Auf des Raubeins Spuren

W illi beendete seine Geschichte, die von den anderen mit bedächtiger Aufmerksamkeit verfolgt worden war.

Kießling resümierte: »Deine Hoffnung in allen Ehren, aber das Mädchen hat mit dem Kerl wohl in der Tat den größten Fehler ihres viel zu kurzen Lebens gemacht!«

Sichtlich berührt stimmte Willi zu.

Ella spürte, wie sehr die Geschichte dem Rentner nahe ging. Sie kam an seine Seite und nahm ihn tröstend in den Arm.

»Das tut mir sehr leid, dass du für uns in derart traurigen Erinnerungen kramen musstest«, sagte die Polizeibeamtin in sanftem Ton.

Willi grinste aber schon wieder und entgegnete: »Ach, macht’ euch mo’ keine Sorge. Die Geschicht’ mit Serafina geht mir zwar schon sehr nah’, aber der Abend war ja grundsätzlich lustisch und vor allem von der ein oder anderen Flasch’ Woi gekrönt.«

Ella lachte und gab ihm einen liebevoll gemeinten Klaps auf den Hinterkopf. Dr. Berger konnte sich ebenfalls einen Kommentar nicht verkneifen.

»Ja, wirklich bedrückend das Schicksal von Königin Serafina. Ich kann ihren Vater irgendwo verstehen, dass er seine Tochter vor derartiger Klientel schützen wollte.«

Jetzt erntete der Pathologe stillschweigende, kritische Blicke von den anderen vieren. Dem Gerichtsmediziner war entgangen, dass der Vater auch junge Männer wie Willi als unwürdig für seine Tochter empfunden hatte. Er blickte fragend in die Runde, was er Falsches gesagt habe? Nach einigen Sekunden dämmerte es Dr. Berger und reumütig relativierte er seine Aussage.

»Oh, natürlich meine ich Personen wie Anton Gerber. Unserem Willi hätte ich als Serafinas Vater meine Tochter in jedem Fall uneingeschränkt anvertraut. Einen perfekteren Schwiegersohn hätte dieser Tor nicht bekommen können.«

Damit hatte der Pathologe noch mal die Kurve gekriegt.

Willi kommentierte: »Das will ich aber auch meine, Doktorche’! Aber is’ alles gut. Die Serafina war zwar eine der scheenste Frau zu der Zeit, aber nix für mich. Ein paar Jahr’ später hab’ ich meinen Schatz kennegelernt und will keine Minute von unsere’ gemeinsame Zeit misse’!«

»Oh, wie romantisch!«, schwärmte Ella und nahm ihren Arnold dabei in den Arm.

Kießling unterbrach die Konversation und wollte die Aufmerksamkeit wieder auf den Fall lenken.

»Jetzt aber Schluss mit dem sentimentalen Geplänkel. Wir haben hier jede Menge Arbeit vor uns.« Er stellte sich vor die Gruppe und begann mit der Aufgabenverteilung. »Wir müssen jetzt Gas geben. Willi, du hast Gerber persönlich kennengelernt. Würdest du ihm zutrauen, einen Mord zu begehen, und nicht zu vergessen, die Brandstiftung?«

Der Rentner ging einen Moment in sich und überlegte. Er hob den Kopf und antwortete dem Kommissar: »Ich musst’ mich grad’ noch mal an den Abend von damals zurückversetze’. Ich muss sage’, ich hat mehr Glück als Verstand an dem Tag. In seine Auge konnt’ ich sehe’, do war nix außer Hass und Raserei. Ich glaub’, wär’ Serafina nit uffgetaucht, hätt’ das bös’ ausgehe’ könne’.«

Kießling nickte zustimmend. »So ist auch mein Gefühl. Also Ansage, Anton Gerber ist unser Hauptverdächtiger.« Er zeigte auf seine Assistentin und gab Anweisung. »Ella, fahr du zurück aufs Revier. Forste Datenbanken durch und suche nach allem, was du über Gerber herausfinden kannst. Eltern, Geschwister, offene Strafzettel, ist mir scheißegal, ich will alles wissen.«

Dann wandte sich der Kommissar zu Arnold und Willi.

»Ihr beide macht euch auf nach Lorch. Schnappt euch die Bücher von dem van Fraisaen und geht jedes einzelne Buch durch. Falls euch eines fehlt, holt es euch noch hier bei dem Tessler in der Buchhandlung.«

Willi rieb sich die Hände, zog Arnold zu sich heran und wisperte ihm zu: »Das is’ aber en scheene Aufgabe. Ich hab’ für die Leserund’ noch gute Riesling im Kühl…«

Kießling unterbrach den Rentner umgehend. »Nix Riesling aus dem Kühlschrank. Wenn wir den Fall gelöst haben, dann können wir gern deinen ganzen Eisschrank leer trinken, aber bis dahin: volle Konzentration!«

Willi antwortete voll motiviert: »Na dann auf, Arnold, wir müsse’ den Fall löse’. Vorher gibt’s nix mehr zu trinke’!«

»So ist recht!«, antwortete der Kommissar.

