Wie aus dem Bilderbuch

E ine halbe Stunde später standen die fünf vor dem Buchladen inmitten von Winkel. Durch ein kleines Schaufenster konnten sie von außen in den Laden hineinschauen. Das Geschäft war von überschaubarer Größe. Die Buchauswahl im Schaufenster ließ bereits darauf schließen, dass hier vortreffliche Liebhaberstücke verkauft wurden, namhafte Autoren waren weniger unter der ausgestellten Auswahl.

»Und hier kaufst du deine Bücher? Warum bestellst du die nicht im Internet?«, wollte Kießling von Willi wissen.

»Hör’ mir uff mit dem neumodische Kappes. Hier wirst gut berate’ un’ außerdem komm’ ich gern nach Winkel. Als junger Mann war ich öfter hier, scheenes Pflaster«, antwortete der Rentner dem Kommissar.

»Na ja, wie auch immer, lasst uns reingehen«, forderte Kießling seine Truppe auf.

Die fünf betraten das Geschäft. Sofort kam ihnen der typische Duft einer alt eingesessenen Buchhandlung entgegen. Es roch nach Papier, gepaart mit einer staubigen Note. Der Laden war vollgestopft mit Büchern, und sie mussten feststellen, dass es sogar noch enger war als von draußen erkennbar. Ella ging prüfend an den Regalen entlang. Sie erkannte schnell, dass trotz der großen Anzahl an Lektüren alles eine gewisse Ordnung hatte.

»Genau mein Laden«, bemerkte die Polizistin beiläufig. Sie selbst war auch eine passionierte Leserin und liebte derartige Buchläden.

Aus dem Hinterzimmer rief eine tiefe Stimme: »Ich bin sofort bei Ihnen, einen Moment.«

»Lasse’ Sie sich Zeit, Herr Tessler, ich werd’ meine Kollege’ schon einweise’.«

In diesem Moment öffnete sich eine angelehnte Tür, die hinter der Kassentheke zu einem kleinen Büroraum führte. Ein großer, kräftiger Mann kam heraus, erkannte Willi und begrüßte ihn freudig.

»Der Herr Laggei ist wieder da. Schön, Sie zu sehen. Ist Ihnen der Lesestoff ausgegangen?«

Willi lachte und winkte dem Buchhändler.

»Alles gut. Nit erschrecke’, ich hab’ die Polizei im Schlepptau. Die brauche’ Ihre Hilfe.«

»Oh, das kommt aber nicht alle Tage vor, dass ich der Polizei zu Diensten sein kann. Normalerweise treten Gesetzeshüter hier vorrangig in unseren Büchern in Erscheinung. Wie kann ich helfen?«, fragte der Buchhändler freundlich.

Dr. Bergers scharfer Blick erhaschte sofort ein Exemplar des Autors Richard van Fraisaen, ihrem Mordopfer. Er nahm es an sich und präsentierte es Herrn Tessler.

»Wir sind auf der Suche nach Werken dieses Autors«, sagte der Pathologen.

Willi ergänzte: »Jo, den habe’ Sie mir mo’ empfohle’. Is’ schon länger her.«

Buchhändler Tessler nahm das Buch an sich. Ihm war der Autor sofort geläufig.

»Ja, Richard van Fraisaen, ein niederländischer Autor. Nicht sehr bekannt, aber gute Geschichten und schöner Schreibstil.«

»Wie kommt es, dass Sie gerade von diesem relativ unbekannten Schriftsteller Exemplare vorrätig haben?«, hinterfragte Kießling.

Tessler verwies auf sein Sortiment und erklärte: »Ich führe ausschließlich Werke von nicht so bekannten Autoren. Darauf habe ich mich spezialisiert. Viele meiner Kollegen setzen auf die großen Namen. Meiner Auffassung nach sind es aber gerade die nicht so bekannten Autoren, die einen besonderen Beitrag zu unserer Lesekultur und der Vielfalt leisten.«

Arnold nickte aus dem Hintergrund und rief nach vorn: »Das finde ich auch. Ich als kleiner Winzer mache auch keinen schlechteren Wein als die großen Weingüter.«

»Das kann ich bedingungslos unterschreibe’«, fügte Willi an.

Kießling unterbrach den Smalltalk. »Das mag alles sein. Wir müssen mehr über den Autor erfahren, und vor allem: Gibt es einen Roman von ihm, in dem jemand an einem Galgen aufgehängt wurde?«

Der Buchhändler setzte einen nachdenklichen Blick auf. Er kam hinter seiner Theke hervor und ging an ein Buchregal. Mit dem Zeigefinger fuhr er die Reihe ab und schien etwas zu suchen. Nach einer knappen Minute wurde Tessler fündig, zog ein Buch heraus und reichte es dem Kommissar.

»Hier. Das ist der erste Roman von van Fraisaen. In der Tat stirbt das erste Opfer an einem Galgen.«

Er blätterte durch das Buch, hielt im vorderen Drittel einer Seite an und hielt Kießling das aufgeschlagene Buch unter die Nase. Diesem stockte sofort der Atem. Er erkannte eine Zeichnung in dem Buch, wo der Mordschauplatz skizziert war. Ein Toter baumelte an einem Galgen, und das Konstrukt, an dem der Strick befestigt war, ähnelte sogar dem Oestricher Weinverladekran. Der Kommissar nahm das Buch an sich und schaute fassungslos auf das Bild.

