Kontrolleure außer Kontrolle

Gekaufte Wächter und die Lebensmittelsicherheit

Der Soziologe Ulrich Beck wurde 1986 sehr bekannt durch sein Buch Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, der Titel selbst wurde zum Schlagwort. Heute, fast 30 Jahre später, könnte man sagen, wir leben in einer »Sicherheitsgesellschaft«. Das Leben in den westlichen Industrienationen ist rundum abgesichert, und vielleicht empfindet mancher Langeweile, weil die großen Abenteuer fehlen. Inzwischen wird schon schief angesehen, wer ohne Fahrradhelm durch die Stadt radelt, und im Auto ist nicht nur der Gurt, sondern auch der Kindersitz gesetzlich vorgeschrieben. Und wir gehen davon aus, dass auch unser Essen sicher ist. Aus Lebensmitteln dürfen keine Todesmittel werden. Darüber wachen staatliche Organisationen, überall in der westlichen Welt.

Wir fühlen uns von allen Seiten umsorgt und gehen davon aus, dass sich in einer Demokratie auch die Lebensmittelbehörden dem Wohle des Verbrauchers verpflichtet fühlen, und zwar möglichst nur diesem. Alles andere hätte ja auch gar keinen Sinn – warum sollte eine Behörde, die Lebensmittel überwacht, gefährliche Kompromisse eingehen? Das liefe ihrem Sinn und Zweck gänzlich zuwider. Es sei denn, die Verantwortlichen stünden in einem Interessenkonflikt. Weil sie auch die Belange von Herstellern berücksichtigen wollen oder müssen, die es entweder nicht so genau nehmen mit der Risikoabwehr oder die überhaupt der Ansicht sind, bei bestimmten Dingen bestehe keine Gefahr.

Und genau das ist der Fall bei vielen der staatlichen und überstaatlichen Kommissionen, die uns vor Gefahren in Lebensmitteln bewahren sollen. Sie sind nämlich durchsetzt mit Lobbyvertretern großer Agrarunternehmen und Lebensmittelkonzerne, die in Verwaltungsräten und auf Führungspositionen sitzen und beispielsweise darüber entscheiden, welche Wissenschaftler mit Gutachten beauftragt werden und was letztlich im Detail untersucht wird.

Geradezu wegweisend ist auch hier wieder einmal Monsanto. Das »Drehtür-Prinzip« funktioniert bei diesem Unternehmen hervorragend. Man nennt es so, weil die Protagonisten, wie bei einer Drehtür, von einer Position im Unternehmen zu einer anderen in der Politik oder bei einer Genehmigungsbehörde weitergeschoben werden – und umgekehrt. Zu den berühmtesten Beispielen gehören bei Monsanto der Vorstandsvorsitzende der Tochterfirma Searle, Donald Rumsfeld, der unter George W. Bush 2001 zum zweiten Mal Verteidigungsminister der USA wurde, nachdem er es bereits 1975 bis 1977 unter Gerald Ford gewesen war, und die Landwirtschaftsministerin Ann Vennemann, zuvor Chefin der Gentechnik-Firma Calgene, die ebenfalls zu Monsanto gehört. Mick Taylor, zeitweise Chef der amerikanischen Verbraucherschutzbehörde FDA, war auch Vizepräsident bei Monsanto und kehrte später zur FDA zurück, wo er dann für die Zulassung von Nahrungsmitteln verantwortlich war.

Das sind nur die gravierendsten Beispiele für Interessensverflechtungen, die für ein Großunternehmen wie Monsanto offenbar völlig normal sind. Und das Heer der Lobbyisten ist nicht nur für diesen Konzern tätig. Ihre Tätigkeit ist in der heutigen globalisierten Wirtschaft für viele Unternehmen genauso wichtig wie die Arbeit von Forschungs- und Entwicklungsabteilungen. Wer die Produktstandards setzen kann, bestimmt, was auf den Markt kommt. Kein Wunder also, dass für Lobbyarbeit sehr viel Geld ausgegeben wird.