»Was soll ich machen?«, fragte Dr. Berger.

Kießling überlegte einen Moment und entgegnete: »Sie unterstützen mich in der Feldarbeit. Wir werden jetzt hier vor Ort jeden Stein umdrehen und zusehen, was wir bei den Einheimischen über Gerber rausfinden können.«

Gesagt, getan. Jeder hatte seine Aufgabe bekommen. Ella begab sich zum Polizeirevier, Willi und Arnold fuhren nach Lorch, Kießling und Dr. Berger begannen ihre Recherchen vor Ort.

»Wo fangen wir an?«, wollte der Gerichtsmediziner vom Kommissar wissen.

»Gute Frage, mein lieber Herr Doktor. Lassen Sie uns doch mal zu der Bäckerei da vorn gehen. Da babbeln ein paar rüstige Damen miteinander. Die können uns vielleicht weiterhelfen.«

Dr. Berger und Kießling begaben sich zur Bäckerei. Der Kommissar entschuldigte sich höflich bei den vor der Bäckerei erzählenden Damen und fragte sie nach Anton Gerber. Ein Raunen ging durch die Runde. Wie schon Willi vorhin konnten auch die Frauen Geschichten zu dem Raubein erzählen. Er hatte wirklich keinen guten Ruf und schien in seiner Jugend, bis zu seinem Verschwinden nach den Bränden, jeder Menge Leute auf die Füße getreten zu sein. Eine Familie gab es offensichtlich ebenfalls nicht mehr in Winkel. Er war Einzelkind. Der Vater hatte ihn und seine Mutter bereits kurz nach der Geburt verlassen. So wurde er allein vom verbliebenen Elternteil aufgezogen, was in den alten Tagen nicht immer einfach war.

In der Schule fiel er nur durch Raufereien auf, wirkliche Freunde hatte er keine. Alle Leute, und vor allem die Jugendlichen, versuchten Anton Gerber großzügig aus dem Weg zu gehen. Das Gerücht, er habe ein Verhältnis mit Weinkönigin Serafina, erregte allerdings allgemeines Interesse. Da wurde nach Aussage aller befragten Zeitzeugen getuschelt, was das Zeug hielt. Niemand konnte wirklich glauben, dass die anmutige Serafina mit diesem Raubein ein Verhältnis hatte. Dieses Unverständnis basierte nicht auf den gleichen Motiven wie denen von Serafinas Vater, der einfach keinen Schwiegersohn aus der bürgerlichen Unterschicht haben wollte. Der Unglaube bei den Einheimischen hatte schlicht und ergreifend daher gerührt, dass Anton Gerber wohl der ungehobelste und charakterloseste Umgang für die schöne Weinkönigin war.

Kießling und Dr. Berger hörten sich die Geschichten geduldig an und hofften, irgendwelche verwertbaren Fakten zu erhalten. Doch es waren alles nur Erzählungen, mit denen sich im besten Fall Stammtischgesellschaften den Nachmittag interessanter machen konnten. Doch ein Satz ließ den Kommissar aufhorchen. Eine der Damen erwähnte beiläufig, eine alte Stadtchronik in der heimischen Bibliothek zu haben, die eventuell ein Bild von Anton Gerber enthielt.

Sofort war Kießling Feuer und Flamme. »Meine Dame, wäre es in Ordnung, wenn Sie Ihre Konversation mit Ihren Freundinnen später fortführen und uns jetzt die Chronik zeigen?

»Aber natürlich, Herr Kommissar. Komme’ Sie mit. Ich hab’ für Sie sicher auch noch ein Tässche’ Kaffee und ein paar Plätzche’«, antwortete die ältere Frau.

Dr. Berger bedankte sich sofort stilgerecht für die nette Einladung. »Oh, es ist uns eine Freude, Sie zu begleiten!«

Kießling nickte freundlich und ließ die Dame vorausgehen. Er drehte sich kurz zu Dr. Berger um und flüsterte ihm zu: »Nicht, dass das zum Kaffeekränzchen ausartet. Halten Sie sich zurück.«

Der Pathologe runzelte die Stirn. Kießling hatte dies nicht umsonst erwähnt. Er kannte seinen Dr. Berger und dessen Hang, höfliche Etikette zu wahren, wenn jemand zum Kaffee einlud. Eine Einladung auszuschlagen würde er als unhöflich empfinden. Daher erwähnte Kießling dies vorsichtshalber. Er wollte die Chronik, im besten Fall ein Bild von Gerber und dann wieder raus an die Arbeit.

