Kein Feierabend
I m Gegensatz zu seiner Assistentin Ella schaffte es Kießling nicht, einen Ort der Ruhe zu finden. Normalerweise trieb ihm eine entspannte Runde auf seiner Harley die Gedanken an die Arbeit aus dem Kopf. Nicht dieses Mal. Er drehte einen Schlenker durch den Rheingau und kam zwangsläufig am letzten Tatort, dem Weinverladekran vorbei. Sofort war er wieder voll im Ermittlungsmodus. Ständig kamen die bereits bekannten Fakten des Falles in ihm hoch. Er fuhr zum Grauen Haus, stellte seine Maschine vor dem historischen Gebäude ab und starrte konzentriert auf die Stelle, an der Serafinas Skelett ausgegraben worden war. Vor seinem inneren Auge liefen Szenarien ab, was damals passiert sein könnte und wie diese Ereignisse mit denen von heute zusammenpassten. Sein Fokus lag auf der Person Anton Gerber. Angenommen, er war damals für Serafinas Verschwinden verantwortlich, was bewegte ihn Jahrzehnte später dazu, einen derart grauenvollen Mord zu begehen und die Leiche zu allem Überfluss auch noch so öffentlichkeitswirksam zu präsentieren? Diese Frage war schwer zu beantworten. Zudem hatten sie bis dato keine Hinweise auf die Identität des Toten. Vielleicht gäben diese mehr Aufschlüsse auf die Motive der Tat und brächten ein paar Antworten.
Es wurde kühl. Ein frischer Wind blies dem Kommissar um die Ohren. Kießling rieb sich die Hände und stapfte zurück zu seiner Harley. Er hielt kurz inne und sah sich um. Der Polizist hatte keine Lust, jetzt nach Hause zu fahren und grübelnd auf der Couch zu liegen. Im Büro wäre es nicht besser. Manchmal half es, auf die Arbeit zu fahren und über die Fakten des Falles zu sinnieren. Allerdings lagen die einzigen Fakten bei Dr. Berger in der Pathologie und mehr hatten sie zu diesem Zeitpunkt einfach nicht. Kießling blickte die Straße hoch. Einige Straußwirtschaften reihten sich dort aneinander und er entschied sich für klassische Polizeiarbeit. Unters Volk mischen und schauen, was bei den Einheimischen zu erfahren war. Häufig waren dies die Schlüsselmomente für unerwartete Erkenntnisse. Er schob sein Motorrad auf einen nahe gelegenen Parkplatz und sperrte das Lenkerschloss ab. Da er jetzt die Intention hatte, vor Ort ein paar Ermittlungen anzustellen, wäre es sicherer, die Harley stehen zu lassen. In einer Straußwirtschaft floss auch gern das ein oder andere Gläschen Wein. In dieser Weise wäre das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden. Kießling stapfte die Straße hoch. Je näher er der Gaststätte kam, desto lauter wurde der Geräuschpegel. Die Stimmen der Gäste waren bereits aus der Ferne zu vernehmen. Schon an der Eingangstür duftete es nach leckerer Hausmannskost und uriger Gaststube. Allein dieser Geruch hellte sein Gemüt etwas auf.
Er trat ein. Es war angenehm warm. Kießling zog seine dicke Lederjacke aus und warf diese schwungvoll über seinen Rücken. Den Helm hatte er unter seinen Arm geklemmt. Die Gaststube war voll, jeder Tisch besetzt. Ein lautes Geschnatter erfüllte den Raum. Das Gesprächsthema schien überall gleich zu sein. Es ging natürlich um den Toten vom Kran und den Fund von Weinkönigin Serafina. Der Kommissar schaute sich um und suchte einen freien Platz. Schnell wurde er von ein paar älteren Herren an einem runden Tisch in der Mitte des Lokals erkannt.
»Guck’ ehmo do, des ist doch der Kommissar. Komme’ Sie bei uns, mir schwätze auch grad über Ihren Fall!«
Kießling überlegte nicht lange und gesellte sich zu dem Altherren-Stammtisch. Ihm war klar, dass die Herren vornehmlich die Neugier antrieb und sie hofften, über den Polizeibeamten brandaktuelle Neuigkeiten zu erfahren. Dies störte ihn allerdings nicht. Geben und Nehmen war schon immer ein hilfreiches Gebot bei der Polizeiarbeit. So würde er die Herrschaften mit ein paar unwichtigen Fakten füttern und hoffte im Gegenzug auf den ein oder anderen Gedankenblitz aus der Mitte der Einheimischen.
Der Kommissar stand sofort im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Eine ganze Reihe von Fragen prasselte auf Kießling ein. Er versuchte, seine Antworten oberflächlich auszuführen und nicht so sehr auf Details einzugehen. Nach der anfänglichen Fragerunde und ein paar Gläsern Wein plätscherte das Gespräch weiter dahin und es wurden bahnbrechende Verschwörungstheorien diskutiert. Viel sinnvoller Inhalt war nicht dabei, aber Kießling hörte dennoch aufmerksam zu. Ein Stichwort erregte sofort seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Der Name Anton Gerber kam auf den Tisch. Alle Anwesenden waren sich einig, dass dieser Kerl was damit zu tun haben musste.
