Ansage vom Chef

D reißig Minuten später fuhren Ella und Kießling vor dem Bürogebäude vor, in dem sich das Dienstzimmer des Staatsanwaltes befand. Entgegen der gewöhnlich zügigen Fahrweise des Kommissars fuhr er fast in Zeitlupe auf den Parkplatz. Er konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn der Staatsanwalt ihn und sein Team herbeizitierte. Er sah es grundsätzlich als verlorene Zeit an, die er besser in seine Ermittlungsarbeit steckte, besonders bei so kniffligen Fällen. Seiner Auffassung nach würde es ein kurzer Anruf tun, um seinem Vorgesetzten neue Erkenntnisse auf den Tisch zu legen. Sobald er handfeste Fakten in der Tasche hätte, würde er diese den Oberen schon mitteilen. Aber er wusste um den tieferen Sinn dieser Treffen. Ein böser Mensch hat ein schlimmes Verbrechen verübt und dieses zu allem Überfluss der breiten Öffentlichkeit präsentiert. Medien sind scharf wie ein frisch geschärftes Fleischermesser, und damit geht das Elend los. Staatsanwalt Koch bekommt Druck von seinem Vorgesetzten und muss die Fackel bis ans Ende der Kette, zu ihm und seinem Team, weitergeben. Als ob er und seine Leute nicht um die Brisanz wüssten, aber so war nun mal der Gang der Dinge. Kießling würde sich nie daran gewöhnen.

Nachdem der Kommissar an mehreren freien Parkbuchten vorbeigefahren war, fragte Ella: »Kannst du dich nicht für einen Parkplatz entscheiden?«

Kießling seufzte und antwortete: »Lass mich noch ein wenig den Frieden der geparkten Autos genießen, bevor es in die Höhle des Löwen geht.«

Ella grinste.

»So schlimm wird’s schon nicht. Bis jetzt konnten wir ja noch nicht viel tun.«

»Genau das ist mein Problem. Wenn’s nach unserem Staatsanwalt ginge, müssten der oder die Täter sauber verpackt in einer Gefängniszelle unterm Tannenbaum liegen.«

Ella nickte. Wortlos gab sie Kießling recht. Sie war ebenfalls schon lange genug dabei und mit diesen Spielchen vertraut.

Kießling fasste sich ein Herz und fuhr in eine Parklücke am Ende des Platzes. Die beiden stiegen aus und gingen gemächlich zum Eingang. Der Kommissar zog die Schwingtür auf und sofort kam ihnen dieser staubtrockene Geruch entgegen, den Behördengebäude wohl exklusiv für sich gepachtet hatten. Sie gingen hinein und steuerten auf den Fahrstuhl zu. Auf dem Weg dorthin kam ihnen die Sekretärin von Staatsanwalt Koch entgegen. Sie trug einen Stapel mit Akten und blickte nicht gerade freudig drein. Kießling stoppte und erkundigte sich sicherheitshalber im Vorfeld nach der Stimmung.

»Tach Frau Kern, alles gut bei Ihnen?«

Die Sekretärin schnappte nach Luft und begrüßte den Kommissar ebenfalls.

»Hallo Herr Kießling, gut, dass Sie da sind. Da oben brennt die Luft.«

Ella fragte nach: »So schlimm?«

»Na das können Sie sich doch sicher denken. Seit dieser Galgenleiche rappeln unentwegt die Telefone. Die Presse stellt laufend Fragen und die politische Riege kriecht dem Staatsanwalt förmlich ins Ohr.«

Kießling nickte und richtete seinen Blick nach oben.

»Kann ich mir vorstellen. Ich hätte es mir zurzeit gern erspart und lieber ein paar Ergebnisse abgewartet.«

»Kann ich mir vorstellen. Aber Sie wissen doch, wie es läuft. Lassen Sie ihn erst mal Dampf ablassen, dann erzählen Sie ihm irgendwas, damit er gleich ein paar Häppchen für die Pressekonferenz hat.«

Kießling drehte seinen Kopf blitzschnell zu Frau Kern und fragte entsetzt: »Pressekonferenz? Davon hat keiner was gesagt.«

Die Sekretärin verzog das Gesicht. Ihr war klar, dass ihr Chef Kießling davon nichts erzählt hatte. Indem er den leitenden Kommissar zu sich zitierte, hatte er die Möglichkeit, den Kommissar mit zu den Pressevertretern zu nehmen und konnte sich so selbst aus der Affäre ziehen.

