Wohltuende Zweisamkeit

N ach einem kurzen Halt zu Hause machte sich Ella auf den Weg zu ihrem geliebten Winzer Arnold. Dieser war noch fleißig in einem seiner Weinberge zugange und daher wollte Ella ihn mit einem kleinen Picknick überraschen. In ihrer Wohnung packte sie ein paar Kleinigkeiten zum Essen und eine Flasche Rotwein ein. Sie hoffte auf ein paar ruhige Stunden, da die aufwühlenden Ereignisse nicht spurlos an ihr vorübergingen. Auf dem Weg nach Lorch kam sie am Oestricher Weinverladekran vorbei. Die Polizeiabsperrungen waren noch immer aufgebaut. Ihre Gedanken kreisten unweigerlich um den schaurigen Anblick, wie die Leiche an einem Strick dort oben gebaumelt hatte. In der Vergangenheit hatte sie schon einige Verbrechen und gefährliche Momente erleben müssen, doch dieser Fall barg eine erschreckende Note in sich. Die Polizistin in ihr fand keine Ruhe, und immer wieder fragte sich Ella, was in einem Menschen vorging, der zu solch einer Tat fähig war. Was trieb ihn dazu an? Auf der Polizeischule wurde ihnen immer wieder eingetrichtert, sich die Taten aus Sicht der Täter vor Augen zu führen. Für einen Außenstehenden wohl eine logische Vorgehensweise, doch für die ermittelnden Beamten eine grauenvolle Vorstellung. Sie erlebten hautnah die Tatorte, kamen in direkten Kontakt mit den Opfern. Dies barg eine völlig andere Qualität der Wahrnehmung. Es bedurfte viel Training und Willensstärke, sich diesen Situationen immer wieder auszusetzen. Trotz ihrer guten Ausbildung und starker Persönlichkeit hinterfragte sie bei jedem schwierigen Fall, ob es das alles wert war, sich dieser psychischen Belastung immer aufs Neue auszusetzen. Ihr Sinn für Gerechtigkeit und der Wunsch um mehr Sicherheit für die Menschen beantwortete ihr allerdings immer wieder diese schwierige Frage. Es würde sie weitaus mehr quälen, wenn ein Verbrecher davonkäme und sie nichts getan hätte. Ein weiterer, großer Rückhalt war immer Kießling, der in jeder Situation bedingungslos hinter ihr stand. Mit Hilfe seiner breiten Schultern ließ sich so manches Gewicht besser tragen.

Der Tatort lag nun einige Kilometer hinter ihr und rückte auch in ihren Gedanken in weite Ferne. Die Vorfreude auf einen schönen Abend mit ihrem Arnold erhellte das Gemüt der Polizistin. Angekommen in Lorch fuhr sie durch die schmalen Wege in die Weinberge hoch. Der Blick von hier oben zauberte immer wieder ein Gefühl des Friedens in ihr Herz und der Kopf kam zur Ruhe. Der Rhein floss kraftvoll durch das Tal und schien alle Sorgen mit sich zu nehmen.

Sie drosselte die Geschwindigkeit und blickte sich nach Arnold um. Schnell erkannte sie seinen Traktor, der am Fuße eines Weinbergs parkte. Sie stellte den Wagen ab, holte den Picknickkorb aus dem Kofferraum und ging ein paar Schritte. Dabei schaute sie prüfend in die Weinbergzeilen, bis sie Arnold entdeckte. Der war derart in seine Arbeit vertieft, dass er Ella nicht bemerkte. Vorsichtig schlich sie sich heran, stellte sich unten an die Zeile und wartete, bis Arnold Notiz von ihr nahm. Sobald er seine Freundin erblickte, begannen seine Augen zu strahlen. Er hatte heute Abend nicht mehr mit ihr gerechnet. Freudig überrascht ließ er umgehend seine Arbeit ruhen und joggte schwungvoll die Zeile hinunter. Dann schloss er Ella in die Arme und drückte ihr einen innigen Kuss auf die Lippen.

Erfreut über die schöne Begrüßung sagte Ella aus der Umarmung heraus: »Wow, nicht so stürmisch. Als hätten wir uns wochenlang nicht gesehen.«

Arnold lachte und entgegnete: »Ich hatte befürchtet, dass wir uns bei eurem schrägen Fall wieder länger nicht sehen, da ihr mit Sicherheit über beide Ohren in Arbeit steckt. Von daher ist dir die Überraschung gelungen.«

Ella hob den Picknickkorb an und präsentierte ihn ihrem Arnold.

