Blick in die Vergangenheit
Die Weinstadt Winkel im Rheingau,
Anfang der Sechzigerjahre.
G efühlt alle Einwohner von Winkel waren auf den Beinen, sangen und schunkelten durch die Gassen. Wenn der Rheingau und seine Bürger eines konnten, war es Feste feiern und dabei die Erzeugnisse aus den eigenen Weinbergen in Strömen fließen zu lassen. Diese Höhepunkte des Jahres wurden von allen wahrgenommen. Die Grenzen zwischen Jung und Alt verschwammen, ein jeder wusste mit jedem ein Wörtchen zu schwätzen und ein Glas oder mehr zu trinken. Mittendrin ein junger Mann aus Lorch namens Willi Laggei. Er liebte es, an derartigen Festtagen durch den Rheingau zu pilgern, immer auf der Suche nach den schönen Seiten des Lebens. Wie viele seiner Freunde war er selbst im Weinbau tätig und nahm dadurch gern jede Gelegenheit wahr, auch in anderen Städten im Rheingau die Produkte der ansässigen Winzer zu probieren. An Weinfesten war dies immer besonders einfach, da sich an diesen Tagen alle Weingüter die Klinke in die Hand gaben und ihre Schätze der Öffentlichkeit präsentierten. Nach ein paar Gläschen war zudem mehr Schwung in der Hüfte, um auch das Tanzbein zu schwingen. Dies war stets sein Motto, wenn die Kapellen ihre Musik spielten und die jungen Damen auf die Aufforderung zum Tanze durch die männliche Gesellschaft warteten. Willi war mit seinen eins siebzig nicht sehr hochgewachsen und dazu etwas kräftig gebaut, doch mit seinem unglaublichen Redetalent und dem Charme eines Hollywoodschauspielers, der sein Publikum auf der Leinwand verzauberte, stach er doch so manchen Kontrahenten aus. Unter Willi und seinen Freunden war dies kein Problem, solange man nicht der Freundin oder Angetrauten eines anderen schöne Augen machte. Meistens waren diese Verbindungen bekannt und jeder hielt sich an den unsichtbaren Ehrenkodex.
Willi stand mit einer Gruppe von Gleichaltrigen an einem Weinstand und sie probierten sich durch die Weinkarte. Sie lachten und ließen die Gläser klingen, eine lustige Floskel wurde von der nächsten abgelöst. Genau dies entsprach dem Geist der Rheingauer Feste. Gemeinsam feiern und sich am Leben erfreuen. Einer der jungen Männer richtete seinen Blick wie angenagelt in die Menge. Nachdem er einige Prosits verpasste hatte, fiel dies der Gruppe auf. Willi wurde als Erster darauf aufmerksam. Er schubste seinen Kumpel an.
»Ei Fritz, was gibt’s dann als do hinne zu gucke’? Dein Glas steht vor dir!«, sagte Willi und stieß sein Glas gegen das von Fritz, das vor ihm auf dem Stehtisch stand.
Dieser bemerkte erst gar nicht, dass Willi ihn angesprochen hatte. Der drehte sich zur Gruppe und meinte süffisant: »Ich glaub’, de’ Fritz is’ im Stehe’ eingepennt.«
Alle lachten über Willis Aussage. Einer aus der Gruppe stupste den abwesenden jungen Mann an.
»Ei Fritz, bist du noch am Lebe’?«
Jetzt schreckte er auf, drehte sich etwas verwirrt zur Gruppe. »Ja, was is’?«
Willi grinste und legte seinen Arm um ihn. »Nix Schlimmes. Mir ham’ uns nur Sorge um dich gemacht. Dachten schon, du wollst nix mehr mit uns schwätze.«
Fritz schüttelte den Kopf und entgegnete: »Nee, alles gut. Mein Blick war nur gefangen von ihr.«
Dabei zeigte er in die Menge auf eine junge, wunderschöne Frau. Sie strahlte regelrecht aus der Menge hervor. Elegant angezogen, im Gewand der Rheingauer Weinkönigin, stand sie, umringt von dem elitären Teil der Gesellschaft, inmitten der Menschen.
»Serafina Wolf!«, hauchte bis auf Willi jeder aus der Gruppe.
