Andrang in Dr. Bergers Reich

D er Rheingau versank in einem Verkehrschaos. Durch den spektakulären Leichenfund am Oestricher Kran musste ein ganzer Teilabschnitt der Bundesstraße 42 gesperrt werden, die direkt am Tatort vorbeiführte. Die vielen Touristen, gepaart mit Berufspendlern, die ihren Weg durch und in den Rheingau suchten, mussten zwangsläufig einige Stunden auf der Straße verbringen. Ein älteres amerikanisches Ehepaar, das seinen Urlaub in der Weinregion verbrachte, verglich es süffisant mit dem Chaos des damaligen Woodstock Festivals in den USA – lediglich mit schönerer Aussicht auf den Rhein. Diese Prise Galgenhumor half vielen über die nervigen Stauverhältnisse hinweg. Andere machten ihrem Unmut Luft, indem sie unaufhörlich auf ihre Hupe drückten. Polizei und Feuerwehr hatten alle Hände voll zu tun, den Verkehr durch die anliegenden Ortschaften zu leiten, um so der Situation Herr zu werden.

Kießling hatte in weiser Voraussicht auf die Situation vor Ort seine Harley gesattelt, Assistentin Ella hinten drauf gepackt und schlug so dem Verkehrschaos ein Schnippchen. Nachdem die Leiche unter den Augen vieler schockierter Schaulustiger geborgen war und in Dr. Bergers Pathologie überführt wurde, standen Kießling und Ella noch einen Moment am Kran und unterhielten sich abseits der anderen Kollegen.

»Was denkst du, Ella? Erst wird eine wohl unglücklich verblichene Weinkönigin am Grauen Haus ausgebuddelt und heute baumelt ein toter Mann am Kran, mit ihrem Namen auf dem Hemd. Was zum Geier ist hier los?«

Ella rollte mit den Augen. Sie hatte mit ihrem Chef schon einiges in der Vergangenheit erlebt, und heute, so schien es, stand wieder ein sehr mysteriöser Fall ins Haus. In ihrem Kopf kreisten viele Gedanken. Sie versuchte, diese mit Kießling zu teilen.

»Ganz ehrlich, mir läuft es gerade eiskalt den Rücken runter. Wäre es doch nur bei der Leiche am Grauen Haus geblieben. Aber mit diesem Leichenfund heute steht uns sicher wieder viel Arbeit ins Haus.«

Kießling stimmte zu. »Das kannst du laut sagen. Wie krank muss man sein, um jemanden an so einem Ort aufzuknüpfen? Seltsam, dass es niemand bemerkt hat. Der hätte doch schreien müssen oder sonst irgendwas?«

»Vielleicht war er schon tot, als der Täter ihn am Kran hochgezogen hat?«, vermutete Ella.

»Hm, guter Ansatz«, stimmte Kießling zu und fuhr fort: »Dr. Berger wird uns sicher mehr dazu sagen können. Die Leiche müsste mittlerweile auf seinem Tisch gelandet sein. Lass uns fahren!«

Ella nickte, packte Kießling aber noch mal am Arm, bevor dieser auf seine Harley zusteuerte.

»Bitte fahr jetzt aber nicht wieder so schnell. Mir steckt die Todesangst von der Herfahrt immer noch in den Knochen.«

Der Kommissar grinste und feixte: »Denk einfach an deinen Arnold und mach dir kuschlige Gedanken.«

Ella gab ihm einen Klaps auf die Schulter für die anstößige Bemerkung. Beide gingen schnellen Schrittes zum geparkten Motorrad und machten sich auf den Weg zu Dr. Bergers Reich.

Eine Stunde später in der Wiesbadener
Pathologie.

Dr. Berger wuselte durch den kalten, weiß durchfluteten Raum. Voll eingepackt in sein Obduktionsoutfit, mit Maske und Schutzbrille auf der Nase, wirkte er wie ein Außerirdischer in seinem Raumschiff. Seine Blicke schwankten zwischen dem Leichnam vom Oestricher Kran und der skelettierten Weinkönigin Serafina. Obduktionshelfer beobachteten ehrfürchtig ihren Chef. Einer von ihnen hielt das Hemd des männlichen Leichnams in der Hand, auf dem Serafinas Name stand. Gedanklich versuchte Dr. Berger bereits eine Brücke zu bilden, um zu finden, was die beiden miteinander verband. Augenscheinlich konnte er sich keinen Reim darauf machen. Schließlich lagen viele Jahrzehnte zwischen den beiden Toten. So sehr er versuchte, seinen objektiven Blick zu wahren, beschlich ihn ständig ein Gefühl, das sein Gemüt ins Gruseln versetzte. Tiefes Durchatmen holte ihn wieder zurück in die Realität seiner Pathologie. Er musste sich bemühen, seinen scharfen Blick auf den Moment zu richten. Die Umstände des Todes und deren Zusammenhänge waren die Aufgabe von Kommissar Kießling, seine Aufgabe lag jetzt in der objektiven Begutachtung der Toten. Er griff nach seinem Obduktionsbesteck und wollte sich wieder ans Werk machen, da rumpelte es vom Gang und Geräusche drangen in den Saal. Etwas verärgert, in seiner gerade wiedererlangten Konzentration gestört worden zu sein, richtete er seinen Blick auf die Tür. Durch diese traten Ella und Kießling, laut diskutierend.

»Ich hab dir gesagt, fahr nicht so schnell, jetzt sind wir hier in der Pathologie und mir war schon vorher schlecht«, jammerte Ella hinter dem voranschreitenden Kommissar.

