier, um einiges wiedergutzumachen. Zuerst mit Mia … und dann auch mit dir.«

Er verschränkte die Arme.

»Oder vielleicht auch in umgekehrter Reihenfolge«, murmelte sie.

»Du hast ja bereits sehr deutlich gesagt, was du von mir erwartest«, sagte ­Sebastian.

­Valerie spürte kaum, wie ihr langsam kalt wurde, ohne Mantel. Gleichzeitig schienen ihre Wangen zu glühen.

»Und wenn das ein Fehler war?«, fragte sie leise.

»Das war ganz sicher ein Fehler!«, entgegnete er. Sie sahen sich in die Augen, und endlich entdeckte sie ein kleines Lächeln um seine Mundwinkel. »Aber schön, dass du das einsiehst!«

»Hör mal, ­Sebastian. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie das funktionieren soll, aber ich …«

»Aber du was?«

»Ich weiß nur, dass dich sehr vermisst habe in den letzten Tagen. Und ich mir wünsche, dich, den erwachsenen ­­Sebastian, noch viel besser kennenzulernen, und dass ich uns mit …«

Offenbar dauerte ihr Erklärungsversuch zu lange, denn ­Sebastian zog sie plötzlich an sich und unterbrach sie mit einem Kuss, den sie nach einer überraschten Sekunde leidenschaftlich erwiderte.

Er löste sich als Erster von ihr.

»Du bist ja eiskalt!«, sagte er. »Komm, wir gehen ins Haus.«

Nach einem weiteren sehr viel längeren Kuss im Flur – weiter waren sie gar nicht gekommen – sagte ­Valerie: »Ich würde gern genau damit weitermachen. Aber Mia hat ein Problem mit dieser Schuldirektorin. Und wir müssen ihr helfen.«

Sie erzählte ihm von ihrer Begegnung mit Frau Wurm-Fischer.

»Diese Frau ist ja nicht ganz dicht«, brummte ­Sebastian aufgebracht. »Und sowas wird auf Kinder losgelassen!«

»Offenbar ist die ganze Familie etwas labil«, spekulierte ­Valerie. »Aber trotzdem müssen wir etwas unternehmen. Und ich habe auch schon eine Idee. Aber dafür brauche ich ein paar Infos und Namen von dir.«

Sie weihte ihn in ihren Plan ein.

»Du bist echt großartig«, sagte er und lächelte.

Und dann führte sie einige Telefonate.

Plötzlich hörten sie, wie draußen die Haustür aufgesperrt wurde. ­Sebastian ging in den Flur und rief: »Nicht erschrecken, Mia.«

Da er für den Notfall wusste, wo der Reserveschlüssel lag, hielt sich ihre Überraschung in Grenzen.

»Was machst du denn hier? Ist was mit Rudi?«, fragte Mia besorgt.

»Nein. Mit Rudi ist alles okay.«

Als ob er das gehört hätte, kam der Hund aus dem Esszimmer und begrüßte Mia.

»Was machst du denn dann hier?«, fragte sie neugierig.

»Ich habe ihn reingelassen«, sagte ­Valerie, die hinter ­Sebastian in den Flur getreten war.

»­Valerie!«

»Wir beide müssen reden, Mia!«, sagte sie.

»Und ich werde jetzt mal verschwinden.« ­Sebastian schlüpfte in seine Jacke und verabschiedete sich. »Ich muss noch ins Tierheim.«

»Kriegt Max doch einen Welpen?«, fragte ­Valerie überrascht.

»Nein. Ein älteres Meerschweinchen-Paar, das vor Kurzem abgegeben wurde, weil die Besitzerin gestorben ist. ­Damit kann er jetzt mal zeigen, ob er Verantwortung für Haustiere übernehmen kann.«

»Gute Idee«, sagte ­Valerie und lächelte.

»Wir sehen uns später beim Konzert«, sagte er.

»Servus, ­Sebastian.«

Nun standen sich die beiden Schwestern gegenüber. ­Valerie holte ein Schreiben aus ihrer Tasche, das sie Mia in die Hand drückte.

»Was ist das?«

»Eine Verzichtserklärung für das Haus und die Musiktantiemen«, sagte ­Valerie. »Ich will dir nichts wegnehmen.«

Mia sah sie für ein paar Sekunden an, dann zerriss sie das Papier in zwei Hälften.

»Mia!«

»Ich will, dass dir die Hälfte gehört, aber ich will das Haus nicht verkaufen.«

­Valerie schluckte und nickte.

»Was war mit dir los, als du diese blöde E-Mail geschrieben hast?«, fragte Mia und schlüpfte aus ihrem Mantel.

»Da war ich ziemlich betrunken«, antwortete ­Valerie offen, weil sie ihr nichts vormachen wollte. »Du hast die Fehler bemerkt?«

»Natürlich habe ich das! Und deswegen wusste ich, dass etwas mit dir nicht stimmte.«

­Valerie lächelte.

»Hast du deswegen nicht reagiert?«

»Ich musste das erst mal sacken lassen.«

»Okay …«

Sie gingen in die Wohnküche.

»Ich habe Vaters Briefe gelesen«, sagte ­Valerie schließlich.

»Also doch?«

»Es gibt da ziemlich viel zu erklären.«

»Okay … Ich muss nur noch eine Nachricht an Daniel schreiben, dann können wir reden«, sagte Mia und setzte sich an den Tisch.

