Es beginnt!
F rüh am Morgen des nächsten Tages tummelte sich bereits eine Reisegruppe am Rheinufer vor Oestrich-Winkel. Die Kinder in der Gruppe rieben sich schlaftrunken die Augen und waren nicht begeistert vom Entdeckerdrang ihrer Eltern. Eines der Kinder zog vorwurfsvoll am Hemdsärmel seines Vaters und beschwerte sich: »Mensch Papa, warum müssen wir denn so früh hierherkommen? Wir haben doch Ferien.«
Der Vater zog seinen Arm weg, legte die Hand auf die Schulter seines Sohnes und versuchte, ihn für die morgendliche Sightseeingtour zu begeistern.
»Jetzt aber keine Müdigkeit vorschützen, wann hast du denn das letzte Mal so ein schönes Panorama gesehen? Deine Freunde in der Schule würden dich beneiden!«
Der Junge verzog sein Gesicht. Die begeisterten Worte des Vaters waren in keiner Weise überzeugend für einen Zehnjährigen, der eher von einem Abenteuerspielplatz als von langweiliger Kultur zu begeistern war. Der Gästeführer sprang dem Vater zur Seite.
»Junger Mann, da geb ich deinem Papa recht. Wir haben ganz tolle Sachen hier im Rheingau, die es sonst nur ganz selten in unserem Land gibt.«
Mit dem Finger deutete er auf den Oestricher Kran, der sich knappe fünfzig Meter weiter über das Rheinufer erhob.
»Schau mal da vorn. Da steht unser historischer Weinverladekran. Der ist was ganz Besonderes. Lauf mit den anderen Kindern doch schon mal vor und guckt euch das Bauwerk an. Wir sind auch gleich da.«
Tatsächlich wurden die Augen der Kinder größer, als sie den Kran erblickten. Der Gästeführer hatte genau den richtigen Nerv bei den Kindern getroffen und sie rannten frisch motiviert zu dem alten Kran. Erleichtert schaute der Vater den Tourguide an und bedankte sich.
»Puh, da haben Sie uns aber den Vormittag gerettet. Hatte schon befürchtet, unsere Kids würden uns auf der gesamten Tour in den Wahnsinn treiben.«
Der Gästeführer lachte und erwiderte: »Das ist doch normal. Als Kinder waren wir auch nicht anders. Aber machen Sie sich mal keine Gedanken. Wir haben hier auf unserer Tour noch einige spannende Highlights, die auch sicher für die Jüngeren interessant sind. Sehen Sie nur, wie gebannt sie den Kran anstarren.«
Mit einem Lächeln auf den Lippen drehten sich Vater und Gästeführer zu dem Kran um und sahen in der Tat, wie die Gruppe von Kindern vor dem Bauwerk stand und es wie in Trance nicht mehr aus den Augen ließ. Etwas irritiert von der Intensität, mit der die Kinder den Kran anstarrten, fügte er an: »Ich muss gestehen, so gebannt hat noch keiner auf unseren Kran geschaut.«
Der Gästeführer ließ sich davon weiter nicht beirren und schritt voran. »Ok, werte Gäste, die Kinder sind schon vorgerannt und wir kommen jetzt in den Genuss eines ganz besonderen Bauwerks hier im Rheingau. Unser einzigartiger Weinverladekran, der seit seiner Fertigstellung im Jahr 1745 hier das Rheinufer schmückt und ganze 181 Jahre, bis 1926, in Betrieb war.«
Während der Guide eifrig seine Geschichte erzählte, schloss die Gruppe zu den Kindern auf, die immer noch wie gebannt auf den Kran starrten. Der Gästeführer stellte sich zwischen die Kinder und den Kran und führte seinen Vortrag weiter aus. Die Erwachsenen, die inzwischen hinter den Kindern standen, begannen ebenfalls mit großen Augen auf den Kran zu starren. Der Gästeführer erzählte immer weiter. Nach einigen Sätzen schlich sich eine leichte Irritation in seine Ausführung. Er bemerkte, dass alle nur auf den Kran starrten und anscheinend niemand seinen Worten folgte. Er blickte in die Gesichter seiner Reisegruppe, versuchte die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
»Wow, ich finde es ja toll, dass Sie unseren Kran mit einer derartigen Begeisterung mit den Augen verschlingen, aber hören Sie mir noch einen Moment zu, es gibt noch interessante Fakten zu dem Bauwerk.«
Zaghaft meldete sich eine Frau aus der Gruppe. »Darf ich eine Frage stellen?«
»Aber natürlich, immer heraus damit!«
Mit gedämpfter Stimme fragte die Frau: »Wurden hier auch Hinrichtungen durchgeführt?«
Der Gästeführer schüttelte amüsiert den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Hier wurde nur Wein auf Schiffe verladen. Wie kommen Sie denn darauf?«
»Aber warum hängt dann da so geschmacklos eine Puppe dran?«
Wieder schüttelte der Gästeführer den Kopf, allerdings ohne diesmal von der Frage amüsiert zu sein. Er drehte sich um und erblickte einen lebensgroßen männlichen Körper, der am Ausleger des Krans baumelte. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Der Kopf des Körpers war mit einem sackähnlichen Stück Leinen verhüllt, sodass er im ersten Moment wie eine Puppe anmutete.
Er stotterte: »Jetzt bin ich etwas aus dem Konzept geraten, das ist eigentlich nicht normal. Hier hat sich wohl jemand einen Scherz erlaubt.«
Er ging näher heran, direkt unter den puppenähnlichen Körper, und schaute nach oben. Plötzlich wehte ein kräftiger Wind vom Fluss in ihre Richtung und setzte den Körper in Bewegung. Ein grausamer Geruch nach Tod und Verwesung erfüllte seine Nase. Mit einer schnellen Bewegung hielt der Gästeführer die Hand vor das Gesicht. Er lief kreidebleich an. Angewidert wandte er sich ab. Der Wind wurde stärker. Das Stück Stoff am Kopf wurde davon erfasst und flog im hohen Bogen davon. Der laute Schrei eines kleinen Mädchens aus der Reisegruppe brachte den Schrecken zum Ausdruck, der durch alle Menschen in der Gruppe fuhr, als sie in das aufgequollene Gesicht eines toten Mannes blickten. Eltern sprangen schützend vor ihre Kinder und verdeckten ihnen die Augen.
Der Gästeführer versuchte, die Fassung zurückzuerlangen. Mit zitternder Hand kramte er sein Mobiltelefon hervor und wählte den Notruf. Sowie er eine Stimme auf der anderen Seite der Leitung vernahm, sprach er fast keuchend in das Telefon: »Kommen Sie schnell nach Oestrich-Winkel zum Rhein – hier baumelt eine Leiche am Kran!«
Eine Frau tippte den panisch telefonierenden Gästeführer an und zeigte mit dem Finger auf die Leiche. Diese hatte sich im Wind gedreht und sie schauten auf den Rücken des Toten. Der Guide ließ das Telefon sinken und sie sahen in verwackelten Buchstaben auf das Hemd der Leiche geschrieben: Serafinas Leiden.