Jetzt dämmerte es auch dem Buchhändler. Entsetzt sagte er: »O mein Gott, das kam mir gar nicht in den Sinn. Das ist ja wie der Tote in Oestrich.« Dabei hielt sich der Buchhändler geschockt die Hand vor den Mund. »Jemand kopiert die Morde aus den Büchern von van Fraisaen? Haben Sie eventuell überlegt, den Autor zu kontaktieren?«

Kießling runzelte die Stirn. Er überlegte, ob er den Buchhändler ins Vertrauen ziehen sollte, dass van Fraisaen in seinem Buch seinen eigenen Tod beschrieben hat. Normalerweise gab er keinen Ermittlungsstand an Außenstehende weiter, aber vielleicht könnte der Buchhändler noch wichtige Erkenntnisse über den Autor beisteuern. Er entschied sich, Tessler einzuweihen.

»Das ist ein guter Ansatz. Der Autor ist gar nicht so weit weg, wie Sie denken.«

Der Buchhändler schaute fragend. »Wie meinen Sie denn das?«

Dr. Berger kam dazu. »Um es mal so auszudrücken, ich bin Pathologe und Herr van Fraisaen ist zu Gast in meinen Räumlichkeiten.«

Der Gerichtsmediziner hatte damit gerechnet, dass Kießling den Buchhändler einweihen würde. Es machte durchaus Sinn. Der Umstand, dass jemand in Winkel die Bücher von van Fraisaen führte und sie mit diesem Umstand einen entscheidenden Ermittlungsfortschritt machten, war ein glücklicher Zufall.

Tessler entglitten die Gesichtszüge. Er zählte eins und eins zusammen. »Sie wollen damit sagen, dass Richard van Fraisaen das Opfer vom Kran war?«

Schweigend nickte der Kommissar und löste damit eine gespenstige Stille in dem Buchladen aus. Nach einigen Minuten fasste sich Buchhändler Tessler wieder und umriss mit knappen Worten, was er über Richard van Fraisaen wusste. Er war offensichtlich angespannt. Die Nachricht, dass es sich bei dem Toten um einen Autor handelte, den er in seinem Laden führte, schien den passionierten Buchhändler sichtlich zu berühren. Aus dem Hinterzimmer ertönte unerwartet eine weibliche Stimme.

»Georg, kommst du bitte, ich brauche deine Hilfe.«

Tessler blickte zum Hinterzimmer. Kießling schaute ebenfalls zu dem Raum, konnte eine Frau erkennen. Er warf Tessler einen fragenden Blick zu.

Dieser erklärte: »Meine Lebensgefährtin. Wir hatten gerade zusammen die Buchhaltung gemacht.« Er machte eine kurze Pause und sagte weiter: »Leider kann ich Ihnen heute nicht weiterhelfen. Diese Tatsachen haben mich doch sehr tangiert. Wenn ich Ihnen sonst nicht weiter behilflich sein kann, würde ich mich gern wieder unserem Zahlenwerk widmen.«

Kießling grummelte es im Bauch. Er hatte sich mehr von dem Buchhändler erwartet. Kurz bevor er seinen Unmut kundtun konnte, funkte Ella dazwischen. Sie hatte bemerkt, dass ihr Chef mehr als enttäuscht über die unbefriedigenden Auskünfte des Buchhändlers war.

Sie sagte, bevor Kießling den Mund aufmachen konnte: »Ja natürlich. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Falls Ihnen noch etwas einfällt zu Richard van Fraisaen oder wir noch Fragen haben, können wir uns noch mal austauschen.«

Dann schleifte sie den Kommissar aus dem Geschäft. Dr. Berger, Arnold und Willi folgten.

Draußen begann Kießling auf und ab zu laufen. In ihm rumorte es. Viel schlauer als vorher waren sie jetzt auch nicht. Vor sich hin brummelnd stapfte er hin und her. Dabei dachte er laut nach, stammelte Teile des Falles vor sich hin. Dabei fiel der Name Anton Gerber.

Willi horchte auf und rief zu Kießling rüber: »Was habt ihr dann mit dem?«

Kießling blieb wie eingefroren stehen, hob den Kopf und schaute ungläubig zu dem Rentner.

»Sag bloß, den kennst du auch?«

Willi kam zu dem Kommissar rüber und erzählte: »Sischer. Ein übler Geselle, hat hier in Winkel gewohnt und is’ unverständlicherweise bei der scheene Serafina geland’. Wie der das geschafft hot, is’ mir bis heut’ en Rätsel. Die hätt’ auch mich habe’ könne’.« Dabei drehte er sich um und zwinkerte den anderen zu. »Aber nix meiner Frau sage’, bin jo seit fast fünfzig Jahr’ glücklich verheirat’.«

Kießling schüttelte den Kopf, als müsste er Willis Aussage erst mal in seinem Hirn einordnen.

»Jetzt noch mal ganz von vorn, du kennst Anton Gerber?«

»Jo, kann ein paar heiße Geschichte’ von früher erzähle’. Zufällig sin’ mir auch grad hier in Winkel am Ort des Geschehens.«

»Wieso hast du das nicht früher gesagt?«, wollte Kießling wissen.

»Ei, vom Gerber hat niemand was gesagt un’ außerdem hat mich keiner gefragt.«

Kießling nahm einen tiefen Atemzug und legte Willi die Hand auf die Schulter. »Dann lass mal hören!«

Willi ging ein paar Meter die Straße runter und winkte die anderen heran. »Dann passt mo’ uff. Is’ zwar schon ein paar Jahr’ her, aber hier in Winkel sin’ ein paar heiße Geschichte passiert.«

Willi begann zu erzählen.