Der grinste vor sich hin. Dann sagte er zu den anderen: »Ei Männers, warum so ehrfürchtig? Is’ en schee’ Frau, in der Tat, aber ihr tut so, als wär’ sie unerreichbar.«
Fritz antwortete entgeistert: »Machst du Witze? Serafina ist unerreichbar. So wie es aussieht, tritt sie sogar bei der Wahl zur Deutschen Weinkönigin an.«
»Ach was«, fügte ein anderer aus der Gruppe an und fuhr fort: »Dann frag’ ich mich, was sie mit dem Gerber will.«
Ein Raunen ging durch die Runde. Fritz fragte: »Der Anton Gerber hat was mit Serafina? Wie kommst du denn darauf?«
»Wissen tut das offiziell keiner. Aber es stimmt. Was sie allerdings mit diesem Deppen will, keine Ahnung. Schafft nix und bei jeder Prügelei ist er vorn dabei.«
»Kenn’ ich den?«, fragte Willi.
»Wahrscheinlich. Wenn es hier in Winkel irgendwo Stress gibt, dann ist Anton Gerber nicht weit.«
Willi nachdenklich: »Mhm, hört sich nach ’nem unsympathische’ Geselle’ an.«
»Macht euch mal keine Sorgen, Jungs«, sagte Fritz. Die anderen horchten auf und Fritz sprach weiter: »Wenn Serafinas Vater davon Wind bekommt, dass seine Tochter mit dem zusammen ist, dann ist das ganz schnell beendet. Der hat doch genauso einen Knall.«
»Vielleicht ist de’ Anton ein unehelicher Sohn von ihm«, scherzte Willi.
Alle lachten und einer kommentierte: »Das glaub’ ich nit, so blöd is’ selbst Serafinas Vater nit, um so einen Bastard zu zeugen.«
In diesem Moment begann die Kapelle wieder mit Musik. Der Kapellmeister schwang seinen Dirigentenstock und forderte die Menschenmenge zum Tanze auf. Die Gruppe der jungen Männer beschloss jedoch, sich lieber weiter dem Weintrinken zu widmen, anstatt den jungen Damen, die reihenweise am Parkett warteten, die Ehre eines Tanzes zu erweisen. Nur einer von ihnen grinste über das ganze Gesicht und schielte auf den Tanzbereich. Natürlich war es Willi, der in seinem Kopf etwas ausheckte. Fritz fiel auf, dass Willi scheinbar was im Schilde führte.
»Doch lieber tanze’ als Wein trinke’?«, fragte der Winkler den Lorcher Bub.
»Jetzt passt mo’ uff!«, machte Willi die anderen neugierig.
Er stellte sein Weinglas hin und bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge. Willi steuerte direkt auf Serafina zu, die weiterhin von einer Menschentraube umringt war.
Seine Kumpels bekamen ganz große Augen, als sie sahen, welchen Kurs ihr Freund eingeschlagen hatte.
»Der wird doch nicht …?«, murmelte einer von ihnen.
»Doch, der wird!«, entgegnete Fritz, als er sah, dass Willi tatsächlich Serafina im Auge hatte.
Vorsichtig pirschte sich der Lorcher heran. Es war nicht einfach, zu Serafina durchzudringen, da viele Menschen um sie herumstanden. Zudem schien ihr Vater Hartmut zielgerecht jungen Männern den Weg zu seiner Tochter zu versperren, die er für nicht angemessen hielt. Willi war nicht der Einzige, der die Gunst der Stunde nutzen wollte, um einen Tanz mit der Rheingauer Weinkönigin zu erhaschen. Er musste sich eine gute Taktik überlegen, um nicht ebenfalls am Abwehrschirm von Serafinas Vater abzuprallen. Willi erinnerte sich an die Worte seines Vaters, der ihm aus seiner Zeit im Zweiten Weltkrieg immer wieder folgende Weisheit predigte: »Nie kopflos nach vorn preschen! Immer beobachten, überlegen und dann mit Bedacht handeln – nur so kannst du überleben«. Zwar war dieser furchtbare Krieg vorbei und er sowie seine Freunde mussten dieses Grauen nicht wie viele ihrer Väter an der Front erleben, doch waren diese weisen Worte in der Tat universell einsetzbar. Eine der schönsten Damen am Platze zum Tanz aufzufordern und sich dabei gegen jede Menge Konkurrenz durchzusetzen, war ebenfalls eine Art Überlebenskampf. So harrte Willi einen Moment in der Menge aus und beobachtete.
