Der Teufel kommt euch holen

Am selben Tag in einem elitären Golfclub.

A usgelassen feierte die gut betuchte Gesellschaft einer privaten Veranstaltung auf dem Gelände eines Golfclubs in den Niederlanden, nahe der deutschen Grenze. In weiß gekleidete Kellner balancierten gekonnt mit Champagner gefüllte Tabletts durch die Reihen der Gäste. Auf dem Grün tummelten sich kleine Grüppchen, übertrafen sich gegenseitig mit der Beweihräucherung ihrer eigenen Person und lochten dabei den ein oder anderen Golfball ein. Auf der Terrasse des Clubs traf das Servicepersonal mit größter Sorgfalt die Vorkehrungen für ein aufzutischendes Büffet. Aus der hauseigenen Küche drang ein verführerischer Duft nach den feinsten Speisen. Durch die gekippten Fenster war das muntere Gewusel der Köche zu hören, die bereit waren, ihre Köstlichkeiten den Gästen zu präsentieren.

Inmitten der Gäste strahlte ein junges Geschwisterpärchen im Glanz der elitären Gesellschaft. Ebenfalls in elegant sportlichem Outfit gekleidet, trieben sie fleißig Konversation. Sie lachten, gestikulierten und sprachen in dem typisch oberflächlichen Jargon, wo jeder nur auf seinen eigenen Vorteil im Austausch bedacht war. Es ging um Besitz, Karriere und natürlich Geschäfte. Etwas angespannt blickte die junge Frau dabei ständig auf ihr Mobiltelefon. Ein älterer Herr in der Runde bemerkte die leichte Nervosität und fragte nach.

»Frau van Fraisaen, warten Sie auf dringliche Neuigkeiten?«

Ein wenig peinlich berührt schaute sie den Herrn an und antwortete mit einem verschmitzten Lächeln: »Nein, Dringliches gibt es nichts. Ich warte nur auf Nachricht von unserem Vater. Er wollte schon vor einer Stunde hier sein.«

Überschwänglich entgegnet ihr der Herr: »Ah, Ihr geschätzter Vater. In der Tat, wo steckt er? Normalerweise lässt er sich doch ungern den Kreis unserer Gesellschaft entgehen, geschweige denn zu spät zu kommen.«

Ihr Bruder schaltete sich in das Gespräch ein.

»Ich denke, er wurde aufgehalten. Wahrscheinlich werkelt er noch an ein paar Passagen seines neuen Romans und hat dabei die Zeit vergessen. Das kommt häufig vor.«

Verständnisvoll legte der Herr die Hand auf die Schulter der jungen Frau van Fraisaen.

»Da hat Ihr Bruder wohl recht. Machen Sie sich mal keine Sorgen. Ihr werter Herr Vater wird sicherlich gerade einen Geistesblitz, der ihn ereilt hat, auf Papier bringen. Wo wir gerade dabei sind, wann wird der neue Roman erscheinen?«

Der junge Herr van Fraisaen zog die Schultern ein Stück hoch und gestikulierte geheimnisvoll, als wüsste er mehr als das, was er preisgab.

»Nun, unser Vater hält sich bekanntlich sehr bedeckt, was die Fortschritte seiner Arbeit angeht. Aber ich kann Ihnen versichern, dass es bald eine Überraschung geben wird.«

Er beendete den Satz mit einem Augenzwinkern und stellte damit den neugierigen Herrn zufrieden. Dieser erhob sein Champagnerglas und antwortete: »Das freut mich, zu hören. Dann möge sich Ihr Vater bedeckt halten und in seinem stillen Kämmerlein weiter an seinem neuen Werk feilen.«

Die beiden Geschwister grinsten ihrem Gesprächspartner noch höflich hinterher, nachdem der sich verabschiedet hatte. Diese Art von Gesprächen mussten sie häufig über sich ergehen lassen. Ihr Vater war in den Niederlanden ein bekannter Romanautor und somit in den hier agierenden Kreisen sehr angesehen. Gerade wenn es sich um Persönlichkeiten der Öffentlichkeit handelte, waren die Angehörigen dieser Gesellschaften immer auf eine gewisse Nähe bedacht, damit mit der Bekanntschaft zu einem namhaften Autor angegeben werden konnte.

Die Feier nahm ihren Lauf, ohne dass der Vater des Geschwisterpaares auftauchte. Nach weiteren inhaltsleeren Konversationen waren es die beiden leid. Merle van Fraisaen starrte auf ihr Mobiltelefon. Sie verzog angespannt die Mundwinkel.

Ihr Bruder fragte: »Noch keine Nachricht von Papa?«

»Nein, nichts. Ob ich mal anrufen soll?«

Ihr Bruder Hendrik schüttelte den Kopf.

»Nein, lass das mal. Du weißt, Papa kann es nicht leiden, wenn wir ihm hinterhertelefonieren. Dann wird er nur wieder so aufbrausend.«

Merle wollte gerade das Telefon in die Tasche stecken, da poppte eine Textnachricht auf. Schnell zog sie das Handy wieder hervor und las die Nachricht ihrem Bruder vor.

»War auf dem Weg und habe eine Autopanne. Bitte holt mich ab! Ich schicke euch den Standort!«

Mit dem letzten Wort ploppte eine weitere Nachricht mit der Standortinformation auf.