»Da hast du nicht unrecht, von daher hab ich uns bisschen was zum Genießen eingepackt.«

Arnold schielte in den Korb und ließ seine Vorfreude erkennen.

»Du hast ja an alles gedacht. Na dann mache ich jetzt Feierabend und wir suchen uns ein kuscheliges Plätzchen.«

Der Winzer schnappte sich, ganz Gentleman, den Picknickkorb, nahm Ella an die Hand und sie gingen zu einer kleinen versteckten Lichtung, die zwischen den Weinbergen lag. Ella hatte gut vorgesorgt und neben einer Decke für den Boden eine weitere zum Zudecken mitgebracht, da es zur fortgeschrittenen Stunde etwas kalt werden konnte. Sie breitete die Decke aus und die beiden ließen sich genüsslich auf den Boden sinken. Arnold ließ keine Zeit verstreichen. Er nahm Ella sofort in den Arm und sie versanken in leidenschaftlicher Zweisamkeit. Sanft strich Arnold durch Ellas Haare. Sie umklammerte seinen Hals, zog Arnold immer fester an sich heran. Mit jeder Sekunde, die um sie herum verstrich, verschwanden die Gedanken rund um den Fall. Immer wieder ließen sie kurz voneinander ab und schauten sich tief in die Augen. Der Duft des anderen ließ sie immer weiter in eine Welt fernab der Realität eintauchen.

Mit der Zeit setzte die Dämmerung ein. Arm in Arm lagen Ella und Arnold auf dem Boden, ein Stück weit zugedeckt, mit Blick in den Himmel.

»Könnte das nicht jeden Tag so sein?«, seufzte Ella.

Arnold überlegte kurz, was er entgegnen könnte. Er genoss den Moment zu sehr und wollte sie beide nicht so schnell wieder in die Realität zurückholen.

Er drehte den Kopf zu Ella und murmelte: »Jetzt sind wir hier und alles andere ist egal.«

Ella lächelte verschmitzt, richtete sich nach einem kurzen Moment auf und zog die Flasche Rotwein aus dem Korb.

»Dann sollten wir darauf anstoßen.«

Sie gab Arnold die Flasche, wühlte noch einen Korkenzieher aus dem Picknickkorb und reichte ihm das Werkzeug. Der Winzer drehte gekonnt den Öffner in den Korken der Flasche und zog diesen mit einem lauten Ploppen heraus. Ella reichte Arnold zwei Gläser und dieser füllte diese großzügig mit dem guten Tropfen. Sie erhoben die Gläser und ließen diese sanft aneinander klingen.

Kurz nachdem die Gläser ausgeschwungen hatten und sie den ersten Schluck nehmen wollten, knirschte der Boden hinter ihnen. Ella schreckte auf und ließ reflexartig das Glas sinken. Jemand schien sich zu nähern und der warnende Instinkt der Polizistin war erwacht. Arnold drehte sich ebenfalls um und schaute prüfend auf die Umgebung.

»Da ist jemand!«, flüsterte Ella. Eine beunruhigende Spannung kam in den beiden auf. Sie hatten beide schon zu viel erlebt, sodass schnell die Alarmglocken schrillten, wenn eine unerwartete Situation eintrat. Ella überlegte kurz, wo ihre Dienstwaffe war. Schnell wurde ihr klar, dass diese im Kofferraum ihres Autos lag.

Die Schritte kamen näher. Sie waren sehr dicht und rührten nicht vom Weg, der oberhalb des Weinberges lag. Jemand schien um die Lichtung herumzuschleichen. Ella und Arnold folgten mit ihren Blicken den Geräuschen, die von zerbrechenden Zweigen unter schwerem Schuhwerk herrührten. Schützend schob sich Arnold vor Ella. Die Schritte stoppten, eine Hand kam durch die Sträucher der Lichtung und schob die Äste beiseite. Die Anspannung stieg in beiden immer höher. Plötzlich schob sich ein Kopf durch die entstandene Öffnung. Ella griff nach einem Stein, machte sich wurfbereit, ließ diesen aber schnell wieder sinken, nachdem sie das Gesicht des unerwarteten Besuchers erkannte.