Lobbyismus: Europa kann’s genauso gut

Aber man muss gar nicht nach Amerika gehen, um Beispiele für skandalöse Einflussnahme der Industrie auf Verbraucherschutznormen zu finden. Auch in Europa gibt es Interessenverflechtungen zuhauf. Beispiel EFSA, die »European Food Safety Authority«, die europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit mit Sitz im italienischen Parma. Sie liefert die Gutachten, auf deren Grundlage die EU-Kommission entscheidet, welche Lebensmittel in den Handel gelangen, aber auch, welche Tiere gezüchtet und welche Pflanzen angebaut werden dürfen. Die EFSA kann bestimmen, welche Getreidesorten auf den Markt kommen und welche Zusatzstoffe in Nahrungsmitteln erlaubt sind. Sie ist so etwas wie die oberste Wächterin über die europäische Lebensmittelindustrie. In den vergangenen Jahren hatte die EFSA zwangsläufig besonders häufig mit genveränderten Pflanzen zu tun: Monsanto drängt seit geraumer Zeit mit aller Macht auf den europäischen Markt. Bislang ist das kaum gelungen, weil sich in Europa, anders als in den USA, noch keine politische Mehrheit für den Einsatz von gentechnisch veränderten Anbaupflanzen findet.

Die EFSA hat die Diskussion mit ihren Gutachten begleitet – und die sind bislang alle positiv ausgefallen. Man kann daraus natürlich den Schluss ziehen, dass gentechnisch veränderte Pflanzen gänzlich ungefährlich sind. Man kann sich aber auch die Frage stellen, ob vielleicht nicht doch ein paar multinationale Konzerne ein großes Interesse daran haben, dass diese Gutachten positiv ausfallen. Und dann kann man sich fragen, wie unabhängig eigentlich die Menschen sind, die diese Gutachten in Auftrag geben.

Die EFSA muss sich jedenfalls seit Langem immer wieder gegen den Vorwurf wehren, sie urteile allzu industriefreundlich und sei von Lobbyisten unterwandert. In diesem Zusammenhang taucht immer wieder der Name ILSI auf – die Kurzbezeichnung für das International Life Sciences Institute. Diese Einrichtung wird praktisch zur Gänze von der Lebensmittelindustrie getragen – von Konzernen wie McDonald’s, Coca-Cola, Danone, Kellogg, Nestlé, Unilever und von großen Agrarunternehmen wie Monsanto, Bayer und BASF. Als Lobbyorganisation vertritt sie offensiv die Interessen ihrer Geldgeber. Nicht eben wenige Mitglieder überstaatlicher und staatlicher Kommissionen zum Schutz der Lebensmittelsicherheit stehen in enger Verbindung zu diesen Lobbyisten. So musste beispielsweise im Mai 2012 die Vorsitzende des EFSA-Verwaltungsausschusses, Diana Banati, ihren Posten räumen. Als Grund nannte die EFSA, dass Banati auch eine Führungsposition beim ILSI innegehabt habe und nun die Präsidentschaft des ILSI Europa übernehmen wolle. Dies könne zu Zweifeln an ihrer Unabhängigkeit führen. Selbst bei der EFSA, möchte man hinzufügen.

So ganz freiwillig hat die EFSA allerdings nicht Konsequenz gezeigt. Zuvor hatte ihr das EU-Parlament schon einmal die Entlastung für ihren Haushalt versagt: weil sie nach Ansicht des Parlaments nicht unabhängig genug gehandelt hatte. Es war also an der Zeit, ein Zeichen zu setzen. Nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt wechselte Banati übrigens gleich ganz zum ILSI.

Ein Schlüsselorgan ist der EFSA-Verwaltungsausschuss. Er genehmigt das jährliche Arbeitsprogramm und entscheidet darüber, welche Wissenschaftler in die Expertengremien berufen werden und welche Wissenschaftler Gutachten über die Risiken neuer Produkte erstellen. Zudem stellt er Regeln zur Verhinderung von Interessenkonflikten und zur Wahrung der Unabhängigkeit der Behörde auf.