Seine Freunde im Hintergrund begannen sich bereits über ihn lustig zu machen. »Guckt’ an, der hat schon die Hosen voll!«, hallte es von hinten.
Doch Willi ließ sich nicht beirren und folgte seiner Taktik des Beobachtens und Abwartens. Er sah, wie viele junge Herren seines Standes sich resignierend abwandten. Serafinas Vater zeigte einen Gesichtsausdruck der Zufriedenheit. Er übernahm die Tanzpartnerwahl und sah sich im Kreise derer um, die er als würdig erachtete. Willi sah, wie er seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung lenkte. Er blickte zu Serafina. Ihr Gesicht sprach Bände. Es war deutlich zu sehen, dass ihr das Verhalten des Vaters in keinster Weise schmeckte. Ihr vorhin noch so strahlendes, natürliches Lächeln glich nun einer in Stein gehauenen Maske. Sie trat ein paar Schritte zurück, als wollte sie Distanz zwischen sich und ihren Vater bringen. Das war Willis Chance. Der Vater war noch abgelenkt und Serafina in Reichweite. Wie ein Felsbohrer durch Gestein schob er sich durch die Menge und stand schnell direkt hinter Serafina. Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, tippte er ihr auf die Schulter. Die Weinkönigin drehte sich um.
Willi lachte sie herzerwärmend an und sagte: »Jetzt oder nie. In ein paar Sekunden kommt dein Vadder mit so einem Prinz Eisenherz um die Ecke, ich glaub’, das wolle’ mir beide nit …«
Serafina wirkte etwas überrascht, war aber sofort von Willis Aufforderung eingefangen worden. Ihr versteinerter Gesichtsausdruck brach auf und ihr schönes Gesicht zierte wieder ein ehrliches Lächeln. Ihr war auch die Gelegenheit des Momentes klar und sie ließ sich umgehend von Willi auf die Tanzfläche führen. Die Menschenmenge raunte und klatschte, als sie sahen, dass ihre Rheingauer Weinkönigin mit einem jungen Burschen auf die Tanzfläche schritt. Dies blieb jetzt auch Serafinas Vater Hartmut nicht mehr verborgen. Gerade hatte er einen jungen Mann als Tanzpartner für seine Tochter auserkoren, da musste er mit ansehen, wie seine Tochter mit dem bürgerlichen Willi auf das Tanzparkett eilte. Seine Blicke wurden messerscharf, der Kopf vor Wut feuerrot. Neben ihm stand seine Frau Elise. Diese versuchte, ihren Mann zu beruhigen. Leise flüsterte sie ihm ins Ohr, sodass die anderen um sie herum nichts mitbekamen: »Hartmut bitte … lass das Kind doch. Sie soll doch heute auch etwas Spaß haben.«
Hartmut drehte seinen Kopf zu seiner Frau und warf ihr einen stechenden Blick zu, der keiner Worte bedurfte. Elise senkte resigniert den Kopf. Immer wieder versuchte sie, auf ihre zurückhaltende Art und Weise ihren Mann davon zu überzeugen, nicht so streng mit Serafina zu sein. Doch er kannte nur seine eigenen Ziele und hatte die Vorstellung, dass jeder um ihn herum seinen Beitrag leisten müsste, um diese zu erfüllen. Es ging nie um Selbstverwirklichung und individuelles Glück. Jeder in seinem Umfeld hatte genau so zu funktionieren, wie er es wollte. Dies traf in dieser Situation nicht auf Willi zu, der Serafinas Vater einen gehörigen Strich durch die Rechnung machte. Er ahnte nicht, dass er Serafina dadurch jede Menge Ärger mit ihrem Vater einhandelte. Doch diese war darüber gar nicht so unglücklich. Sie warf sich in die Arme des Lorchers und schwang genussvoll das Tanzbein.
»Danke, dass du mich da rausgeholt hast«, sagte sie beim Tanzen zu ihm.