Hendrik fragte verwundet: »Autopanne? Wieso ruft er nicht den Pannendienst?«

Seine Schwester nahm einen tiefen Atemzug, der auf eine aufkommende Missstimmung hinwies. Sie entgegnete: »Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist er sich zu fein, den Automobilclub anzurufen, und wir dürfen das gleich für ihn machen. Ist aber nicht schlimm, ich habe eh keine Lust mehr auf dieses Schaulaufen hier.«

Ihr Bruder stimmte zu. »Da hast du recht. Machen wir, dass wir hier wegkommen. Wenn Papa später noch mal her möchte, kann er allein mit unserem Auto fahren und wir warten auf den Pannendienst.«

Still und leise entfernten sich die beiden von der Feier. Auf dem Parkplatz gaben sie dem Parkwächter ihre Schlüsselmarke und zwei Minuten später wurde vom Parkservice ihr Wagen vorgefahren. Hendrik stieg auf der Fahrerseite ein und drückte dem Mitarbeiter noch ein Trinkgeld in die Hand. Merle stieg auf der Beifahrerseite ein und gab direkt die Standortinformation in das Navigationsgerät ein.

Entgeistert stellte sie fest: »Wo ist der denn? Hat er sich etwa in einem Waldweg festgefahren?« Dabei zeigte sie mit dem Finger auf das Navigationsdisplay und fuhr fort: »Schau mal! Das ist ja mitten im Wald, ein ganzes Stück von der Straße entfernt.«

Hendrik zuckte nichtsahnend mit den Schultern und antwortete: »Keine Ahnung. Vielleicht hat er wieder eine spontane Romanidee und lässt sich dabei von Wald und Wiesen inspirieren.« Bei diesen Worten grinste er zynisch.

Merle ergänzte: »… und ist dabei stecken geblieben. Wahrscheinlich dürfen wir deshalb den Karren aus dem Dreck ziehen – er hat sich womöglich wirklich festgefahren.«

Amüsiert über die Vermutung fuhr das Geschwisterpaar los und folgte den Anweisungen des Navigationsgerätes. Nach einer knappen halben Stunde erreichten sie den Abzweig in einen Waldweg.

»Hier ist er reingefahren? Was zum Teufel wollte er hier?«, fragte Merle.

Ihr Bruder schüttelte wortlos den Kopf und steuerte den Wagen über den holprigen Weg in den dichten Wald. Nach ungefähr fünfhundert Metern tauchte nach einer Biegung ein Lieferwagen auf. Irritiert schaute Hendrik auf das Navigationssystem.

Er wandte sich zu seiner Schwester. »Hast du die richtigen Daten eingegeben? Da steht zwar ein Lieferwagen, aber das ist doch nicht Papas Auto.«

Merle glich noch mal die Daten aus der Nachricht mit den Eingaben im Navigationsgerät ab.

»Doch! Passt alles, hier muss es sein.«

Hendrik stoppte den Wagen neben dem Lieferwagen. Er drehte seinen Kopf zu Merle und sagte: »Bleib du sitzen, ich geh mal nachsehen.«

Er stieg aus und musterte das geparkte Fahrzeug. Laut rief er: »Papa?«

Keine Antwort. Er wiederholte den Ruf und bekam wieder keine Antwort. Bedächtig bewegte er sich von ihrem Auto weg und schritt langsam um den Lieferwagen herum. Merle blickte vom Beifahrersitz aus ihrem Bruder hinterher. Sie beschlich ein ungutes Gefühl und sie bekam es mit der Angst zu tun. Hendrik war hinter dem Lieferwagen verschwunden. Durch einen offenen Spalt im Fenster der Beifahrertür hörte sie das Knistern des Waldbodens, das von den Schritten ihres Bruders herrührte. Plötzlich vernahm sie einen dumpfen Schlag und dann lautes Rascheln, als sei jemand zu Boden gefallen. Intuitiv öffnete sie die Wagentür und rief erschrocken nach ihrem Bruder.

»Hendrik!«

Niemand antwortete. Totenstille. Merle zitterte. Sofort war ihr bewusst, dass etwas nicht stimmte. Sie begann, schwer zu atmen. Vor Angst füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sekunden verstrichen, ohne dass sich etwas rührte oder ihr Bruder eine Antwort gab. Merle stieg aus dem Wagen aus und tastete sich vorsichtig Richtung Lieferwagen. Zentimeter um Zentimeter bewegte sich Merle vorwärts. Dann stand sie vor dem Fahrzeug und traute sich nicht, um die Ecke zu schauen, aus Angst, was sie dort erwarten könnte. Nach einem tiefen Atemzug nahm sie allen Mut zusammen und schritt mit schnellen Schritten um den Lieferwagen herum. Dort war nichts. Niemand war zu sehen. Ihre Angst stieg ins Unermessliche. Panisch wandte sie sich wieder ab, wollte zurück in ihr Auto flüchten. Sie drehte sich um die eigene Achse und unerwartet tauchte eine Person mit verhülltem Gesicht vor ihr auf. Ein Schrei brach aus ihr heraus. Doch der Laut war nur kurz. Ihr Gegenüber sprühte Merle eine Flüssigkeit ins Gesicht, die ihr sofort die Sinne raubte. Sie brach zusammen und blieb regungslos am Boden liegen. Mit letzter Kraft versuchte Merle einen Blick auf den Angreifer zu erhaschen, doch die Intensität des Betäubungsmittels nahm ihr auch die letzte Energie und das Bild ihres Gegenübers verschwamm in der einsetzenden Dunkelheit. Sie fiel in eine tiefe Ohnmacht.