Dieser grinste vor sich hin und entgegnete spöttisch: »Du bist ja genauso ein Weichei wie unser Doktor hier, wenn er auf der Rückbank sitzt. Ihr hättet als Kinder häufiger Achterbahn fahren sollen.«

Dr. Berger empfing die beiden mit einem stechenden Blick. Die plötzliche Lautstärke in seiner Pathologie empfand er als äußerst störend.

»Darf ich um Contenance bitten! Wir sind hier nicht in Ihrer Stammkneipe, Herr Kommissar.«

Provozierend drehte sich Kießling zu Ella und hielt seinen Zeigefinger vor den Mund.

»Pssst. Du störst unseren Dr. Berger bei seiner Arbeit.«

Ella versetzte ihrem Chef einen leichten Schubser und gab die zynische Attacke zurück.

»Nur weil du so durch den Rheingau geheizt bist …«, brachte Ella heraus, wurde aber von Dr. Berger unterbrochen.

»Können Sie beide jetzt mal aufhören mit Ihrem Gezeter, wir versuchen hier zu arbeiten«, fauchte der Pathologe, machte eine kurze Pause und fügte an: »Außerdem gebe ich Frau Nilsson recht, Sie fahren in der Tat wie eine gesenkte Sau – Herr Kommissar!«

Kießling verzog überrascht das Gesicht. Eine derartige Wortwahl war er von dem sich stets gewählt ausdrückenden Dr. Berger nicht gewohnt. Dass der Gerichtsmediziner zu einer solchen harschen Ausdrucksweise griff, ließ ihn vermuten, dass Dr. Berger wohl unter einer gewissen Anspannung stand. Er ging zu ihm an den Obduktionstisch und schaute auf den Leichnam vom Kran. Bei diesem Anblick glich sich sein schelmisches, warmes Auftreten schnell an die kühle Raumtemperatur an. Dazu kam ein beißender Geruch, der die scherzhaft untermalte Konversation umgehend im Keim erstickte.

Mit ernster Stimme fragte er den Pathologen: »Können Sie uns schon etwas dazu sagen, was auf den Hergang hindeuten könnte?«

Dr. Berger sammelte sich, blickte kurz zu Ella, die sich neben ihrem Chef einreihte.

»Nach einer ersten oberflächlichen Begutachtung kann ich mit Gewissheit sagen, dass der Tod schon vor dem Aufhängen eingetreten war.«

Er zeigte auf Würgemale in der Halsregion und erklärte: »Sehen Sie diese Male hier? Diese stammen nicht von dem Strick, der als Galgen diente.«

Kießling ging mit dem Kopf näher heran, begutachtete die Verletzungen.

»Ja, sieht so aus, als wäre er vorher stranguliert worden.«

Kießling richtete sich wieder auf und dachte laut nach.

»Demnach wurde er an einem anderen Ort umgebracht und im Nachhinein an den Kran gehängt. Das erklärt, warum niemand Schreie oder Hilferufe gehört hat.«

Der Gerichtsmediziner stimmte zu. »So ist es. Einen lebendigen Menschen aufzuhängen, wäre nicht ohne entsprechenden Geräuschpegel vonstattengegangen. Das Aufhängen eines Toten konnte im Schutz der Dunkelheit ohne Probleme durchgeführt werden.«

Ella fragte in die Runde: »Konnten Sie einen Zusammenhang mit der skelettierten Leiche feststellen?«

»Sie meinen außer dem Hemd, dass offensichtlich ihren Namen trägt?«

Ella nickte stillschweigend.

»Nein, dafür ist die Zeit zu kurz. Ich habe bereits DNA-Proben beider Leichen in Auftrag gegeben, um einen eventuellen familiären Hintergrund festzustellen. Dazu wird auch die Kleidung des Toten überprüft, ob dort fremde DNA-Spuren zu finden sind.«

»Wie lange dauert das?«, fragte Kießling.

Dr. Berger nickte und entgegnete: »Ein paar Stunden müssen Sie sich noch gedulden.«

Der Kommissar schaute nachdenklich drein. Vor seinem inneren Auge bildete sich ein Konstrukt aus Fragen, die dieser Fall bereits jetzt aufwarf. Ihm wurde klar, dass jede Menge Arbeit auf ihn und sein Team wartete.

»Ok, dann geben Sie Gas. Wir brauchen unbedingt erste Ergebnisse, bevor der Staatsanwalt …« Seine Ausführung wurde vom Klingeln seines Mobiltelefons unterbrochen. Er zog es aus der Tasche und schaute aufs Display. »Wenn man vom Teufel spricht.«

»Staatsanwalt Koch?«, fragte Ella.

Kießling bestätigte ihre Vermutung mit verzogener Miene. Er ging ans Telefon.

»Herr Staatsanwalt, gerade wollte ich Sie anrufen.«

Laute Worte drangen durch den Lautsprecher des Handys. Kießling hielt es einige Zentimeter vom Ohr weg, da sein Gesprächspartner eine unangenehme Lautstärke an den Tag legte. Ella und Dr. Berger versuchten, aus sicherer Entfernung dem Inhalt zu folgen, doch die Worte durch das Mobiltelefon waren für die beiden unverständlich.

Kießling folgte dem Gespräch geduldig und beendete es nach einigen Minuten mit den Worten: »Ist in Ordnung, wir kommen gleich!«

Ella und Dr. Berger blickten fragend den Kommissar an, der kurz nach Luft rang. Sie ahnten, was jetzt anstand.

Kießling schaute beide an und nickte mit dem Kopf.

»Ella, wir haben jetzt einen Termin beim Staatsanwalt!«

Sie schnappten sich einen Dienstwagen, der vor dem Gebäude parkte, und machten sich auf den Weg.