»Immer gern. Ich hab’ mir gedacht, bevor dein Vadder dir so einen weichgespülte’ Typ, der von Beruf Sohn is’, aufs Auge drückt, trau’ ich mich mo’ in die Höhle des Löwen.«
Serafina lächelte und erwiderte: »Oh, also demnach bin ich eine Löwin? Hast du keine Angst, gefressen zu werden?«
Willi lachte und entgegnete: »Keineswegs. Im Gegeteil. Ich denk’ eher, du bist ein zierliches Kätzche’ umgebe von lauter Raubtiere, die dir nix Gutes wolle’.«
Mit diesem Satz hatte er bei Serafina voll ins Schwarze getroffen. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, war überrascht, dass der Lorcher die unangenehme Wahrheit so einfach aus ihr herauslesen konnte.
»Ich weiss gar nicht, was ich dazu sagen soll«, schluchzte Serafina.
»Brauchst nix sage’. Ich denk’, das Lied geht noch ein paar Minute’. Lehn’ dich einfach an und vergess’ die Welt da drauße’«, antwortete Willi selbstbewusst. Dabei nahm er Serafinas Kopf und zog diesen neben seinen heran. Beide tanzten jetzt sehr eng aneinander und ließen sich von der Musik treiben. Willis Kumpels am Weinstand johlten und huldigten dem Lorcher wie einem Aufreißer. Willi hingegen war fern davon, die Gelegenheit am Schopfe zu packen und die hinreißende Serafina zu verführen. Er spürte, dass er jemanden im Arm hielt, die sich trotz der großen Aufmerksamkeit um ihre Person wohl heute als der einsamste Mensch auf der Welt fühlte.
Während die Kapelle weiter spielte und Willi für Serafinas Seelenheil sorgte, blickten neben Hartmuts zornigen Augen zwei weitere stechend auf die beiden. In einer dunklen Gasse, etwas abseits des Festes, jedoch mit gutem Blick auf das Tanzparkett, stand ein junger Mann. Er fixierte das Tanzpaar, ballte seine Hand zu einer Faust und hatte einen derart zornigen Blick, der harten Stahl zu schmelzen vermochte.
Auf der Bühne war davon nichts zu spüren. Serafina genoss ihren kurzen Moment der Freiheit in Willis Armen. Dieser freute sich darüber, dass er einem Menschen ein paar Minuten des inneren Friedens schenken konnte. Die letzten Takte des Liedes brachen an. Schwungvoll drehten sich noch mal alle Tanzpaare um die eigene Achse, bis der letzte Paukenschlag das Tanzlied beendete. Die Paare gingen auseinander und beklatschten ihre und die Leistung der Kapelle. So auch Willi und Serafina. Die Weinkönigin strahlte wieder. Sie hatte diese paar Minuten mit dem Lorcher sehr genossen.
»Wie kann ich mich meinem edlen Retter erkenntlich zeigen?«, fragte Serafina mit einem charmanten Unterton.
Willi grinste, nahm Serafinas rechte Hand mit seiner linken und antwortete: »Der edle Retter hat keinen Preis, wenn er um das Glück der Erretteten weiß!«
Dann gab er, ganz Gentleman, Serafina einen Kuss auf ihren Handrücken. Dabei lachte er ihr freudestrahlend ins Gesicht.
Serafina errötete leicht und fühlte sich geschmeichelt. Nach ein paar Sekunden sagte sie: »Du hast mir heute wirklich den Abend gerettet.«
Willi freute es, dies zu hören. Er antwortete, mit einer leichten Verbeugung: »Immer wieder gern. Ich bin Willi aus Lorch und steh’ Ihrer Majestät jederzeit zur Verfügung.«
»Na dann, Willi aus Lorch. Ich komme gern darauf zurück«, antwortete eine glücklich wirkende Serafina.
Willi führte die Weinkönigin noch von der Bühne und verschwand dann schnell in der Menge. Serafina zog sich wieder in den elitären Kreis zurück, wo bereits ihr wutschnaubender Vater auf sie wartete.
»Was sollte das?«, fauchte er leise seiner Tochter entgegen, ohne dass es die anderen Menschen mitbekamen.
Selbstbewusst entgegnete Serafina: »Lass mich einfach in Ruhe!«
Hartmut entgleisten die Gesichtszüge. Allerdings konnte er sich unter so vielen Menschen nicht gehen lassen und seine Tochter auf seine Art zurechtweisen. Dies nahm er sich für später vor. Serafina war es mittlerweile egal. Sie hatte einen wunderbaren Moment mit einem neuen Freund geteilt, der ihr sicher noch lange in Erinnerung bleiben würde.