»Oh, Herr Kießling, das tut mir leid. Sie haben mein Mitgefühl. Ich muss jetzt leider weiter, habe mir extra ein paar Akten geschnappt und verschwinde jetzt ins Archiv. Da ist es heute wesentlich ruhiger. Hals- und Beinbruch.«

Frau Kern verschwand mit diesen Worten ins besagte Kellerarchiv. Kießling wandte sich zu Ella und sagte: »Komm, lass uns verschwinden. Wir rufen den Staatsanwalt von unterwegs an und sagen, wir haben dringende Hinweise erhalten, denen wir nachgehen müssen. Den Pressemist tue ich mir nicht an.«

Ella zögerte einen Moment, war aber dann bereit, Kießlings Vorschlag in die Tat umzusetzen. Zu allem Unglück kam es nicht so weit. Die Fahrstuhltür im Foyer öffnete sich und Staatsanwalt Koch kam schnellen Schrittes heraus. Sofort nahm er Blickkontakt mit dem Kommissar auf.

»Kießling, da sind Sie ja endlich!«, rief er in lautem Ton durch die Eingangshalle.

Der Kommissar drehte sich kurz zu Ella und flüsterte: »Als hätte er es gerochen.«

Dann wandte er sich Staatsanwalt Koch zu und rief: »Herr Staatsanwalt, tut uns leid, dass wir etwas spät sind, aber die Ermittlungen in dem Fall erfordern unsere ganze Aufmerksamkeit. Wenn Sie erlauben, werden wir die ersten Erkenntnisse später präsentieren.« Er machte eine kurze Pause, überlegte, zog sein Mobiltelefon aus der Tasche und fuhr fort: »Dr. Berger hat gerade mit dringlichen Neuigkeiten angerufen. Wir müssen sofort los.«

Auf das Manöver fiel der Staatsanwalt nicht herein.

»Das können Sie vergessen, hiergeblieben! Sie kommen erst mit mir vor die Presse. Die Neuigkeiten vom Berger können Sie danach abholen, dann haben wir wenigstens noch etwas Futter in der Hinterhand. Was haben Sie für den Moment?«

Kießling atmete resigniert aus und berichtete Staatsanwalt Koch von den ersten Erkenntnissen, die sie vorhin in der Pathologie erhalten hatten. Dazu kamen die Verbindungen zum Fund der Leiche, von Weinkönigin Serafina, am Grauen Haus in Oestrich-Winkel. Der Staatsanwalt lauschte den Worten des Kommissars aufmerksam. Dabei hielt er seine Hand zur Faust geballt vor seinen Mund und nickte permanent. Er wirkte nicht zufrieden. Nachdem Kießling seine Ausführungen beendet hatte, schnaufte Koch wie ein Stier, der kurz vor seinem Auftritt in der Arena steht.

Er polterte los. »Und mit dieser Schauergeschichte soll ich jetzt vor die Presse treten?«

Ein vorwurfsvoller Unterton war deutlich herauszuhören. Er schnauzte weiter: »Was ist mit verdächtigen Personen, handfesten Fakten? Mit dieser abenteuerlichen Geschichte von einer toten Weinkönigin und einem Fetzen, auf den ihr Name draufgeschmiert ist, kann ich doch nicht arbeiten. Was hat denn Dr. Berger bis jetzt herausgefunden?«

»Wir warten noch auf die Ergebnisse. So schnell geht das auch nicht«, verteidigte sich Kießling.

»Wie dem auch sei. Die Geschichte können Sie jetzt vor der Presse erzählen. Ich musste heute schon den ganzen Tag gefühlt jedem Politiker, der hier was zu sagen hat, Rede und Antwort stehen. Mein Soll ist erfüllt.«

Mit diesen Worten packte der Staatsanwalt den Kommissar am Arm und schleifte ihn in den Presseraum, der bereits prall gefüllt mit Medienvertretern war. Ella hielt sicheren Abstand und blieb am Eingang des Raumes in der Tür stehen. Sie versuchte, Kießling mit ihren Blicken moralische Unterstützung zu senden.

