Ein Weinberg voller Freunde
Gegenwart
E s war ein malerischer Vormittag Ende September. Die Sonne begann gerade Kraft aufzunehmen und schob sich langsam über die Weinberge im Rheintal. Dabei glänzte das Wasser des Rheins wie ein Diamantenfeld, und die angestrahlten Reben warteten darauf, dass von ihnen die reifen Trauben geerntet werden. Genau zu diesem Zweck kraxelten die Winzer mit ihren Helfern durch die Zeilen und waren eifrig bei der Lese.
Aus einem dieser Weinberge hallte es voller Inbrunst: »Verdammt noch mal, wie konnte ich mich darauf nur einlassen?« Mit diesen Worten ließ sich ein Mann zwischen die Rebzeilen plumpsen. Schweißgetränkt und resignierend warf er seine Schere weg, mit der er bereits den ganzen Morgen die reifen Trauben von den Reben trennte. Nach Luft ringend wischte er sich den Schweiß von der Stirn und blieb auf dem Rücken liegen. Vom Fuß des Weinbergs erreichte ihn verhöhnendes Gelächter von zwei Männern, die sich bequem an einen Traktor lehnten. Es waren das Lorcher Urgestein Willi Laggei und der Pathologe Dr. Berger. Die beiden amüsierten sich königlich über die Resignation von Kommissar Max Kießling, der immer noch im Weinberg nach Luft rang. Jeder von ihnen hielt einen Weinrömer, gefüllt mit bestem Lorcher Riesling in der Hand.
Willi rief zu Kießling: »Ei, was is’ los, Bub? Als Polizist müsstest du doch fit wie en Turnschuh sein?«
Dr. Berger ergänzte: »Ach Willi, das war mal. Heute ist ihm sein Wohlstandsbauch im Weg.« Dabei lachten beide lauthals und ließen die Weinrömer zum Prosit erklingen.
Von weiter oben aus dem Weinberg beobachtete ein verliebtes Pärchen ebenfalls das muntere Treiben und konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Es waren Kießlings Assistentin bei der Kriminalpolizei, Ella Nilsson, und ihr Freund, der Winzer Arnold Jäger. Alle zusammen ergaben das Quintett, das sich in der Vergangenheit als schlagkräftige Truppe gefunden hatte, um so manchem Bösewicht im Rheingau das Handwerk zu legen. Ihre Abenteuer und die ein oder andere lebensgefährliche Situation hatte die Gruppe zusammengeschweißt und eine wahre Freundschaft unter den Fünfen entstehen lassen. So sind sie auch an diesem Tag zu einer herausfordernden Aufgabe zusammengekommen: der Traubenlese in einem von Arnolds Weinbergen. Der junge Winzer hatte ursprünglich nicht vorgehabt, seine Freunde für diese oftmals anstrengende Arbeit einzuspannen, doch Kießling hatte wieder mal mit einem großen Mundwerk geglänzt und in einer lockeren Weinrunde herum posaunt, dass er einen Weinberg allein lesen könnte. Der Kommissar hatte dabei ganz vergessen, dass er bereits in Kindheitstagen an seine Grenzen gestoßen war, wenn er sich in der Traubenlesesaison ein paar Mark zum Taschengeld dazuverdient hatte. Seine Kondition im Weinberg hatte sich seit den früheren Tagen nicht wirklich verbessert.
Ella und Arnold stapften die Zeilen zu dem am Boden kauernden Kriminalkommissar hinunter. Über beide Gesichter zeichnete sich ein breites Grinsen. Das Paar war offensichtlich in besserer körperlicher Verfassung als Kießling. Außer der durch die Arbeit beanspruchten Kleidung ließ nichts darauf schließen, dass sie sich bereits seit Stunden im Weinberg befanden und die steilen Hänge rauf und runter kraxelten. Arnold trug zudem die große und schwere Butt auf dem Rücken, in welche die abgeschnittenen Trauben geschüttet wurden, sobald die Eimer der Traubenleser voll waren. Wenn diese bis zum Rand gefüllt war, entleerte sie Arnold in den Anhänger, der am Fuß des Weinbergs parkte.
Angekommen bei Kießling fragte Ella spöttisch: »Na, was ist los, heute nichts gefrühstückt?«
Nach ein paar erholsamen Atemzügen entgegnete der Kommissar: »Du hast leicht reden mit deinen fünfzig Kilo auf den Rippen. Ich muss fast das Doppelte mit mir rumschleppen.«
Ella lachte laut. »Was soll denn Arnold sagen? Der schleppt noch die schwere Butt mit sich rum und lässt sich nichts anmerken.«
Der Winzer lächelte dezent und schwieg zu der Aussage. Er genoss das Lob aus dem Mund seiner Liebsten.