Willi war wieder zurück im Kreise seiner Freunde, die ihm eine Welle der Bewunderung entgegenbrachten. Alle wollten Details wissen. »Was habt ihr geredet? Hat Serafina wirklich so einen strammen Hintern, wie er von außen scheint? Wie duftet sie? Werdet ihr euch wiedersehen?«
Willi wiegelte alles ab. »Bleibt ruhig, Männers! Ein Lorcher schweigt und genießt!«
Dabei hob er sein Weinglas und prostete den anderen genüsslich zu. Diese schüttelten nochmals ungläubig den Kopf und stießen voller Bewunderung für den Lorcher mit diesem an.
Das muntere Treiben auf dem Festplatz wurde von allen noch einige Stunden zelebriert. Serafina wurde nach dem Tanz mit Willi rüde von ihrem Vater nach Hause verfrachtet. Dies geschah im Rücken der Gesellschaft, für die gute Miene zum bösen Spiel gemacht wurde. Willi beobachtete dies mit Wehmut. Ihm tat Serafina fürchterlich leid. Um keinen Preis in der Welt wollte er mit ihr oder ihrem Stand tauschen. Er war glücklich, ein einfacher Bub im Rheingau zu sein, ohne jegliche Verpflichtungen einer Etikette gegenüber. Mit einem dicken Kloß im Hals feierte er dennoch mit seinen Freunden weiter.
Zur fortgeschrittenen Abendstunde läuteten die Glocken der Kirche Sankt Walburga. Willi merkte auf.
»Au wei’, schon so spät. Die Herr’n, ich muss los. Nit, dass ich de’ letzte Zug verpass’ un’ hier in Winkel am Rhein übernachte’ darf.«
Fritz lachte und antwortete: »Ach komm, Laggei … Hast doch locker zwei bis drei Flasche’ im Kopp, da tut dir so ’ne Nacht am Rhein sicher gut!« Die anderen in der Gruppe stimmten lachend der Bemerkung von Fritz zu.
Willi winkte amüsiert ab und erwiderte: »Mit Sicherheit würd’ mir die gute Luft am Vadder Rhein de’ Kopfschmerz morsche früh nehme’, aber ich zieh’ mein wärmend Bett doch lieber vor.«
Mit breiter Brust und einem Grinsen auf den Lippen verabschiedete er sich von seinen Freunden und machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Dabei nahm er den Weg durch ein paar schmale Gassen, die die kürzeste Strecke zum Abfahrtsgleis darstellten.
Es dämmerte bereits und die meisten Wege waren nicht beleuchtet. Nur das diffuse Abendlicht, gepaart mit dem aufgehenden Mond, spendete etwas Licht. Dies störte Willi jedoch nicht. Er kannte den Weg und machte fröhlich pfeifend seine Meter. Hier und da mit einem kleinen Ausfallschritt, der an den ordentlichen Weinkonsum, über den Tag verteilt, erinnerte. Der entspannte Willi bemerkte nicht, dass ihm ein Schatten in der Dunkelheit folgte. Je weiter er sich vom Festgelände entfernte und es menschenleerer wurde, desto näher kam sein Verfolger. In der Hand hielt dieser einen schweren, hölzernen Knüppel, den er bedrohlich zu schwenken begann, je näher er Willi kam. Er war nur noch einen knappen Meter hinter dem Lorcher. Der Verfolger hob den Knüppel und machte sich bereit, diesen Willi übers Haupt zu ziehen, da tauchten vorn an der Kreuzung zur nächsten Gasse zwei Männer auf und erblickten Willi.
Sie riefen ihm zu. »Ei, da ist ja immer noch der Lorcher Besuch. Bekommst wohl nit genug vom gute Winkeler Woi?«
Willis Angreifer ließ sofort den Knüppel sinken, als er die Aufmerksamkeit der Männer bemerkte. Willi hatte nicht realisiert, dass er gerade einem tätlichen Angriff entgangen war. Er hob grüßend die Hand und entgegnete scherzend: »Ei, ganz im Gegeteil, ich muss jetzt ganz schnell haam, um den Abend noch mit ’nem gute Lorcher Riesling zu rette’!«
Die Männer lachten und Willi ebenfalls. Es war normal, dass sich die Rheingauer untereinander immer wieder gern mit der Qualität ihrer Weine aufzogen. Jeder beanspruchte natürlich, den besten Wein in seinem Ort zu haben. Dies waren allerdings unter den Rheingauern nur scherzhaft ausgefochtene Kämpfe, die vor allem freundschaftlich einzuordnen waren. Jeder schätzte die Qualität der Weine der anderen Gemeinden. Wie Menschen hatten auch Weine ihre Stärken und Schwächen. Dies war wohl auch der Grund, warum das edle Getränk für die Menschen im Rheingau echte Identifikation bedeutete.
