Heldenhafter Kiessling
D ie wenigen hundert Meter zum Brand überwand der Kommissar in einem ungewohnt hohen Tempo. Den ganzen Abend war er im Element des Falles gewesen, hatte über Verdächtige und die Vergangenheit nachgedacht. Die Einheimischen hatten ihm von den Feuern berichtet, die vor vielen Jahren die Menschen in Angst und Schrecken versetzt hatten. Konnte das ein Zufall sein, dass genau in diesem Moment ein Feuer in Winkel ausbrach? Es war dieser Gedanke, der Kießling zur sportlichen Höchstleistung antrieb. Sein berühmtes Bauchgefühl signalisierte ihm, dass dieses Feuer Teil von all dem war, was hier vorfiel.
Der Kommissar erreichte den Brand. Die ersten Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr rollten ebenfalls mit großem Getöse an den Ort des Geschehens. Ein altes Gebäude krachte und knirschte in der Hitze des Feuers. Das Haus musste viele hundert Jahre alt sein. Die Flammen schlugen unaufhaltsam aus den Fenstern und loderten aus dem hölzernen Dachstuhl. Der Qualm, der sich in den Gassen verteilte, nahm ihm die Luft zum Atmen. Kießling hielt sich ständig den Arm vor Mund und Nase, um nicht zu viele der beißenden Dämpfe einzuatmen. Immer wieder versuchte er, näher heranzugehen, doch wurde er von der brutalen Hitze zurückgedrängt. Die eingetroffenen Feuerwehrleute sicherten alles ab und rollten ihre Schläuche aus. Kießling wies sich als Polizeibeamter aus und durfte so vor Ort bleiben. Er passte allerdings auf, dass er die Feuerwehr in ihrer Arbeit nicht behinderte. Das Löschen des Brandes in dieser schmalen Gasse war definitiv eine Herausforderung. Die Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr konnten sich lediglich hintereinander aufstellen. Es war kaum Platz, um das Einsatzequipment vernünftig aufzubauen. Zu den Hauswänden rechts und links war fast kein Abstand, sodass sich die Feuerwehrleute stark konzentrieren und noch besser organisieren mussten, um unter diesen Umständen den Brand in den Griff zu bekommen. Kießling konnte nicht wirklich helfen. Seine laienhaften Fähigkeiten eines Feuerwehrmannes, die er in einem kurzen Gastspiel bei der Jugendfeuerwehr aufgeschnappt hatte, langten gerade mal dafür, ein Lagerfeuer zu löschen. So machte er sich nützlich, neugierige Passanten zurückzudrängen, damit diese nicht zusätzlich den knappen Platz stahlen.
Während er der Feuerwehr Platz verschaffte, fragte er einen der Zuschauer: »Was ist das für ein Gebäude?«
Der Herr antwortete: »Ich kann Ihnen nicht sagen, was da früher drin war, aber heute ist es ein Bürogebäude.«
Der Kommissar nickte und blickte wieder auf das brennende Haus. Seine Aufmerksamkeit richtete sich allerdings schnell auf einen jungen Mann, der panisch zwischen die Feuerwehrautos rannte.
Er schrie aus voller Kehle: »Da ist noch jemand drin. Bitte helfen Sie, meine Frau ist in dem Gebäude.«
Die Feuerwehrleute versuchten, den jungen Mann zu beruhigen, da er in seiner großen Panik die Löscharbeit behinderte.
Ein Mitglied der Einsatzleitung versuchte Informationen aus dem Mann herauszubekommen. Kießling kam dazu, wollte helfen.
»Sie sagen, Ihre Frau ist noch in dem Gebäude? Wie kommen Sie darauf?«
Der Mann versuchte, sich zu fassen, schnappte nach Luft.
»Kurz bevor der Brand losging, haben wir telefoniert. Sie sagte, hier riecht es aber komisch nach Benzin. Danach schrie sie auf und das Gespräch war vorbei.«
»Benzin?« Kießling horchte auf. Er zog den Mann am Arm heran. »Sind Sie sicher, dass Ihre Frau Benzingeruch wahrnahm?«
»Ja, das sagte ich doch!«
Kießlings Kiefer fiel nach unten, der Mund öffnete sich. Es war tatsächlich so, wie sein Bauchgefühl ihm sagte. Das hier war Brandstiftung, und es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn dies nicht mit Serafina und dem Toten vom Kran zusammenhing. Dennoch war das jetzt nebensächlich. Sollte noch eine junge Frau in dem Gebäude sein, war schnelles Handeln gefragt. Der Kommissar wandte sich wieder dem Mann zu.