Ein paar Straßen weiter war die ältere Dame zu Hause. Eine gefühlte Ewigkeit kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Haustürschlüssel. Kießling tippelte dahinter ungeduldig mit dem rechten Schuh auf dem Bürgersteig herum.

Dr. Berger wisperte ihm zu: »Geduld, Herr Kommissar. Dies ist die Tugend der Weisen!«

Kießling schielte den Gerichtsmediziner genervt aus dem Augenwinkel an und kommentierte diese Bauernweisheit mit einem leisen Seufzer. Nach gefühlt mehreren Minuten fand die Dame den Schlüssel, schloss die Tür auf und bat die beiden Herren ins Haus.

»Kommen Sie bitte rein. Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Schuhe auszuziehen? Ich hab’ heut’ morgen den Teppich frisch gesaugt.«

Dr. Berger folgte der Aufforderung zugleich. Kießling schaute einen Moment missmutig drein, zog aber dann folgsam seine Schuhe aus und platzierte diese neben den Slippern des Gerichtsmediziners.

»Folgen Sie mir bitte«, bat die Dame die beiden und rief anschließend in den Flur: »Karl-Heinz! Wir habe’ Besuch und komme’ jetzt ins Wohnzimmer. Zieh’ Dir bitte was an!«

Daraufhin drehte sie sich zu ihren Gästen und erklärte: »Bitte entschuldigen Sie, aber mein Mann guckt gern Fernseh’ und sitzt dabei nur in de’ Unterhos’ im Sessel. Den Anblick möcht’ ich Ihne’ gern erspare’.«

»Zu gütig!«, kommentierte Kießling mit einem sarkastischen Unterton.

Die drei gelangten ins Wohnzimmer, wo sich Gatte Karl-Heinz gerade in eine Jogginghose zwängte. Er begrüßte ebenfalls die Besucher.

»Guten Tag. Wie könne’ wir Ihne’ helfe’?«

Seine Frau kam an seine Seite und erklärte: »Die Herren sind von der Polizei und benötigen eine alte Chronik von Winkel. Die müssten wir doch noch im Schrank haben?«

Der Ehemann überlegte und sagte: »Jo, sicher. Gucke Sie mo’ da hinte’ in der Schrankwand. Da stehe einige alte Bücher und irgendwo ist do ach ’en Chronik von Winkel dabei!«

Kießling ging an die Schrankwand und schaute sich um. Dabei atmete er ein paar Mal tief ein und aus. Es war etwas muffig in dem Raum und ziemlich warm. Die Heizung war hochgedreht. Kießling wischte sich über die Stirn, wo sich schon ein paar Schweißperlen angesammelt hatten.

»Ich geh’ dann mal Kaffee machen«, rief die Hausherrin aus dem Hintergrund. Blitzschnell drehte sich der Kommissar um und hielt sie davon ab.

»Bitte jetzt nicht gehen. Ich brauche Ihre Hilfe. Sie müssen uns helfen, Anton Gerber in der Chronik zu identifizieren.«

»Anton Gerber?«, fragte Ehemann Karl-Heinz.

»Ja, Anton Gerber. Haben Sie ebenfalls von dem gehört?«

»Aber sicher. Der wurd’ ja verdächtigt, die Brände in de Sechzigerjahr’ hier in Winkel gelegt zu habe’.«

»Und er war mit der Weinkönigin Serafina zusammen«, ergänzte Dr. Berger.

Karl-Heinz fuhr fort: »Jo genau. Hab’ ich nie verstande’, dass die schee Frau mit dem komische’ Kerl durchgebrannt is’.«

Kießling schaute derweil wieder auf das Bücherregal und erblickte eine Ortschronik. Er zog die Schrift heraus und hielt sie dem Hausherren hin.

»Hier, ist das die Ortschronik?«

Karl-Heinz nahm das Buch an sich und begann darin zu blättern. Die Chronik war komplett in schwarz-weiß und enthielt alte Bilder der Stadt mit Personen aus den jeweiligen Zeiten. Bei einem Bild, von einer Gruppe Jugendlichen, hielt er an und zeigte mit dem Finger auf eine Person.

