Billige Arbeit im Lager

Das Warenhaus neuer Art und seine uralten Methoden

Für Bewohner der westlichen Hemisphäre klingen solche Berichte wie Geschichten aus der Frühzeit des Manchester-Kapitalismus. Wir schütteln den Kopf und halten derartige Zustände kaum für möglich. Dass bei Ramschware auch die Arbeitskraft nicht mehr als ein Billig-Produkt sein kann, können wir vielleicht noch nachvollziehen. Aber bei hochwertigen technischen Geräten fällt uns das schon schwerer.

Tatsächlich muss man aber gar nicht in den Fernen Osten oder in irgendwelche Schwellenländer gehen, um auf versteckte Billig-Arbeit zu stoßen. Man kann zum Beispiel ein großes Internetkaufhaus mit sehr realen Logistikzentren nehmen. Ein Kaufhaus, das seine Beschäftigten allerdings nicht so genau kennt.

Sie heißen »Picker«, »Packer« und »Cart-Runner«, das umschreibt ihre Aufgaben: Sie holen die Waren aus den Regalen, sie verpacken sie, und sie fahren die Waren mit dem Gabelstapler durch die riesigen Lagerhallen dorthin, wo sie gebraucht werden. Jeder Picker hat einen Scanner bei sich, mit dem er die Waren scannen soll. Das Gerät misst aber zugleich auch seine Schrittweite, seine Bewegungen, es registriert, wenn der Picker stehen bleibt, und natürlich registriert es die Stückzahlen, die der Picker bewältigt. Der Picker sollte viel in Bewegung bleiben, bis zu 25 Kilometer am Tag, denn steht er, so wird das dem »Leader«, seinem Vorgesetzten, auf dem Bildschirm gemeldet. Ist er schlechter oder langsamer als die anderen, so wird er darauf angesprochen.

Auch der »Packer« hat es nicht leicht. Für ihn gibt es klare Vorgaben. Ist er für Päckchen und Pakete mit nur einem Warenstück zuständig, sogenannte Single-Packs, dann muss er pro Stunde 200 Päckchen schaffen. Handelt es sich um Multi-Packs, Pakete mit mehreren Waren, so lautet die Vorgabe: 100 Stück in der Stunde. Zu 100 Prozent ist diese Vorgabe praktisch nicht zu schaffen. Alle Packer bekommen am nächsten Morgen mitgeteilt, wie viel Prozent sie am Vortag geschafft haben.

Der Cart-Runner fährt mit dem Gabelstapler die Waren durch die Hallen, auf streng vorgegebenen Wegen, die nur für ihn vorgesehen sind. Auch er unterliegt einem Bewertungssystem mit gelben und grünen Karten. Die grüne gibt es für Lob, die gelbe bedeutet Tadel. Wer drei gelbe Karten hat, wird gekündigt. Grüne Karten, heißt es, seien sehr selten.

Die Presseabteilung des Unternehmens sagt: »Wir arbeiten in unseren Logistikzentren mit hochtechnischen Systemen und Prozessen, mithilfe derer wir die Sicherheit und Qualität des Arbeitsumfelds gewährleisten.«70

Was die Qualität des Arbeitsumfelds angeht, scheint die Technik allerdings nicht ganz ausgereift zu sein. Pickerinnen sprechen von Dienstplänen, die bis zu 20 Tage Nachtschicht am Stück vorsahen oder 16 Tage Spätschicht ohne Unterbrechung – mit dem deutschen Arbeitsrecht ist das nicht vereinbar. Effizienz steht ganz oben auf der Liste, und auch sonst wird nichts dem Zufall überlassen, unnötige Kosten dürfen nicht entstehen oder müssen ersetzt werden. So gibt es für die Beschäftigten eigene durchsichtige Plastik-Trinkflaschen, weil eigene Getränke nicht mitgebracht werden dürfen. Für die Trinkflasche der Firma muss man einen Euro zahlen. Eine Führungskraft, die den ständigen Leistungsdruck nicht mehr aushielt und von sich aus kündigte, berichtete, sie habe 25 Euro Bearbeitungsgebühr für die Ausstellung der Kündigung zahlen müssen.