Staatsanwalt Koch begrüßte die Presse und kündigte nach ein paar einführenden Worten umgehend Kommissar Kießling als Leiter der Ermittlungen an. Dieser rollte nur die Augen und gab sich alle Mühe, die wenigen Fakten gut verpackt an die Pressemeute zu geben. Nach seiner Erklärung rollte ein Bollwerk an Fragen auf ihn zu. Wie schon dem Staatsanwalt zuvor konnte er zu den erwarteten Fragen nach Verdächtigen oder neuen Erkenntnissen keine Antworten präsentieren. Der Presse schmeckte es gar nicht, dass sie relativ wenig Futter bekamen. So wurde es im Saal immer lauter und nach kurzer Zeit herrschte ein wahlloses Durcheinander. Kießling hatte genug. Mit lauter Stimme versuchte er sich Gehör zu verschaffen und vertröstete die Presse auf die nächsten Tage, wo es mit Sicherheit mehr zu berichten gibt. Mit einem heftigen Ruck schob er seinen Stuhl zurück, stand auf und ging schnellen Schrittes durch den Raum zu Ella. Er packte seine Assistentin am Arm und zog sie auf den Gang hinaus.

»Lass uns schnell verschwinden, bevor der Koch auch noch rauskommt. Der kann sich jetzt weiter mit diesen Schmierfinken rumschlagen.«

Der Staatsanwalt schaute Kießling vorwurfsvoll hinterher, hatte aber alle Hände voll zu tun, wieder Ordnung ins Chaos zu bringen. Nichts für Kießling. Der beeilte sich, um mit Ella schnell die Kurve zu kratzen. Auf dem Parkplatz sprangen sie ins Auto, knallten die Türen zu und atmeten erst mal durch.

»Meine Güte, ich hasse diese Presseleute. Können die uns nicht einfach mal unsere Arbeit machen lassen?«, schimpfte Kießling.

Ella kommentierte nicht, stimmte aber kopfnickend zu. Der Kommissar wollte gerade den Schlüssel rumdrehen, um den Motor zu starten, da klingelte sein Handy. Ein Anruf von Dr. Berger wurde angezeigt. Schnell nahm Kießling das Gespräch an.

»Was gibt’s, Doc?«, eröffnete er das Gespräch.

Dr. Berger intervenierte sofort. »Können Sie mich bitte nicht mit Doc ansprechen? Das ist respektlos. Ich nenne Sie doch auch nicht Bulle!«

Kießling brummelte genervt ins Telefon zurück: »Jetzt stellen Sie sich doch nicht so an. Ich musste gerade einen Affentanz mit Staatsanwalt und Presse ertragen.«

»Ist ja gut«, beruhigte Dr. Berger. »Also, die Ergebnisse aus der DNA-Analyse sind da.«

»Und?«, fragte Kießling neugierig.

»Nichts. Keine Übereinstimmung. Wie geht’s jetzt weiter?«

Der Kommissar überlegte kurz und resignierte.

»Ich hab’ keine Ahnung. Lassen Sie uns für heute Feierabend machen. Ich muss den Tag erst mal sacken lassen. Morgen wird’s schon irgendwie weitergehen.«

Ohne sich zu verabschieden, legte Kießling auf. Ella blickte ungläubig zu ihm rüber.

»Echt? Jetzt Feierabend?«

»Jo, fahr mal du zu deinem Arnold, grüß schön und macht euch einen entspannten Abend.«

»Und was machst du?«, fragte Ella.

Kießling zögerte mit seiner Antwort und überlegte. Er zuckte mit den Schultern und antwortete: »Keine Ahnung. Am besten setze ich mich auf mein Moped und blas mir den Kopf frei.«

Gesagt, getan. Der Kommissar lieferte Ella bei ihrem Auto ab, stieg auf seine Harley, die noch vor Dr. Bergers Pathologie parkte, und donnerte in Richtung Rheingau.