»Das is’ Anton Gerber!«

Der Kommissar nahm das Buch und schaute sich konzentriert die Fotografie an. Dr. Berger linste ihm vorsichtig über die Schulter, nahm einen flüchtigen Blick. Vor seinem inneren Auge versuchte Kießling sich vorzustellen, wie Gerber heute mit Mitte siebzig aussehen könnte. Die anderen im Raum blickten Kießling stillschweigend an, wollten den Polizisten in seiner Konzentration nicht stören. Nach einer knappen halben Minute schaute er hoch, sagte aber nichts. Seine Blicke fuhren über das Bücherregal. Plötzlich verharrten diese an einem bestimmten Punkt. Wieder hatte er was entdeckt. Er legte die Chronik beiseite und griff nach einem Buch im oberen Teil des Regals. Es war ein Roman von Richard van Fraisaen. Er drehte sich um und zeigte dem Ehepaar das Buch.

»Hier kaufen wohl alle in derselben Buchhandlung ein?«

Karl-Heinz zuckte mit den Schultern. »Eigentlich nit. Gelese’ hat das keiner von uns beide’. Das habe’ mir seit gut dreißig Jahr’ im Schrank stehe’, seit der Gerber damals wieder mit dene’ Bücher in Winkel aufgetaucht is’.«

Kießling geriet in Schockstarre. Was hatte der Rentner eben gesagt? Hatte er sich vielleicht verhört?

Der Kommissar schüttelte sich und musste seine Gedanken kurz sortieren.

»Moment mal, was haben Sie da gerade gesagt? Der Gerber ist irgendwann in den Neunzigern mit diesen Büchern hier in Winkel aufgetaucht?«

»Stimmt, daran konnt’ ich mich gar nit mehr entsinne’«, kommentierte die Ehefrau.

Karl-Heinz fuhrt fort: »Jo. Hat uns alle gewundert. Ich hätt’ damit gerechnet, dass der eh sofort verhaftet wird – wege’ dieser Brände und so. Hat aber anscheinend keine’ mehr interessiert.«

Kießling war mehr als überrascht über diese Aussage. Er hatte hier mit allem gerechnet, aber nicht mit der Erkenntnis, dass Gerber vor dreißig Jahren mit diesen Büchern in Winkel aufschlug. Der Kommissar versuchte, mehr von dem Ehepaar zu erfahren.

»Können Sie uns mehr darüber sagen? Wo hat er die Bücher verkauft und warum gerade diese?«

Karl Heinz überlegte kurz und antwortete: »Der hat damals die Bücher kostenlos ausgelegt. Beim Bäcker, beim Metzger – hier und da. Er hat überall erzählt’, dass er jetzt in Holland wohnt und für den Autor schafft. Irgendwann wollt’ er wohl ma’ wieder die alte Heimat besuche’ und dabei direkt bissel Werbung für seinen Arbeitgeber mache’ – denk’ ich.«

Jetzt kam Kießling vom Glauben ab. Mit dieser Entwicklung hatte er bei Weitem nicht gerechnet. Er bedankte sich eilig bei dem Ehepaar und bat darum, die Chronik mitnehmen zu dürfen.

Karl-Heinz winkte zustimmend und sagte: »Jo, nehme’ Sie das Ding ruhig mit, liest eh keiner mehr.«

Der Kommissar eilte schnell zur Haustür, öffnete diese und stürmte auf die Straße. Dort wartete er ungeduldig auf Dr. Berger, der sich noch höflich bei dem Ehepaar verabschiedete. Für Kießling dauerte dies eine gefühlte Ewigkeit. Er ließ keine Zeit verstreichen, griff nach seinem Mobiltelefon und wählte Ellas Nummer. In voller Aufregung und Windeseile berichtete er seiner Assistentin die neuesten Erkenntnisse. Indes schlenderte Dr. Berger aus dem Hauseingang.

Kießling rief dem Gerichtsmediziner entnervt entgegen: »Machen Sie schon, wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir müssen zu Ella aufs Revier. Sie beginnt bereits mit den Recherchen, was Gerber in den Niederlanden bei diesem Autor gemacht hat.«

Dr. Berger ging ganz entspannt die Stufen von der Haustür herunter und sagte: »Dann mal los.«

»Das will ich aber auch gesagt haben«, entgegnete Kießling energisch und wollte zu Dr. Bergers Auto eilen. Dieser blieb allerdings auf der Treppe stehen.

Kießling rief entnervt: »Was stehen Sie denn da noch so dämlich in der Gegend rum, kommen Sie in die Gänge!«

»Haben Sie nicht etwas vergessen?«, fragte der Pathologe provokant und winkte dabei mit Kießlings Schuhen.

Der Kommissar blickte verdutzt drein und danach auf seine Füße. Er bemerkte, dass er in Socken auf dem Bürgersteig stand.

Entnervt, aber direkt rief er Dr. Berger entgegen: »Geben Sie schon her!«.

Dieser übergab Kießling mit sichtlicher Genugtuung sein Schuhwerk. Danach ging es schnell zu Dr. Bergers Mercedes und auf dem schnellsten Wege zum Wiesbadener Polizeirevier.