Kießling raunte: »Jetzt hör aber auf. Arnold hat auch einige Jahre weniger auf dem Buckel. In seinem Alter hätte ich den Weinberg im Laufschritt abgelesen.«
»Das mag ich zu bezweifeln«, hallte es von ein paar Meter weiter unten. Dr. Berger konnte es sich nicht entgehen lassen, diese Szene ebenfalls zu kommentieren.
Kießling blickte nach unten und zischte: »Sie sind mal ganz still da unten. Während wir uns hier abquälen, habt ihr beide bereits die zweite Flasche Wein aufgezogen.«
»Aber mein lieber Kommissar, Sie wissen doch, ich habe es im Rücken und Willi braucht in seinen Rentnertagen nicht mehr durch die Zeilen klettern.«
»So isses«, ergänzte Willi und fuhr grinsend fort: »Ich bin über fünfzig Jahr’ durch die Hänge geklettert und hab’ mehr Woi’ gemacht, als du im Lebe’ saufe kannst. Jetzt könnt’ ihr junge Leut’ die Arbeit tun und mir schön de’ Keller vollmache’!«
Dabei hob er seinen Weinrömer und stieß inbrünstig mit Dr. Berger an. Arnold indes ging in die Knie und zog den schwächelnden Kommissar, trotz der schweren Butt auf seinem Rücken, auf die Beine.
»Auf geht’s, mein Bester. Ist ja fast geschafft. Noch zwei Zeilen und wir sind fertig für heute. Falls du nicht mehr kannst, Ella und ich …«
Kießling unterbrach Arnold sofort. Ihm war klar, auf was sein Winzerfreund hinauswollte. Er könnte sich zu den Zuschauern begeben, während Arnold und Ella die restliche Arbeit schafften. Dieser Schmach wollte er sich nicht aussetzen. Ihm war klar, welche Häme er von seinem lieben Pathologenfreund Dr. Berger über sich ergehen lassen müsste. Dieser grinste bereits bis über beide Ohren, hoffte, dass der Kommissar die Flinte ins Korn werfen würde und er die Situation voll auskosten konnte. Diesen Gefallen tat Kießling dem Gerichtsmediziner nicht. Voller Tatendrang schnappte er sich Schere und Eimer und stürzte sich auf die verbleibenden Weinbergszeilen.
Arnold grinste und sagte mit einem Wink auf Dr. Berger zu Ella: »Siehst du? Einmal an der Ehre gepackt und prompt wieder voll motiviert.«
Diese entgegnete: »Das war mir klar. Bevor Max Dr. Berger einen Grund gibt, ihn auf ewig aufzuziehen, würde er sich eher die Beine abhacken.«
Mit guter Miene machten sich die beiden ebenfalls wieder ans Werk und schnitten mit dem frisch motivierten Kommissar die letzten Trauben aus dem Weinberg ab.
Nach verrichteter Arbeit versammelten sie sich am Traktor. Willi hatte einen Klapptisch aufgestellt und mit frisch gebackenen Laugenbrezeln und selbst gemachtem Spundekäs zünftig aufgetragen. Dazu fischte er aus der Kühlbox eine Flasche Riesling, zog den Korken und schenkte für alle ein.
Kießling rief ihm in sarkastischem Ton zu: »Nicht für den Doktor, der hat nichts geschafft!«
Willi schenkte derweil weiter die Gläser voll und antwortete: »Ach, jetzt sei doch nit so. Unser Leichedoktor hat mit mir fleißig moralische Unterstützung geleistet.«
Der Pathologe stimmte mit ein: »So ist es, mein lieber Kommissar. Hätte ich Sie nicht derart motiviert, wären Sie wohl morgen noch im Weinberg. So wie Sie gekeucht haben, dachte ich bereits, am Ende des Tages landen Sie auf meinem Tisch in der Pathologie.«
»Sehr witzig«, kommentierte Kießling Dr. Bergers Sarkasmus. Letztendlich wussten beide um den Spaß. Die Art und Weise, sich gegenseitig aufzuziehen, hatte fast schon Tradition bei den beiden und sie ließen wahrlich keine Gelegenheit aus. Nachdem jeder eine Brezel in der Hand hatte und mit einem Glas Riesling ausgestattet war, war alle Pein vergessen und sie genossen den verdienten Lohn nach getaner Arbeit.
