Das Grab beim Grauen Haus
I m kleinen Rheingauer Städtchen Winkel schlug die Glocke der Kirche Sankt Walburga zur Mittagszeit. In den Straßen und Gassen der Gemeinde tummelten sich die Menschen, erledigten ihre Einkäufe, entschwanden in eine verdiente Mittagspause oder genossen einfach nur einen schönen Sonnentag. Normalerweise ein typischer Tag, hätte nicht ein großes Polizeiaufgebot am altehrwürdigen Grauen Haus sämtliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das besondere Bauwerk, in der Nähe des Rheinufers gelegen, stand schon seit Wochen im Zentrum der Neugier. Nach vielen Jahren in der Bedeutungslosigkeit hatte sich ein neuer Eigentümer gefunden, der den alten Gemäuern neues Leben einhauchte und es zu einem einladenden Restaurant der gehobenen Klasse ausbaute. Die Menschen in der Region nahmen dies mit sehr viel Freude auf, da das Graue Haus einen besonderen Teil der Geschichte in Winkel einnahm. Endlich konnte das historische Gebäude wieder Teil des Ortsgeschehens werden und seine eindrucksvolle Geschichte seinen Gästen erzählen. Zu dieser Geschichte sollte mit dem heutigen Polizeieinsatz ein weiteres Kapitel dazukommen. Eng aneinander standen die Dienstfahrzeuge vor dem Eingang zum Restaurant. Beamte sperrten das Areal rund um das Graue Haus ab, damit sich die Schaulustigen nicht zu weit vorwagten und vielleicht noch den Tatort zertrampelten.
Über die Bundesstraße 42, die zwischen dem Grauen Haus und dem Rhein verlief, schoss ein ziviles Polizeifahrzeug zur nächsten Einfahrt nach Winkel. Ein Beamter vor Ort sah das Auto kommen und hob vorsorglich das Absperrband hoch, sodass das Fahrzeug zum Haupteingang vorfahren konnte. Zügig steuerte der Fahrer das Dienstfahrzeug an den parkenden Polizeiautos vorbei und kam mit einer starken Bremsung vor dem Eingang zum Stehen. Kommissar Kießling stieg grinsend an der Fahrerseite aus. Assistentin Ella folgte ihrem Chef kopfschüttelnd von der Rückbank, während der Pathologe Dr. Berger sich wackelig aus der Tür der Beifahrerseite auf die Straße quälte.
Ella stupste Kießling leicht an und flüsterte: »Du bist doch absichtlich wie ein Henker hier vorgefahren.«
Der Kommissar konnte sich ein diabolisches Lächeln nicht verkneifen und wisperte zurück: »Dem lieben Doktor müssen von Zeit zu Zeit mal die Flügel gestutzt werden, sonst fliegt er uns noch zu hoch hinaus.«
»Ach, komm schon – du bist doch nur angefressen, weil Dr. Berger im Weinberg vorhin einen faulen Lenz geschoben hat.«
Kießling zuckte mit den Schultern. »Wer weiß. In jedem Fall fühle ich mich jetzt besser.«
»Das kann man von unserem Gerichtsmediziner nicht wirklich behaupten«, entgegnete Ella.
In der Tat wankte Dr. Berger um das Polizeiauto herum und rang nach Luft und Fassung. Ermahnend wandte er sich an Kießling.
»Ich schwöre Ihnen, mein lieber Kommissar, irgendwann ist mein Kanal voll und es folgen Konsequenzen, sollten Sie weiterhin so übertrieben fahren, wenn ich an Bord bin.«
Kießling nahm die Drohung des Pathologen gelassen auf.
»Damit kann ich leben. Solange Sie Ihren Kanal nicht in meinen Fußraum entleeren, bleibe ich entspannt. Jetzt aber genug mit dem Gejammer, hier wartet Arbeit auf uns.«
Mit dieser Ansage schob Kießling Ella und Dr. Berger durch den Eingang in den Hof des Grauen Hauses. Mit einem Blick auf das alte Gebäude kehrten die Lebensgeister in den Gerichtsmediziner zurück. Hier war er neben der Pathologie ganz in seinem Element. Durch seine Leidenschaft zu Kultur und Geschichte begann er umgehend sein Wissen mit den anderen zu teilen.
»Wissen Sie beide eigentlich, an welch einem geschichtsträchtigen Ort wir uns befinden?«
Ella schüttelte den Kopf und entgegnete: »Nein, klären Sie uns auf!«
Kießling blickte seine Kollegin sofort scharf an und murmelte ihr zu: »Bist du wahnsinnig, du weißt doch, was jetzt kommt.«
Sowie Kießling den Satz beendete, wurde dies auch Ella klar. Dr. Berger setzte zu einer kleinen, privaten Geschichtsstunde an und begann über die Vergangenheit des Grauen Hauses zu referieren. Ella lauschte den Ausführungen des Pathologen höflich, während der Kommissar prüfend das Gelände überblickte. Er erfasste umgehend den Brennpunkt des Geschehens. Zwischen dem Grundstück des Grauen Hauses und dem nächstgelegenen Weinberg, dem Graugarten, war eine kleine Baugrube ausgehoben. Diese war umringt von Beamten und Mitarbeitern der kriminaltechnischen Untersuchung. Kießling wollte sich zum Tatort aufmachen, da zog ihn Dr. Berger am Arm zurück und führte begeistert aus:
»Und wussten Sie, Herr Kommissar, dass das Graue Haus älteren Theorien nach als Wohn- und Sterbehaus des Erzbischofs Rabanus Maurus diente?«
»Rabanus wer?«, fragte Kießling leicht genervt.
