Keine Zeit fürs Krankenbett

A m nächsten Morgen im Rüdesheimer Krankenhaus öffnete Kommissar Kießling langsam seine Augen. Das durch das Zimmerfenster einfallende Licht blendete ihn, sodass er die Lider wieder zukniff. Er spürte jeden seiner Muskeln, ein unangenehmer Schmerz ließ ihn langsam zur Besinnung kommen. Leises Flüstern erfüllte den Raum. Der Kommissar versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Er schwirrte zwischen Traum und Realität. Lodernde Flammen gingen ihm noch durch den Kopf, doch das kühle Klima im Raum brachte ihm Gewissheit, dass er wohl dem Flammenmeer tatsächlich entkommen war. Der Polizist versuchte, einen Weg vollends zurück in die Realität zu finden. Er konnte nicht einordnen, ob das Geflüster real oder noch Teil seiner Träume war. Die Worte wurden lauter und für ihn verständlicher. Er spürte die Anwesenheit einer Person, die sich ihm näherte. Sie stand wohl jetzt genau an seiner Seite. Der Kommissar spürte eine Hand an seinem Rücken, die ihn behutsam auf seine linke Seite drehte. Er ließ es mit sich geschehen, die Kraft für eine Gegenreaktion fehlte ihm.

»Wer legt hier Hand an mich?«, fragte er sich. Während er in sich gekehrt grübelte, ereilte ihn ein schneller Stich.

»Auuuutsch!«, schrie er aus vollem Herzen und war umgehend geistesgegenwärtig.

»Jetzt stellen Sie sich mal nicht so an, Herr Kommissar, war doch nur ein kleiner Pikser«, sagte eine weibliche Stimme.

Kießling drehte sich um, die Augen waren mittlerweile weit aufgerissen, und er blickte in das Gesicht einer Krankenschwester.

Er fauchte: »Sind Sie wahnsinnig? Was war das?«

»Nur eine vorsorgliche Tetanusimpfung. Ist schon vorbei«, erklärte die Schwester.

Kießling antwortete, außer sich von der unsanften Weckaktion: »Das musste doch nicht sein, ich hatte die letzte vor zwanzig Jahren, sollte doch reichen, oder?«

Eine männliche Stimme aus dem Raum antwortete: »Mein lieber Kommissar, das kann nicht schaden. Außerdem hat die gute Fachkraft schon recht mit ihrer Bemerkung. Sie sind doch kein kleiner Junge mehr, der Angst vor einer Spritze hat.«

Kießling hörte den Sarkasmus sofort heraus und erkannte die Stimme. Dies konnte nur von Dr. Berger kommen. Kießling schaute nach vorn. Vor seinem Bett stand der Pathologe, grinsend wie ein kleines Kind. Flankiert wurde er von Ella, Arnold und Willi, die fast die ganze Nacht an seinem Bett ausgeharrt hatten, nachdem sie die Nachricht von dem Brand und Kießlings Aktion erhalten hatten. Selbst Dr. Berger hatte alles liegen gelassen, um dem Kommissar zur Seite zu stehen. Keiner wusste um seinen Gesundheitszustand und wie Kießling die Flammenhölle überstanden hatte. Umso erleichterter waren alle, als sie ihn, zwar völlig entkräftet, aber so gut wie unbeschadet vorfanden.

Mit Blick auf seine Freunde ereilte Kießling eine ganze Portion neue Lebenskraft. Die Erinnerungen an letzte Nacht kehrten allmählich zurück, und ihm wurde bewusst, was für ein unfassbares Glück er gehabt hatte. Willi trat an sein Bett und zupfte den Kommissar an seinem Krankenhaushemd.

»Meine Güte, Kerl, was hast du dir nur dabei gedacht? Wollste’ als lebende Fackel in die Winkeler Geschicht’ eingehe’?«

»Was hätte ich denn machen sollen? Da war noch eine Frau drin und ich kann halt nicht aus meiner Haut«, verteidigte Kießling seine Aktion.

Willi rümpfte die Nase. »Jo, das kann ich verstehe’, aber wenn’s rischtisch dumm gelaufe’ wär’, häste’ deine Haut knusprig gebacke’.«

Trotz der scherzhaften Floskel war bei dem Rentner die Sorge um seinen Freund deutlich herauszuhören. Arnold und Ella gesellten sich zu Willi. Seine Assistentin setzte sich zu Kießling auf den Bettrand. Die Sorge um ihren Chef fiel von ihr ab. Sie realisierte ebenfalls, dass alles gut gegangen war und ihr Vorgesetzter alles halbwegs gut überstanden hatte.

»Mein Gott, Max, du hast uns einen gehörigen Schrecken eingejagt.«

Arnold brachte sich ein. »Aber hallo. Ella ist fast aus dem Bett gefallen, nachdem sie die Nachricht hörte. Als wir losfahren wollten, hat uns Willi angehalten. Da in Lorch auch die Feuersirenen losheulten, war er draußen. Ist gleich ins Auto gesprungen, als Ella ihm sagte, dass du mit dem Feuer gespielt hast.«

Der Kommissar beruhigte: »Ist ja noch mal alles gut gegangen.«

»Leicht untertrieben, würde ich sagen«, kommentierte Dr. Berger.

Kießling war geschmeichelt von der ganzen Sorge um seine Person, doch wollte er jetzt zurück zu ihrem Fall. Der durfte nicht in Vergessenheit geraten.