Satt gegessen und wieder entspannt sagte Kießling in die Runde: »So kann man es aushalten. Heute bringt mich nichts mehr aus der Ruhe!«
Ella nickte und verzog die Lippen. »Sag das nicht zu laut, sonst …« Noch bevor sie den Satz beenden konnte, rappelte das Mobiltelefon des Kommissars. Fast schockiert zog er es aus der Hosentasche und blickte auf das Display. Seine Gesichtsmuskeln zogen sich zusammen und er erweckte den Anschein, als hätte ihn jemand unsanft aus einem schönen Traum gerissen.
Dr. Berger säuselte: »Ich ahne nichts Gutes.«
Arnold stimmte mit ein: »Ich befürchte auch ein Ende der Gemütlichkeit.«
Kießling blickte noch mal in die Runde und nahm daraufhin das Gespräch an. Entnervt zischte er ins Telefon: »Was ist los?«
Während am anderen Ende der Leitung ein Beamter Kießling berichtete, bemühten sich die Übrigen gebannt, einen Laut zu erhaschen. Sie konnten nichts verstehen, mussten aber mit ansehen, wie sich die Miene des Kommissars mit jeder Sekunde verdunkelte. Nach einigen Minuten des Zuhörens und Schweigens beendete Kießling kurz angebunden das Gespräch. Er senkte das Telefon und grübelte einen Moment in Stille.
Ella fragte: »Was ist los?«
Der Kommissar blickte seine Assistentin an und antwortete: »Leichenfund in Winkel. Wir müssen los!«
Dr. Berger schaltete sich ein: »Hat Ihnen der Kollege bereits etwas Detaillierteres berichten können?«
»Nun ja, nicht viel. Nur so weit, dass Ihr neuer Kunde wohl schon etwas länger am Fundort liegt.«
Dr. Berger entgegnete nichts, runzelte nur fragend die Stirn. Willi machte sich auf zu seinem Kleinbus und winkte die Truppe zu sich. »Auf kommt, ich fahr’ euch runner zu eurem Auto. Ihr wollt den arme Deibel in Winkel doch nit warte’ lasse’.«
Kießling winkte ab und beruhigte: »Keinen Stress. Ich denke, der läuft uns sicher nicht weg.« Dann wandte er sich zu Dr. Berger und Ella und sagte: »Na dann lasst uns mal die Pferde satteln. Es gibt Arbeit!«
Kießling und Dr. Berger stiegen in Willis Bus, während sich Ella noch von ihrem Arnold verabschiedete.
Der Kommissar rief seiner Kollegin zu: »Jetzt lass mal den Arnold in Ruhe, der muss gleich einen ganzen Hänger Trauben abladen.« Dabei zwinkerte er in die Richtung seines Freundes.
Dieser erwiderte lächelnd, während er Ella im Arm hielt: »Jaja, kümmert ihr euch mal um Recht und Ordnung.« Daraufhin drückte er seiner Polizistin noch einen Kuss auf die Lippen und entließ sie zu ihrem Chef.
Willi startete den Motor und knatterte mit dem alten Bus los durch die Weinberge. Unten angekommen wechselten Dr. Berger, Ella und Kießling schnell ins Dienstfahrzeug. Willi kurbelte das Fenster seines Buses runter und rief seinen Freunden hinterher: »Viel Erfolg un’ seht zu, dass ihr den Bösewicht aus ’em Verkehr zieht!«
Kießling winkte und antwortete: »Mach dir mal keine Sorgen. Uns ist noch keiner durch die Lappen gegangen!«
Daraufhin startete er den Motor und fuhr zügig an. Durch Kießlings flotten Fahrstil wechselte Dr. Bergers Gesichtsfarbe umgehend von gesundem Rot zu kreidebleich.
Schwer atmend stöhnte er: »Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen.«
Kießling grinste und entgegnete: »Tja, mein lieber Dr. Berger, hätten Sie im Weinberg mitgeholfen, müssten wir jetzt nicht so schnell fahren.«
Der Pathologe knurrte missmutig und klammerte sich an seinen Gurt.
Ella fragte von hinten: »Wo müssen wir überhaupt hin in Winkel?«
Kießlings Miene wurde ernst. Nach ein paar Sekunden antwortete er mit entschlossener Stimme: »Zum Grauen Haus!«