Und doch ist das alles noch harmlos, vergleicht man es mit der Lage der Saisonarbeiter, die aus dem Ausland angeworben werden, wenn Spitzenzeiten bei den Bestellungen das erfordern. Bis zu 5 000 Aushilfen werden da benötigt, nur für ein paar Wochen und Monate. Sie kommen aus Polen, Ungarn, Spanien und Rumänien, aus ganz Europa. Untergebracht sind sie in Ferienwohnanlagen und Unterkunftsheimen, meist in beengten Verhältnissen. Überfüllte Busse, die nur einmal pro Schicht fahren, bringen sie in die Lagerhallen. Ist der Bus verspätet, bekommen die Arbeiter das Geld minutengenau vom Stundenlohn, der 8,52 Euro beträgt, abgezogen.

Für die Wohnanlagen und Unterkunftsheime ist ein eigener Sicherheitsdienst zuständig, der jederzeit Zutritt zu den Ferienwohnungen hat und auch Taschen durchsuchen darf. Die Arbeiter fühlen sich von den Security-Leuten oft eher bedroht als bewacht. Zugleich ist unsicher, wie lange sie Arbeit haben. Bisweilen erfährt man am Ende einer Schicht, dass man am nächsten Tag nicht mehr zu kommen braucht. Dann muss die Unterkunft binnen 24 Stunden geräumt sein.

So viel zur Wertschätzung von Arbeitskraft in einem großen Auslieferungslager im Jahr 2013. Da bekommt der Begriff »Lagerarbeiter doch plötzlich eine ganz neue Bedeutung!

Die beschriebenen Zustände findet man aber nicht in China, Indien oder einem anderen fernen Land. Es sind Schilderungen aus drei verschiedenen Logistikzentren des Versandhändlers Amazon, in denen jeweils Tausende von Menschen arbeiten. Acht solcher Logistikzentren unterhält der amerikanische Internetkonzern in Deutschland. Mit dem Begriff »billig« würde man ihn auf den ersten Blick nicht verbinden, eher mit »bequem«, denn er liefert die bestellten Waren ja direkt an die Haustür.

Doch die Bequemlichkeit und der Erfolg wären ohne die Gier nach billiger Arbeit gar nicht möglich. Amazon ist das beste Beispiel dafür. Der Handelskonzern verdient längst mit allen möglichen Waren sein Geld und deckt ganz allein ein Viertel des deutschen Onlinehandels ab. Weltweit machte der Konzern im Jahr 2012 einen Umsatz von 46,3 Milliarden Euro.

Die meisten Menschen denken allerdings, wenn sie den Namen Amazon hören, noch immer zuerst an Bücher. Und dann vielleicht daran, dass hier das Billig-Prinzip – zumindest in Deutschland mit seiner Buchpreisbindung – gar nicht greifen kann, man also beim Onlinebuchkauf keinem Dumpinghändler auf den Leim geht.

Leiharbeiter und »betriebliche Trainingsmaßnahmen«

Die Wirklichkeit ist anders. Weil Amazon nämlich ebenso wie die großen Buchkaufhäuser zum Sterben kleiner Buchhandlungen beiträgt. Wobei die Motive für den Wechsel zum Internetkaufhaus oft völlig irrational sind. So hört man in Großstädten immer wieder von kleinen Stadtteilbuchhandlungen, die Pakete von Amazon annehmen sollen, weil die Bewohner des Hauses, in dem die Buchhandlung sich befindet, vom Postboten nicht angetroffen würden. Dabei hätte die kleine Buchhandlung das gewünschte Buch ebenso schnell, sprich: von einem Tag auf den anderen, besorgen können.