Letzteres offenbar recht unzureichend: So wies die Europäische Kommission ihre eigene Lebensmittelbehörde im Jahr 2008 an, ihr Statut, was Interessenkonflikte angeht, zu verschärfen. Damals wechselte die Chefin der EFSA-Gentechnik-Abteilung, Suzy Reckens, zu Syngenta – bekanntlich einer der großen Konkurrenten von Monsanto auf dem Saatgut- und Biotechnologie-Markt. Gebracht hat das anscheinend nicht sehr viel, denn ihr Nachfolger, Harry Kuiper, stand bereits bei seiner Amtsübernahme in enger Beziehung zur Industrie: Auch er kommt aus dem ILSI-Dunstkreis. Und im Juni 2012 wurde erneut eine umstrittene Personalie bekannt. Die Irin Mella Frewen sollte in den Vorstand der Behörde gewählt werden, sie stand auf einer Liste mit 14 Personalvorschlägen für sieben Spitzenposten in der EFSA, aus welcher der Europäische Rat auszuwählen hat. Die Frau hat tatsächlich einschlägige Erfahrung in der Nahrungsmittelindustrie: Bis zum Jahr 2007 hatte sie fünf Jahre lang für Monsanto gearbeitet und war dort für Lobbyarbeit zuständig gewesen. Im Jargon des Unternehmens hieß das: »Pflege der Beziehungen zu den Regierungen in Europa«. Frewen war offenbar recht erfolgreich damit, denn 2006 erhielt Monsanto die Genehmigung für den Anbau der gentechnisch veränderten Maissorte MON810. Das Monsanto-Produkt ist die einzige Genmais-Sorte, die in Europa überhaupt angebaut werden darf – mit dem Segen der EFSA, die das Saatgut zuvor als »gesundheitlich unbedenklich« eingestuft hatte. Nach ihrer Tätigkeit bei Monsanto leitete Mella Frewen den Industrieverband FoodDrinkEurope. Sie hatte sich also immer schon dafür eingesetzt, dass die Kontamination von Lebensmitteln mit genmanipulierten Pflanzen in der EU toleriert wird.

Für die EFSA ist das alles kein Problem. Nach Protesten erklärte ein Sprecher der Behörde, Frewen sei lange genug nicht mehr bei Monsanto beschäftigt, und obendrein sähen die Statuten der EFSA vor, dass vier Vorstandsmitglieder aus der Lebensmittelindustrie kommen.36 Die Anti-Lobbyismus-Organisation Corporate Europe Observatory (CEO) hält das für eine sehr gewagte Auslegung der Statuten. In denen heiße es lediglich, dass vier Mitglieder des Vorstands einen »Hintergrund in Konsumentenorganisationen oder anderen Bereichen mit einem Interesse an der Nahrungskette« haben sollen. Das, so CEO-Sprecherin Nina Holland, könnten schließlich auch Landwirte oder Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen sein.

Die Industrielobby ist auch in Deutschland aktiv

Immerhin werden diese Machenschaften gelegentlich dann doch bekannt. Aber nur, weil beispielsweise einzelne Abgeordnete es einmal genauer wissen wollen und mehr oder minder zufällig auf skandalöse Hintergründe stoßen, die ihnen eigentlich verheimlicht werden sollten. Oder weil kleine, idealistische Organisationen in den einzelnen Ländern der EU ein Auge darauf haben, wer wo mitmischt und seine Finger im Spiel hat, wenn es um die Sicherheit unserer Nahrungsmittel geht.

Einer, der solche Mauscheleien immer wieder an die Öffentlichkeit bringt, ist der Biotechnologie-Experte Christoph Then. Der gelernte Tierarzt hat zehn Jahre lang für Greenpeace gearbeitet und sich inzwischen mit einem Kollegen in dem kleinen Münchner Verein Testbiotech selbstständig gemacht. Die beiden beschäftigen sich mit den Risiken der Gentechnologie, der Risikoabschätzung und in wachsendem Maße auch mit dem Einfluss, den die Industrie auf Gremien und Expertengruppen ausübt und damit auf Wissenschaft und Forschung. Denn Letztere finanzieren sich in erheblichem Maße aus Drittmitteln, und die kommen nun mal in aller Regel von Großunternehmen. »In der Biotechnologie ist das praktisch der Normalfall«, sagt Then, »der Staat fördert da nur in ganz kleinem Umfang.«