»Ei, dann komm’ gut haam«, riefen die Männer Willi zu und fügten an: »Dir und deinem Kumpel noch ’en scheene Abend!«
Willi zog verdutzt die Augenbrauen hoch. Warum sagten die beiden Männer »Dir und deinem Kumpel«? Er hob die Hand und winkte zum Abschied. Dann vernahm er das Geräusch eines Schrittes hinter sich. Schnell drehte sich Willi um und blickte in die wütenden Augen seines Verfolgers. Dieser verpasste Willi einen wuchtigen Schubser, der ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Der Lorcher stolperte über das Kopfsteinpflaster und fiel der Länge nach auf den Rücken. Der Mann kam näher und hielt Willi bedrohlich den Knüppel entgegen.
Er brüllte ihn aus voller Kehle an: »Wenn du noch mal Hand an mein Mädchen legst, schlage ich dir den Schädel ein!«
Willi hielt schützend seine Hände hoch und antwortete seinem Gegenüber: »Grundsätzlich kein Problem, müsstest mir nur noch verrate’, von wem mir schwätze’.«
»Tu nicht so blöd. Oder mit wie vielen Weibern hast du heute getanzt?«, fauchte der Angreifer dem am Boden liegenden Lorcher entgegen.
Willi dämmerte es. Hier stand wohl Serafinas ominöser Freund Anton Gerber vor ihm. Sofort gingen ihm die Worte seiner Freunde durch den Kopf, dass dieser Typ eine sehr kurze Zündschnur hatte und schnell drohte, zu explodieren. Somit entschied er sich, gemäß Vaters Rat, nachzudenken und mit Bedacht die Situation zu lösen.
Er entgegnete: »Ah, du meinst unsere Weinkönigin, mir war nit klar, dass du ihr Freund bist.«
»Genau so ist es und jetzt hast du ein gewaltiges Problem!« Dabei schwang Anton Gerber bedrohlich den hölzernen Knüppel. Willi blieb ruhig und folgte seiner Strategie der Deeskalation. Mit der Hand schob er vorsichtig den immer näher kommenden Knüppel von seinem Gesicht weg und kam langsam wieder auf die Beine.
»Ich versteh’, dass du sauer bist. Aber ganz ehrlich, wenn du de’ Freund bist, dann solltest du mir eher dankbar sein. Ich hab’ deiner Freundin nämlich ’en Gefalle’ getan und sie für ’en paar Minute aus der Runde von ihrem komische’ Vadder befreie’ könne’. Wenn du mich fragst, der hätt’ ordentlich Prügel verdient!«
Dieser Schachzug war äußerst clever von Willi. Er lenkte die Aufmerksamkeit auf Serafinas Vater. Er konnte sich denken, dass Gerber diesen noch sehr viel weniger leiden konnte als ihn und mit Sicherheit jede Menge Wut dem Vater gegenüber im Bauch hatte.
Es funktionierte. Gerber senkte den Knüppel und wurde nachdenklich. Er stimmte Willi zu. »Da hast du recht. Diesem Schwein gehört tatsächlich der Schädel gespalten.«
Willi relativierte etwas. Er konnte Gewaltsprüche nicht ausstehen. »So drastisch würd’ ich das jetzt nit ausdrücke’, aber ich geb’ dir im Grunde genomme’ recht.«
Er spürte, dass jetzt die beste Möglichkeit war, dieser Szenerie unbeschadet zu entfliehen. Ihm war klar, dass dieses Ablenkungsmanöver seine Wirkung sicher in ein paar Sekunden verlor.
»Na ja, ich wünsch’ dir alles Gude. Ich muss los.«
Dabei drehte sich Willi um und wollte schnell die letzten Meter zur Kreuzung zurücklegen, an der die Straße wieder beleuchtet und sicher auch belebter war.