»Sagen Sie bloß, Sie wissen nicht, wer das ist«, fragte Dr. Berger entgeistert und fuhr fort: »Er gehörte zu einer der bedeutenden Gestalten der karolingischen Renaissance und war …«
Kießling unterbrach den begeistert referierenden Dr. Berger unsanft. »Ja, wunderbar, mein lieber Doktor. Ich denke, wir haben genug gelernt über Ihren Erzbischof. Wenn Sie Glück haben, haben ihn die Kollegen von der KTU dahinten ausgebuddelt.«
Mürrisch knurrend nahm Dr. Berger die Unterbrechung durch den Kommissar hin und folgte ihm und Ella zum Leichenfundort. Um diesen drängten sich mehrere Beamte der KTU. Eifrig wurden Fotos zur Beweissicherung geschossen und vorsichtig Proben von verdächtigen Dingen in nächster Nähe zur Leiche entnommen.
Kießling trat an das Loch. Es war einen knappen Meter tief. Am Boden trat ein freigelegtes Skelett zum Vorschein. In mühseliger Kleinarbeit wurde dieses von den KTU-Mitarbeitern von Erde befreit. Ein Bagger hatte einen Teil davon bei Vorarbeiten für ein Fundament zu Tage gebracht. Dr. Berger und Ella stellten sich neben den Kommissar und blickten ebenfalls in die Grube. Es war nicht das, was sie erwartet hatten. Kießling schien erleichtert.
»Da liegt aber einer schon länger. Hatte schon befürchtet, wir bekommen es mit einem frischen Fall zu tun«, sagte Kießling unbeschwert.
»Eine!«, korrigierte Dr. Berger.
»Was eine?«, fragte Kießling den Pathologen.
»Eine! Das hier ist ein Frauenkörper«, erklärte Dr. Berger.
»Sie meinen, das war ein Frauenkörper?«, brachte sich Ella ein.
»Vielen Dank, Frau Nilsson, für Ihre scharfe Beobachtungsgabe«, antwortete der Gerichtsmediziner sarkastisch und ergänzte: »Das hier ist eindeutig der Körper einer Frau. So viel kann ich Ihnen mit einem guten Meter Abstand versichern.«
»Na gut, mein lieber Doktor, dann verkürzen Sie mal den Abstand, hüpfen in das Loch und erzählen mir morgen, was wir hier haben.«
»Wie meinen Sie das, Herr Kommissar? Wollen Sie etwa Feierabend machen?«, fragte Dr. Berger entgeistert.
Kießling grinste. »So wie die Leiche ausschaut, ist der Mörder, falls es einen solchen gibt, entweder auf dem Winkeler Friedhof oder im Altersheim. Demnach gibt es hier keinen Grund zur Eile.«
Ella stimmte ihrem Chef wortlos zu. Die KTU und der Gerichtsmediziner mussten in der Tat zuerst ihre Arbeit machen, bevor Kießling überhaupt mit den Ermittlungen beginnen konnte. Kießling winkte in die Runde und wollte sich mit Ella wieder auf den Weg zum Auto machen, da unterbrach Dr. Berger die Aufbruchspläne.
»Warten Sie! Hier ist etwas.«
Mit diesen Worten kletterte Dr. Berger vorsichtig in das Loch. Die Sonne hatte sich gerade über das Graue Haus geschoben und schien in die Grube. Er hatte dicht hinter dem Schädel des Skeletts etwas aufblitzen sehen, was in der Sonne reflektierte. Kießling und Ella standen wieder am Rand und beobachteten gebannt, was Dr. Berger wohl entdeckt hatte. Der Pathologe zog sich einen Gummihandschuh an und strich vorsichtig die Erde hinter dem Schädel weg. Ein Diadem trat zum Vorschein. Mit äußerster Vorsicht nahm er es an sich, hielt es hoch und begutachtete es im Licht. Der mit edlen Steinen besetzte Kopfschmuck blitzte und blinkte im Sonnenlicht. Die KTU-Beamten kamen ebenfalls näher und staunten über den Fund. Kießling staunte ebenfalls.
»Was zum Teufel ist denn das?«, fragte er beeindruckt.
Keiner antwortete. Alle starrten wie elektrisiert auf das augenscheinlich teure Fundstück.
Plötzlich eilte ein älterer Mann herbei, der zu dem Bautrupp gehörte, der die Grube aushob. Die Arbeiter hatten hinter der Absperrung das Treiben beobachtet. Mit großen Augen musterte er das Diadem und hielt erschrocken die Hand vor den Mund.
»Das darf nicht wahr sein!«, stieß er hinter vorgehaltener Hand hervor.
Kießling bewegte sich zu dem Herrn, der etwa Mitte sechzig war. Er fragte ihn: »Was darf nicht wahr sein?«
Der Mann starrte weiterhin auf das Schmuckstück, ohne zu antworten. Es schien ihn gar nicht mehr loszulassen. Kießling wiederholte seine Frage.
»Was meinen Sie damit, das darf nicht wahr sein?«
Der ältere Herr drehte den Kopf zum Kommissar und sah ihn an, als hätte er einen Geist erblickt.
Nach einigen Sekunden des Schweigens stammelte er: »Das ist das Diadem der Weinkönigin Serafina – und ich glaube, wir haben heute ihr Grab gefunden.«