Nun mag der Trend zum Onlineshopping für den kleinen Einzelhändler bedauerlich, ja sogar existenzvernichtend sein: Ein Skandal ist er nicht. Der entsteht erst dann, wenn die Arbeit, die dahintersteckt, zu schlecht bezahlt wird, sprich: wenn Ausbeutung im Spiel ist. Und tatsächlich muss man auch bei Amazon nicht sehr weit gehen, um Beispiele dafür zu finden.

Anfang 2013 war es eine Fernsehreportage, die für Aufsehen sorgte. Die ARD-Autoren Diana Löbl und Peter Onneken hatten sich in ihrem Film »Ausgeliefert! Leiharbeiter bei Amazon« in Bad Hersfeld eines von acht deutschen Logistikzentren samt Auslieferungslager genauer angesehen und waren auf katastrophale Arbeitsbedingungen gestoßen. Sie fanden unter anderem Leiharbeiter aus Spanien, Schweden, Ungarn und Polen, die beinahe zwei Wochen am Stück durcharbeiteten. Eigentlich verbietet das deutsche Arbeitsschutzgesetz so etwas, aber die Hilfsarbeiter aus dem Ausland wussten das entweder nicht oder brauchten schlicht das Geld. Obendrein waren sie unter skandalösen Bedingungen untergebracht – in Ferienwohnanlagen, zu sechst in kleinen Bungalows auf 80 Quadratmetern, mehr überwacht als bewacht von einem obskuren Sicherheitsdienst in schwarzer Dienstkleidung, der offenbar der rechten Szene nahestand.

Da war selbst der Deutschland-Chef von Amazon beeindruckt: »Die Fernsehbilder, die wir gesehen haben, machen mich betroffen«, sagte er zur Süddeutschen Zeitung. Dabei dürften sie ihn nicht gar so sehr überrascht haben, denn auch Amazon arbeitet selbstverständlich nach dem »System Billig«. Eine unbefristete Stelle hat nach Aussage der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di in dem Logistikzentrum Bad Hersfeld nur etwa ein Drittel der Beschäftigten. Kurzfristig angesetzte Überstunden seien normal, ebenso verfahre man bei Wochenendschichten.

Die meisten Lagerarbeiter fügen sich, um den unsicheren Job nicht zu verlieren. Der obendrein auch noch schlechter bezahlt ist als üblich. In einem Blog, den ver.di für Amazon-Mitarbeiter eingerichtet hat, heißt es zum Beispiel: »Während nach Tarif für den Großteil der Lagerarbeiten im Versandhandel zwischen 11,47 Euro und 11,94 Euro Einstiegsgehalt gezahlt wird, schickt Amazon seine Mitarbeiter mit einem Gehalt von 9,65 Euro bis 11,12 Euro nach Hause.«71

Muss man noch erwähnen, dass Amazon den Tarifvertrag für den Einzelhandel selbstverständlich nicht anwendet? Im Sommer 2013 kam es deshalb zu Streiks in mehreren Logistikzentren, aber die Konzernleitung schaltete auf stur und gab kein Signal des Einlenkens.

Warum auch? Ohne Tarifvertrag sind die Gewinne nun mal höher. Es geht übrigens sogar noch billiger, und das auch noch ganz legal. So dürfen Arbeitslose nämlich ein bis zwei Wochen zur Probe beschäftigt werden – gerade in der Weihnachtszeit werden diese billigen Aushilfskräfte gerne genutzt. Man nennt das dann MAG-Programm, die Abkürzung steht für »Maßnahmen bei einem Arbeitgeber«, und das Ganze schimpft sich »betriebliche Trainingsmaßnahme«. Derweil zahlt der Staat das Arbeitslosengeld weiter, sodass dem Unternehmen praktisch keine Kosten entstehen. Amazon wird vorgeworfen, diese Menschen als Gratisarbeiter in der Hochsaison zu missbrauchen und sie nach ein, zwei Wochen einfach wieder auf die Straße zu setzen. Eine »üble Subvention auf Steuerzahlerkosten« nennt das die Gewerkschaft.