Gerber zögerte noch einen Moment und brüllte Willi hinterher: »Moment! Mit dir bin ich trotzdem noch nicht fertig!«
Dabei schloss er wieder bedrohlich zu Willi auf. Dieser drehte sich umgehend um, damit er nicht doch noch einen Schlag mit dem Knüppel auf seinen Hinterkopf fürchten musste. Gerber hob wieder seine Waffe und war kurz davor, auszuholen, da rief eine Stimme aus dem Hintergrund:
»Anton, da bist du ja!«
Serafina stand am anderen Ende der Gasse und eilte auf Willi und Gerber zu. Dieser drehte sich um und ließ schnell den Knüppel hinter seinem Rücken verschwinden. Willi nahm ihm geistesgegenwärtig das Stück Holz aus der Hand und warf es unbemerkt in die Ecke.
Serafina schloss zu ihnen auf und warf sich Anton um den Hals.
»Ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe. Mein Vater hat mir heute Abend wieder einen derartigen Vortrag gehalten, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe und weggelaufen bin.« Dann blickte sie zu Willi, ließ ein Stück ihre Umarmung nach unten gleiten und sagte: »Willi aus Lorch! Das freut mich aber, dass ihr euch kennengelernt habt.«
Gerber drehte sich mit Serafina im Arm zu Willi um. Er blickte angespannt drein und fürchtete, dass Willi seiner Freundin jetzt reinen Wein einschenkte und eröffnete, dass ihr lieber Freund versucht hatte, ihn mit einem Knüppel zu malträtieren. Dem Lorcher lag es aber fern, hier irgendjemanden in die Pfanne zu hauen. Dies war nicht seine Art. Zudem sah er, wie inbrünstig Serafina dem Raubein um den Hals gefallen war. Zwar hatte er Zweifel an der Gutmütigkeit Gerbers, doch wollte er heute kein junges Glück zerstören und versuchte, das Gute im Menschen zu sehen.
Anton wollte etwas sagen, da kam ihm Willi geistesgegenwärtig zuvor. Er würgte die ersten Worte seines Gegenübers mit seinen eigenen ab. »Anton hat mich auf dem Heimweg gesehe’ und wollt’ sich bedanke’!«
Mit großen Augen blickte Gerber Willi überrascht an, der ihm einen eindeutigen Blick zuwarf.
Willi fuhr fort: »Er fand das eine große Tat von mir, dass ich dich für ein paar Minute’ aus dem Getümmel um deinen Vater rausgeholt hab’ und du ein bissel frische Luft auf ’em Parkett schnappe’ konntest.«
Serafina freute sich und schaute strahlend ihrem Freund ins Gesicht. Der sah immer noch völlig verdutzt zu Willi. Der grinste nur breit und nickte dem Raubein entgegen, dieser solle jetzt am besten mitspielen.
Gerber antwortete mit zittriger, unsicherer Stimme: »Ja … ja genau. Danke Willi, das war echt nett von dir, was du heute für Serafina gemacht hast!«
Willi hob die Hand und antwortete: »Is’ doch klar, gern geschehe’!« Dann drehte er sich um und blickte Richtung Bahnhof. Er fuhr fort: »Jetzt müsst ihr beide mich aber entschuldige’, ich muss meinen Zug erwische’, der fährt in ein paar Minute’!«
Serafina löste sich von Gerber und schenkte Willi noch eine warme Umarmung. Dabei bedankte sie sich noch mal herzlich bei ihrem neuen Freund. Während sich die beiden umarmten, blickte Willi in Richtung Gerber, ohne dass es die Weinkönigin mitbekam. Er warf ihm einen eindeutigen Blick mit Wink auf Serafina zu, dieser solle sich jetzt gefälligst um seine Freundin kümmern. Nachdem sie die Umarmung löste, drehte sich Willi in Richtung Bahnhof um, winkte noch kurz zum Abschied und verschwand um die nächste Ecke. Gerber und Serafina gingen Hand in Hand in die entgegengesetzte Richtung.
Am Bahnhof angekommen musste Willi erst mal richtig durchschnaufen. Diese Szene hatte seine Sinne wieder vollkommen klar werden lassen und den Alkohol aus dem Hirn getrieben. Er setzte sich auf eine Bank am Gleis und sinnierte über das gerade Geschehene. Ganz bei sich dachte er: »Ich hoffe, das Mädche’ macht mit dem Kerl keinen Fehler.«