»Ei Gude, ihr zwei! Hab ich doch rischtisch gehört, dass jemand eine Weinflasch’ aufgezohe’ hat, gefolgt von einem einladenden Gläserklingen«, hallte es aus dem Mund von Willi, der jetzt vollends auf der Lichtung stand.

Die Anspannung fiel von Ella und Arnold ab. Durch die Aufregung des neuen Falls kam unweigerlich eine vereinnahmende Vorsicht in ihnen auf, die durch den unerwarteten Besuch noch verstärkt wurde.

»Mein Gott, Willi, du hast uns aber einen gehörigen Schrecken eingejagt«, sagte Arnold, immer noch von der Aufregung gezeichnet.

»Oh, das tut mir jetzt aber leid, ich wollt’ euch zwei Turteltäubchen nit erschrecke’. Aber ich dacht’ mir schon, dass ihr das seid.«

»Wie kamst du denn darauf?«, wollte Ella wissen.

»Ei, die Lichtung is’ direkt am Arnold seinem Weinberg und wenn do en Flasch’ Wein ploppt, kann das ja wohl nur mein lieber Nachbar mit seiner bezaubernden Freundin sein.«

Dabei setzte Willi ein schelmisches Grinsen auf. Ella und Arnold mussten unweigerlich lachen. Zwar hatte der Rentner ihre romantische Zweisamkeit jäh unterbrochen, doch ihm konnte man einfach nicht böse sein.

»Komm her, du alter Zausel«, rief ihm Arnold scherzhaft entgegen.

Ella zog ein drittes Glas aus dem Picknickkorb und sagte: »Als ob ich es geahnt hätte, hab ich noch ein Ersatzglas dabei.«

Willi lachte und setzte sich zu den beiden auf die Decke.

»Na siehste wohl, ich muss mich schon gar nit mehr ankündige’. Sobald ein gutes Tröpfche’ aufgezohe’ wird, steht ein Glas für mich bereit.«

Ella schenkte ihm ein und die drei ließen die Gläser erneut erklingen. Willi konnte seine Neugierde nicht unterdrücken und erkundigte sich nach den Geschehnissen rund um den Fall. Ella druckste etwas herum. Ihr stand nicht der Sinn danach, sich wieder mit den Vorfällen auseinanderzusetzen. Sie war froh, dass diese Gedanken weitestgehend verflogen waren. Kurz und knapp erzählte sie ein paar Einzelheiten. Willi bemerkte, dass die Ereignisse der jungen Polizistin sehr nahe gingen und so lenkte er schnell wieder vom Thema ab.

»Lass gut sein. Hier in dem scheene Weinberg müsse’ mir nit über so unerfreuliche Krempel schwätze’. Der Kießling kann sich heut’ Abend damit rumschlage’. Wo is’ der eigentlich?«

Ella zog die Schultern hoch und antwortete: »Der ist vorhin auf seine Harley gestiegen und wird sicher irgendwo eingekehrt sein.« Dann grinste sie und erwähnte die Pressekonferenz. »Unser Staatsanwalt hat ihm übel mitgespielt und vor die Presse gezerrt.«

Willi amüsierte die Vorstellung. Er kannte den Kommissar mittlerweile gut und wusste, dass ihm diese Tortur sicher nicht schmeckte. »Ha, da hat ihm euer Staatsanwalt aber ein Ei ins Nest gelegt. Darüber hat sich unser Superbulle doch sicher gefreut wie ’en Bub im Sandkaste’.«

»O ja, da bin ich sicher«, ergänzte Arnold und nippte an seinem Rotwein.

Willi hob sein Glas und sprach Ella Mut zu.

»Denk’ immer dran, zusamme’ habe mir damals so einem ganze kriminelle’ Orden das Handwerk gelegt. Der jetzt do’ sein Unwese’ treibt, wird sich wünsche’, niemals gebor’n worde’ zu sein, wenn ihr dem erst mal auf de’ Fersen seid!«

Damit spielte er auf den vergangenen Fall in Lorch an, wo sie gemeinsam einer Schar von Verbrechern das Handwerk gelegt hatten. In der Tat schenkte der Gedanke an diesen gefährlichen Fall Ella neuen Mut. Ihr wurde wieder klar, wozu sie gemeinsam im Stande waren und dass sie sich immer auf ihre Freunde verlassen konnte.

»In diesem Sinne«, sagte Ella und stieß mit Arnold und Willi auf einen hoffentlich ruhigen sowie entspannten Abend an.