Amazon widerspricht natürlich, wenn sich das Unternehmen überhaupt äußert, denn Schweigen ist eine der hervorstechendsten Eigenschaften dieses Konzerns. Bestenfalls verweist man darauf, dass man seit 2001 in acht Logistikzentren immerhin 9 000 feste Stellen geschaffen habe. Was genau darunter zu verstehen ist, weiß aber vielleicht nicht einmal Amazon selbst so genau. So wollte die Süddeutsche Zeitung zum Beispiel im März 2013 von der Pressestelle des Unternehmens wissen, wie viele der 1 000 festen Stellen im Logistikzentrum Graben bei Augsburg befristete Arbeitsplätze seien. Eine Antwort blieb trotz mehrmaliger Nachfragen aus. Je nach Saison, so heißt es, arbeiteten in Graben zwischen 2 500 und 5 000 Mitarbeiter: sehr viele Hilfskräfte also, die nur kurzfristig angeheuert werden. Die Gewerkschaft ver.di geht davon aus, dass fast 80 Prozent aller Beschäftigten nur befristet arbeiten.

Angesichts all dessen fragt man sich, ob es Staat und Regierung dem Weltkonzern nicht doch ein bisschen zu leicht machen, das Geldverdienen mit billigen Arbeitskräften. Sei es auf dem Wege des deregulierten Arbeitsmarktes, wie es verklausuliert heißt, oder auch ganz einfach mithilfe staatlicher Subventionen. Denn wie im März 2013 bekannt wurde, haben der deutsche Staat und zwei Bundesländer Amazon im Rahmen des Förderprogramms »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur« kräftig unterstützt. Sieben Millionen Euro zahlte der BUND an die Amerikaner, um die Schaffung von Arbeitsplätzen in der Region Leipzig zu fördern, noch einmal die gleiche Summe dürfte vom Land Sachsen gekommen sein, so genau lässt sich das nicht eruieren. Es handelt sich zwar um Steuergeld, aber das sächsische Wirtschaftsministerium beruft sich auf das Betriebsgeheimnis. Über die 670 000 Euro, die Amazon 2006 für den Umbau des Logistikzentrums in Bad Hersfeld vom Land Hessen bekommen hat, weiß man ebenfalls nichts Genaues. Es war immerhin fast ein Fünftel der gesamten Bausumme. Dafür entstanden 244 Arbeitsplätze.

Am Ende der Nahrungskette: Die Paket-Ausfahrer

Das ganze System der Billig-Arbeit hat freilich auch sehr direkte Auswirkungen auf die nächsten Glieder der Kette, die schließlich beim Paketboten endet. Amazon zahlt dem Unternehmen, das die Lieferung zustellt, sobald sie das Logistikzentrum verlassen hat, stets den gleichen Preis. Anfang 2013 waren das 1,80 Euro pro Lieferung, und zwar ganz egal, ob es sich um ein kleines Päckchen oder eine Waschmaschine handelte. Aufgrund seines hohen Marktanteils am deutschen Onlinehandel kann Amazon es sich leisten, den Zustellern die Bedingungen zu diktieren. Die verschiedenen Unternehmen vergeben ihre Aufträge wiederum an diverse Subunternehmer, die manchmal eine ganz neue Kette bilden. Und am Ende steht der einfache Zusteller, der 50 Cent pro Päckchen bekommt. Aber nur dann, wenn er es auch wirklich zustellen konnte. Ist der Empfänger nicht zu Hause, kommt das Päckchen zurück ins Depot, und der Zusteller bekommt nichts. Aber selbst bei diesen Hungerlöhnen verdient der einzelne Subunternehmer, der den Zusteller beschäftigt, nicht allzu viel, denn er muss ja noch Sozialabgaben, Lieferwagen, Steuern und Depotmiete zahlen. Ein ehemaliger Subunternehmer, der für die Logistikfirma Hermes arbeitete, sagt: »Wer mit den Amazon-Preisen Geld verdienen will, muss auf Azubis oder Schwarzarbeit setzen.«72