Kießling fragte nach: »Der Name ist in den letzten Tagen häufig gefallen. Er war damals Serafinas Freund gewesen?«
Ein Raunen ging durch die Gruppe. Ein Herr aus der Runde führte aus: »Jo, der hat die Serafina damals umgarnt. Konnt’ keiner verstehen, warum gerade der.«
»Wieso? Weil er aus ärmlichen Verhältnissen stammte und Serafina Tochter eines gut betuchten Winzers war?«
Ein anderer Gast übernahm: »Ach, wenn’s nur das gewese’ wär. Dass einer aus der Arbeiterschicht ein reiches Mädche’ bekomme’ hat’, kam ja öfters vor. Aber der Kerl war einfach nit sauber. Immer Ärger und Schlägereien. Ständig die Polizei im Haus.«
Kießling überlegte, sammelte ein paar Gedanken und fuhr dann fort: »Aber was hat sie nur an dem gefunden?«
»Das könne’ mir Ihne auch nit sage’. Das hat die Serafina wohl mit ins Grab genomme’.«
»Ja, im wahrsten Sinne des Wortes«, resümierte der Kommissar.
»Dann waren da auch noch die Brände. Erst am Grauen Haus und später in der ganzen Stadt«, ergänzte der Gast.
Kießling horchte auf.
»Ja, meinen Sie, dass Gerber was damit zu tun hatte?«
»Ei, wer dann sonst? Erst hat der die Serafina umgebracht, verscharrt, dann das Graue Haus angezündet und später halb Winkel abgefackelt. Der war verrückt!«
In Kießling ratterten die Gedanken. So, wie die Einheimischen Anton Gerber beschrieben und charakterisierten, wäre diese These nicht abwegig. Jetzt musste er nur noch klären, wie die Verbindung zu dem Toten am Oestricher Kran zustande kam. In jedem Fall rückte Anton Gerber jetzt vollends in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Die Gespräche mit den Winklern waren genau der Motivationsschub, den er jetzt gebraucht hatte. Der Kommissar hob sein Weinglas und bedankte sich bei den Herren für die wertvollen Informationen. Diese waren natürlich begeistert, einen Beitrag zu den Ermittlungen geleistet zu haben. Mit einem kräftigen Schluck trank Kießling das Weinglas leer, stand auf, bezahlte seinen Deckel und ging vor die Tür. Er zückte sein Handy und wählte die Nummer von Dr. Berger. Es klingelte und nach ein paar Sekunden hob der Pathologe ab.
»Herr Kießling, haben Sie mal auf die Uhr geschaut? Ich habe Feierabend.«
»Keine Zeit für Feierabend, Doktor, wir müssen unbedingt die Identität des Opfers klären, haben Sie schon etwas von der DNA-Analyse gehört?«
Dr. Berger wurde ärgerlich. Selbstverständlich hätte er den Kommissar umgehend informiert, wenn er die Informationen bekommen hätte.
»Nein, Herr Kießling. Sie wissen doch – das dauert!«
Kießling wusste um das Pflichtbewusstsein von Dr. Berger, doch trieb ihn seine neu erlangte Motivation unaufhaltsam an. Er hatte sich bei Anton Gerber auf einen Verdächtigen festgelegt. Der Drang, den Zusammenhang zwischen Serafinas Tod, den Bränden und dem Leichnam vom Kran zu klären, ließ ihn nicht mehr los.
Er schnaufte und nahm das Gespräch mit dem Pathologen wieder auf.
»Ist ja gut, ich weiß um die Geschwindigkeit unserer Laborratten, aber …«
Kießlings Aufmerksamkeit wurde abrupt vom Gespräch mit Dr. Berger abgelenkt. Ein beißender Geruch drang in seine Nase, der ihm den Atem verschlug.
Dr. Berger war irritiert am anderen der Leitung, warum Kießling das Gespräch unterbrach. Er fragte nach: »Herr Kommissar? Sind Sie noch dran?«
Kießling blickte sich um und versuchte, die Ursache dieses Gestanks zu ergründen. Ein Schock durchfuhr den Kommissar. Ein paar Straßen weiter schlugen Flammen aus der Mitte der Gemeinde und eine dicke, schwarze Rauchwolke verdeckte den Nachthimmel. In diesem Moment sprangen die Feuersirenen in Winkel an und durchzogen den Ort mit einem ohrenbetäubenden Lärm.
»Ach du Scheiße«, murmelte er noch in sein Mobiltelefon und ließ dieses langsam sinken. Aus der Straußwirtschaft kamen die Gäste heraus und blickten ebenfalls schockiert auf die Flammen.
Aus dem Lautsprecher von Kießlings Handy kamen immer noch Rufe von Dr. Berger, der wissen wollte, was vor sich ging. Der Kommissar schenkte diesen keine Beachtung mehr. Er schob das Telefon in seine Tasche und rannte wie besessen in Richtung des Feuers.