»Was meinten Sie damit, sie schrie? Eventuell, als Ihre Frau das Feuer sah?«
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Es war seltsam, so als hätte irgendwas oder jemand sie erschreckt und dann war die Leitung sofort tot.«
Kießling hatte umgehend einen schlimmen Verdacht. Die Frau war in jedem Fall zur falschen Zeit am falschen Ort. Er hatte keine Zweifel mehr, dass es sich um Brandstiftung handelte. Die Frau hatte, seiner Theorie nach, lange gearbeitet, und war daher zu dieser späten Stunde noch im Büro. Der oder die Brandstifter werden es wohl nicht mitbekommen haben und wurden ebenfalls von der Anwesenheit der Frau überrascht, als er oder sie den Brand legen wollten.
»So tun Sie doch etwas«, schrie der Mann wieder voll aus seinem Panikmodus heraus.
Die Frau aus der Einsatzleitung versuchte, dem Mann zu erklären, dass sie alles tun würden, was in ihrer Macht stand. In dem brennenden Gebäude gab es jedoch keinen Hinweis auf die Frau. Sie konnte nicht das Leben ihrer Leute gefährden, indem sie diese auf Verdacht in ein Haus schickte, dass wahrlich jeden Moment drohte, zusammenzukrachen. Das alte Fachwerk ließ von außen darauf schließen, dass viel Holz in dem Gebäude verbaut worden war und damit büßte es bei einem Brand schnell die Stabilität ein.
Doch plötzlich hallte ein Schrei zu ihnen auf die Straße.
»Hilfe!«, war laut und deutlich zu vernehmen.
»Meine Frau!«, schrie der Mann in panischer Angst und wollte schon in Richtung brennendes Gebäude losstürmen. Ein Feuerwehrmann hielt ihn fest. Ohne Schutzkleidung und Atemausrüstung käme es seinem Todesurteil gleich, in das Gebäude zu rennen. Kießling hingegen nahm den Schrei als Initialzündung. Er rannte zu einem Einsatzfahrzeug und riss eine feuerfeste Jacke an sich. Dazu schnappte er sich einen Helm und rannte auf die Eingangstür des Gebäudes zu.
»Sind Sie wahnsinnig?«, rief die Einsatzleiterin dem Kommissar hinterher.
Mehrere Feuerwehrleute wollten ihm zur Unterstützung folgen, doch dieser war schon im brennenden Gebäude verschwunden. Sowie er das Haus durch die Tür betrat, stürzten hinter ihm mehrere brennende Balken von der vom Feuer zerfressenen Decke und versperrten den anderen Feuerwehrleuten den Weg. Für Kießling gab es kein Zurück, er war eingeschlossen. Draußen formierten sich die Feuerwehrleute, um sofort zur Stelle zu sein, wenn sie ein Lebenszeichen von den Eingeschlossenen erhielten.
Kießling schob sich Meter für Meter durch das Flammenmeer. Seinen Arm hielt er schützend vor sein Gesicht. Immer wieder versuchte er, auf sich aufmerksam zu machen.
»Hallo! Wo sind Sie?«, rief er, so laut er dazu im Stande war. Es war nicht einfach. Jedes Mal, wenn er den Arm zum Rufen herunternahm, schien es, als brenne ihm die unerträgliche Hitze die Haut vom Körper. Es war kaum möglich, zu atmen. Jeder Atemzug brannte in seinen Lungen. So langsam bekam es der gestandene Kommissar mit der Angst zu tun. Hatte er die richtige Entscheidung getroffen? Es lag in seiner Natur, ohne nachzudenken den Menschen zur Hilfe zu eilen. Das war auch damals ein Grund gewesen, dass er sich bereits in jungen Jahren für den Polizeidienst entschieden hatte. So edel dieses Motiv auch war, könnte es jetzt sein Todesurteil bedeuten. Die Gedanken an seinen eigenen Tod wurden schnell wieder vertrieben. Ein weiterer Hilferuf erreichte ihn. Viel schwächer als der, den sie auf der Straße vernommen hatten. Der Ruf schien aus dem Erdgeschoss gekommen zu sein, wo sich Kießling noch befand. »Gott sei Dank«, dachte er bei sich. Wäre der Ruf aus einem der oberen Stockwerke erklungen, wäre alle Hilfe zu spät gekommen. Die Treppe stand voll in Flammen.