»Ok, genug des Geplänkels. Ist alles gut gegangen, weiter geht’s. Was gibt es Neues zu berichten?« Er schaute zu Dr. Berger. »Mittlerweile sollten doch DNA-Ergebnisse vorliegen?«

Der Pathologe lehnte sich nach vorn und nickte. »Die Ergebnisse sind da. Diese bestätigten zum einen, dass es sich bei der skelettierten Leiche tatsächlich um Serafina Wolf handelt.«

Kießling hob neugierig den Kopf.

Dr. Berger fuhr fort: »Und zum anderen konnten wir die Identität des Opfers vom Kran bestimmen.«

»Wer ist der Tote?«, fragte Kießling.

Ella übernahm. »Es handelt sich um Richard van Fraisaen, einen niederländischen Autor.«

Kießling schüttelte fragend den Kopf und entgegnete: »Ein niederländischer Autor? Wie zur Hölle passt das denn nun wieder in das ganze Konstrukt?«

Ella zuckte mit den Schultern. Der Kommissar wusste ebenfalls nichts weiter beizutragen.

Er schaute Dr. Berger an und fragte: »Wie konntet ihr eigentlich die Identität von Serafina Wolf bestimmen? Woher kam das Vergleichsmaterial?«

Ella wusste darauf eine Antwort. »Nach Serafinas Verschwinden sammelten die Kollegen seinerzeit persönliche Gegenstände von ihr aus dem Elternhaus ein. Diese waren immer noch im Archiv und konnten somit für den DNA-Abgleich herangezogen werden.«

»So alten Kram heben die tatsächlich auf?«, hinterfragte Arnold.

»Kommt schon mal vor«, antwortete Ella.

Viel schlauer als vorher waren sie durch die Erkenntnisse allerdings nicht. Eine ganze Reihe von Ermittlungsarbeit stand jetzt an, insbesondere, wie das Opfer ins Bild passte. Ratlosigkeit überschattete den Raum.

Willi hingegen stapfte nachdenklich durch das Zimmer.

»Worüber denkst du nach?«, fragte Arnold den Rentner.

Willi grübelte noch einen Moment und sagte: »Mhm, mir kommt das alles auf einmal so bekannt vor. Seitdem ich in Rente bin, tu’ ich jo hier und do gern mo’ en Buch lese’. Den Name von dem Kerl hab’ ich schon mal irgendwo uffgeschnappt, und wenn ich so drüber nachdenk’, die Geschicht’ mit dem Galgen auch.«

Kießling richtete sich auf. Hatte Willi wahrlich eine zündende Idee? In jedem Fall weckte dies in dem Kommissar neuen Tatendrang.

»Willst du mir damit sagen, du hast was von diesem Autor gelesen, und in dem Buch ging es um einen Mord am Galgen?«, hinterfragte er umgehend.

»So könnt’ man es sage’«, entgegnete Willi.

Jetzt war es um Kießling geschehen, er schob Ella von der Bettkante und sprang aus seinem Krankenbett.

»Auf geht’s. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wo hast du die Bücher gekauft?«, wollte Kießling von Willi wissen.

»Bei ’nem Buchhändler in Winkel. Der hatte immer ’ne scheene Auswahl an gute’ Geschichte’«, antwortete der Rentner dem Kommissar.

»Machen wir uns auf den Weg zu diesem Buchhändler«, rief Kießling in die Runde. Schnell bewegte er sich um das Bett in Richtung Tür.

»Warten Sie!«, rief Dr. Berger.

Kießling drehte sich um und fauchte den Pathologen an: »Was ist? Schwingen Sie die Hufe, dem müssen wir nachgehen.«

Dr. Berger stimmte mit seiner Mimik zu und fügte an: »Aber doch nicht so.«

»Was meinen Sie damit, nicht so?«

Dr. Bergers Blick ging vom Kopf des Kommissars runter zu seinen Füßen. Kießling war verwirrt und schaute an sich herunter. Er stand barfuß in seinem weißen Krankenhausleibchen im Zimmer. Zudem spürte er anhand eines frischen Luftzuges durch das gekippte Fenster, dass er auch nichts drunter hatte.

Ella grinste und reichte Kießling seine Hose, die mit seinen anderen Sachen über einem Stuhl lag. Diese war schmutzig von seiner Rettungsaktion und stank nach Qualm. Rußflecken waren überall zurückgeblieben. Das war Kießling jetzt aber egal. Frische Sachen konnte er später auch noch holen.

»Gib her, die Klamotten müssen für heute reichen«, rief er seiner Assistentin zu. Der Kommissar verschwand im Badezimmer und zog sich notdürftig an. In diesem Moment betrat die Schwester wieder den Raum, die ihm zuvor die Impfung verpasst hatte.

»Wo ist Herr Kießling?«, wollte sie wissen.

»Der macht sich grad wieder schick«, sagte Willi grinsend.

»Das geht aber nicht!« Dabei drehte sich die Schwester zum Badezimmer und rief hinein: »Herr Kießling, Sie müssen noch zur Beobachtung hierbleiben.«

Halb angezogen kam der Kommissar aus dem Waschraum und antwortete kurz angebunden: »Keine Chance. Außerdem haben Sie mich schlimmer traktiert als das Feuer gestern. Wir müssen los.«

Dabei stürmte Kießling an der entgeisterten Schwester vorbei und winkte seiner Truppe, ihm zu folgen. Dr. Berger war Kießlings überstürzter Aufbruch sichtlich unangenehm.

Er wandte sich zur Krankenschwester: »Bitte entschuldigen Sie das flegelhafte Aufbrechen Ihres Patienten. Er ist einfach unverbesserlich.«

Daraufhin folgte der Pathologe den anderen, die bereits voller Tatendrang am Fahrstuhl auf den Gerichtsmediziner warteten.