Entsprechend sind die Verhältnisse in den Aufsichtsgremien, und zwar nicht nur in der EFSA, sondern auch in vielen nationalen Behörden. Christoph Then machte zum Beispiel öffentlich, dass die Kommission für genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel im Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) mit zahlreichen Experten besetzt ist, die alle der Industrie sehr nahestehen, häufig als Gutachter für Konzerne wie Monsanto, Bayer oder Hoechst arbeiten oder aber gleich direkt in industrienahen Organisationen tätig sind und diese Interessenkonflikte nicht deutlich machen, obwohl sie eigentlich dazu verpflichtet sind. Gleich 17 Namen listeten Then und seine Mitstreiter von der Vereinigung LobbyControl auf. Da kann man wohl nicht mehr von bedauernswerten Einzelfällen sprechen.

Eigentlich hätten alle ihre möglichen Interessenkonflikte selbst benennen müssen, in einem Fragebogen, den das BfR auch auf seiner Internetseite veröffentlicht. Aber da ist offenbar manches durch das Raster gefallen. Ausgerechnet die Vorsitzende der Kommission, Inge Broer, hat dort zum Beispiel nicht vermerkt, dass sie an der Anmeldung von Bayer-Patenten auf Herbizid-tolerante, gentechnisch veränderte Pflanzen mitgewirkt hat und dass sie Gesellschaftervorsitzende der Firma Biovativ GmbH sowie Gesellschafterin der BioOK GmbH ist. Beide Unternehmen arbeiten als Dienstleister unter anderem für Monsanto. Daneben ist sie in einer Reihe von Lobbyvereinen an führender Stelle tätig und an Freisetzungsversuchen mit gentechnisch veränderten Pflanzen beteiligt. Mit den Vorwürfen konfrontiert, meinte Inge Broer zu Spiegel Online: »Diese Informationen stehen auf der Website und waren allen Beteiligten bekannt.«37 Und weiter: »Wenn ich die Expertise, von der behauptet wird, ich hätte sie verschwiegen, nicht hätte, wäre ich nicht qualifiziert, das BfR zu beraten.« Im Übrigen könne sie in der Kommission sowieso nichts entscheiden oder beeinflussen, was ihre Arbeit an Herbizid-resistenten Pflanzen verbessere oder erleichtere. Erstaunliche Aussagen, sicher ganz ernst gemeint, die vor allem eines aufzeigen: Es gibt offenbar kaum noch eine unabhängige Wissenschaft und Forschung, die sich mit dieser Thematik befasst und die nicht von der Industrie bezahlt und damit auch gesteuert wird.

Broers Vorgänger im Vorsitz, Gerhard Eisenbrand, sitzt ebenfalls noch in der Kommission, jetzt als einfaches Mitglied. Auch er hat gute Verbindungen zur Industrie, ist zum Beispiel ehrenamtlicher Präsident von ILSI Europa sowie Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats und Mitglied im Verwaltungsrat dieser Organisation. Außerdem übt er Funktionen im Institute for Scientific Information On Coffee und in verschiedenen Gremien aus, die zu Konzernen wie Kellogg und Danone gehören. Eisenbrand ist darüber hinaus auch noch für zahlreiche andere öffentliche Kommissionen tätig, etwa als Leiter der Senatskommission zur gesundheitlichen Bewertung von Lebensmitteln in der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Verflechtungen mit der freien Wirtschaft, die zumindest nachdenklich machen, lassen sich bei vielen der Kommissionsmitglieder feststellen. Christoph Then spricht vom »Versuch einer systematischen Einflussnahme auf staatliche Institutionen und die öffentliche Meinung« und liegt damit sicher nicht falsch. »Im Ergebnis kann man in Deutschland nicht auf die Unabhängigkeit der Behörden vertrauen, wenn es um die Risikobewertung gentechnisch veränderter Pflanzen geht.«38