»Ich mache uns inzwischen Kaffee … Was ist denn mit dem Chor?«, fragte sie neugierig. Von Frau Wurm-Fischers Erscheinen und ihrem Plan würde sie ihr erst einmal nichts erzählen.

»Es gibt ziemlichen Ärger, aber trotzdem war es bis jetzt ein guter Tag, weil ich einen Fehler korrigieren durfte«, sagte sie und begann zu tippen.

»Ich hoffe, das kann ich auch!«, sagte ­Valerie leise, während sie den Kaffee machte.

Mias Handy klingelte.

»Hi, Daniel«, meldete sie sich. »Wo warst du denn die ganze Zeit? … beim Schwimmen? Ach so … Hast du meine Nachrichten alle abgehört? … Nein, bitte reg dich nicht auf. Es ist gut so, wie es ist. Wichtig ist, dass ihr keinen Ärger bekommt … Ja! Hauptsache der Auftritt findet statt, und ich höre euch zu … Und bitte, ich will unbedingt, dass ­Nele mitsingt … das erkläre ich dir später. Sorg einfach dafür, dass die anderen sie in Ruhe lassen … ja, ich hab es eh schon in die Gruppe geschrieben … Du, jetzt muss ich aufhören. Meine Schwester ist hier … Ja, sie ist wirklich hier. Wir sehen uns später.«

­Valerie hatte Mia während des Telefonats beobachtet. Ihre Augen hatten gestrahlt, obwohl es um ein ernstes Thema gegangen war, und sie hatte mit ihren Haaren ­gespielt.

»Du und dieser Daniel, läuft da womöglich was?«, fragte sie, als Mia aufgelegt hatte.

»Keine Ahnung«, antwortete ihre Schwester und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht?«

­Valerie reichte Mia lächelnd eine Tasse Kaffee, schenkte sich selbst ein und setzte sich dann zu ihr an den Tisch.

»Danke.«

»Also«, begann ­Valerie. »Dass du mir Paps Krankheit verschwiegen hast, nehme ich dir immer noch übel …«

»Das verstehe ich«, unterbrach Mia.

»Aber – ich danke dir von Herzen, dass du die Briefe ­gerettet und sie mir geschickt hast. Und du solltest sie ­unbedingt auch lesen.«

Und dann erzählte ­Valerie ihr alles, was sie durch die Briefe und die Konfrontation mit ihrer Mutter und der Großmutter erfahren hatte, die das ganze Drama ausgelöst hatte. Mia unterbrach sie kein einziges Mal, sie schüttelte nur immer wieder ungläubig den Kopf.

»Wie hat Paps dir denn erklärt, dass er nicht wie vereinbart nach New York geflogen ist, um uns zu holen?«, fragte ­Valerie.

»Er hat mir nur gesagt, dass Mutter ihn auf keinen Fall sehen wolle und er sich deswegen die Reise sparen könne. Und, dass er und ich jetzt fest zusammengehörten und du zu unserer Mutter. Und dass wir eine Weile lang Abstand halten müssten. Später erzählte er mir, dass Mutter einen neuen Mann habe und vermutlich wieder heiraten würde.«

»Anthony und Mutter waren noch kein Paar, als unsere Eltern sich trennten. Sie kamen erst ein Jahr später zusammen«, erklärte ­Valerie. »Großmutter hat alle angelogen.«

Die Schwestern schwiegen, beide in Gedanken versunken.

»Wie konnte deine Großmutter uns das nur antun?«, fragte Mia bitter.

»Sie ist auch deine Oma«, sagte ­Valerie.

Doch Mia schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte sie. »Mich wollte sie nie. Für sie war ich nur ein Pfand, der ihr die Tochter zurückgab und eine Enkel­tochter dazu.«

»Vermutlich hast du recht«, sagte ­Valerie traurig. Kate hatte sich offenbar wirklich nie für Mia interessiert.

»Aber weißt du, was ich nicht verstehe? Warum haben wir beide es die ganzen Jahre nicht geschafft, uns auszusprechen und zu versöhnen«, fragte Mia.

»Vermutlich, weil wir nicht wussten, was dahintersteckte, und weil wir so beeinflusst waren durch die Gefühle und Verletzungen, die unsere Eltern erlebt hatten.«

»Kann sein.«

»Mia?«

»Ja?«

»Ist es okay für dich, wenn ich eine Weile hier im Haus wohne? Zumindest so lange, bis ich weiß, wie ich diesen verzwickten Gordischen Knoten mit ­Sebastian und meiner Arbeit in New York lösen werde?«

»Es ist auch dein Haus. Du kannst bleiben, solange du möchtest«, sagte sie lächelnd.

Als ob sie es abgesprochen hätten, standen beide gleichzeitig auf und umarmten sich fest.

»Ich bin so froh, dass du wieder hier bist, ­Valerie«, flüsterte Mia.

»Das bin ich auch, Mia.«

»Und morgen feiern wir zusammen unseren Geburtstag und Weihnachten!«, sagte Mia.

»Ja«, sagte ­Valerie heiser. Das war der Moment für sie, in dem sie nach so vielen Jahren das Gefühl hatte, endlich wieder zu Hause angekommen zu sein.