Der Kommissar folgte dem Ruf.
Immer wieder rief er: »Wo sind Sie? Rufen Sie noch mal, ich komme zu Ihnen!«
Die leise und immer schwächer werdende Stimme kam mit jedem Schritt, den der Kommissar vor den anderen setzte, näher. Kießling blickte auf eine halb offene Tür, die zu einem der Büros führte. Die Stimme kam aus diesem Raum. Er bewegte sich schneller, rammte wuchtig mit der Schulter die Tür auf und sah eine am Boden liegende Frau. Sie blutete am Hinterkopf. Ohne viel nachzudenken, schnappte sich der Kommissar die Frau, nahm sie auf den Arm und blickte sich um. Wie konnten sie dem Flammenmeer entfliehen? Die Situation schien ausweglos. Um sie herum wurde es immer heißer, die Flammen rissen mehr und mehr den Raum an sich. Der plötzliche laute Knall von zerberstendem Glas zog sofort Kießlings Blicke an. Es war das Fenster und im selben Moment schossen von draußen Löschmittel in das brennende Büro. Die Feuerwehrleute vor dem Gebäude hatten Kießling und die Frau entdeckt. Das lebensgefährliche Manöver barg viele Risiken. Durch das zerschlagene Fenster hätte der Raum durch die plötzliche Sauerstoffzufuhr förmlich explodieren können. Doch die Feuerwehr musste dieses Risiko eingehen, um dem selbstlosen Kommissar und der Frau überhaupt eine Überlebenschance einzuräumen. Kießling schaltete blitzschnell und bewegte sich, so schnell es ihm möglich war, zu dem rettenden Fenster. Zwei Feuerwehrleute standen bereit und nahmen die völlig entkräftete Frau aus seinen Armen entgegen. Einer der Retter war soweit möglich, dem Kommissar durch das Fenster ein Stück weit entgegengekommen. Jetzt war Kießling dran. Er machte sich bereit, durch das rettende Fenster den Flammen zu entfliehen, wartete jedoch, bis der Weg durch die Rettung der Frau frei wurde. Doch es war zu spät. Über ihm knirschte es immer lauter. Das Holzgebälk gab nach. Der Kommissar blickte nach oben und sah die brennende Decke ihm entgegenkommen. Schnell machte er einen Schritt zurück, damit er nicht drohte, erschlagen zu werden. Die Feuerwehrleute mussten sich ebenfalls in Sicherheit bringen, da durch die zusammenkrachende Decke Flammen durch die Öffnung schlugen. Der Kommissar stand wieder inmitten des brennenden Raumes, gut zwei Meter von der rettenden Öffnung entfernt. Es blieb ihm nur noch eine Chance. Er nahm alles an Kraft zusammen, kniff die Augen zu, zog die feuerfeste Jacke ins Gesicht und rannte auf die Flammen zu, die ihm den Weg zum Fenster versperrten. Er spürte die Hitze, die sich durch seine Kleidung zu fressen schien. Der Kommissar spannte alle seine Muskeln an, stieß sich kräftig mit den Beinen ab und hechtete mit letzter Kraft durch den Rest des Fensters. Er landete unsanft auf dem Boden. Sofort kam ein Feuerwehrmann und warf eine Löschdecke über ihn. Mit vereinten Kräften zogen die Männer den Polizisten in Sicherheit. Schnell war ein Notarzt zur Stelle. Der Kommissar linste aus der Decke heraus, wusste nicht, ob er am Leben oder tot war. Im Augenwinkel erblickte er die Frau, die in den Armen ihres Mannes lag. Ihm wurde klar, dass seine waghalsige Tat Erfolg gehabt hatte und ohne ihn die Frau ein fürchterliches Schicksal ereilt hätte. Nachdem er diese Gewissheit verinnerlicht hatte, fielen ihm entkräftet die Augen zu und eine Ohnmacht übernahm die Oberhand in seinem Körper.