Blutiges Vermächtnis

E s war kalt, spärlich beleuchtet und alles roch nach einem fauligen, modrigen Kellerloch. Der Putz bröckelte von Wand und Decke. Auf dem Boden lag eine schimmlige Matratze, auf der zwei junge Menschen mit Handschellen aneinandergefesselt waren. Ihre Körper zitterten und wurden von Zeit zu Zeit von einem heftigen Zucken heimgesucht. Sie atmeten schwer, waren benommen. Auf ihrer Haut zeichneten sich stellenweise Blessuren ab. Die Haare waren zerzaust und die Bekleidung verschmutzt und vom Dreck des Kellerlochs gezeichnet. Beide befanden sich wie in einer Art Trance, hervorgerufen durch ein starkes Betäubungsmittel, das ihnen ihr Entführer verabreicht hatte. Über viele Stunden wurden sie damit gefügig und ruhig gehalten, bis jetzt die Wirkung langsam nachließ.

Die junge Frau öffnete zuerst die Augen und blickte sich um. Alles war nur schemenhaft zu erkennen. Ihre Sinne waren immer noch nicht ganz beisammen. Vorsichtig tastete sie mit einer Hand umher, um festzustellen, ob dieser Alptraum real oder nur eine Fiktion ihres Gehirnes war. Je länger sie tastete und ihre Fingernägel in die Haut ihres rechten Unterarmes drückte, umso realer wurde die Situation. Angst und Panik standen in ihr Gesicht geschrieben. Sie spürte die Handschellen an ihrem rechten Handgelenk und dass sie an eine andere Person gefesselt war. Schnell erkannte sie ihren Bruder.

Ihre Stimme war kaum präsent, der Rachen schmerzte, doch mit aller Kraft versuchte sie ihren Bruder zu wecken.

»Hendrik! Hendrik, bitte wach auf!«

Ihre Stimme klang panisch und zittrig. Ihr Bruder rührte sich nicht. In ihr stieg die Angst, dass dieser vielleicht gar nicht mehr am Leben wäre und sie an den Arm ihres toten Bruders gekettet war. Sie versuchte schwerfällig, sich aufzusetzen, und zog dabei an dem an sie gefesselten Handgelenks ihres Bruders. Nach einigen weiteren Versuchen begann sich der junge Mann zu rühren. Sein Atmen wurde lauter und er regte sich.

Hendrik drehte den Kopf zu seiner Schwester und fragte noch völlig benommen: »Merle? Wo sind wir? Was ist passiert?«

Diese schüttelte den Kopf und brabbelte mit einem verweinten Unterton: »Ich weiß es nicht. Ich bin auch gerade erst zu mir gekommen. Was ist das hier?«

Hendrik rappelte sich mit mehreren Anläufen ebenfalls hoch. Es war schwierig für ihn. Die Betäubungsmittel hatten ihm genauso schwer zugesetzt wie seiner Schwester. Seine Sehkraft war noch nicht vollends wiederhergestellt und durch schmale Augenlider versuchte er, das Terrain zu sondieren. Immer wieder öffnete er den Mund und fuhr mit der Zunge über seine Lippen. Er hatte durch die verabreichten Medikamente einen staubtrockenen Mund und schmatzte immer wieder durch den klebrigen Speichel. Merle erging es nicht anders. Sie hatte ebenfalls dieses Trockenheitsgefühl. Beide quälten sich mit ihren kraftlosen und ausgezehrten Körpern.

»Was ist das für ein Ort?«, fragte Hendrik.

Merle wusste keine Antwort auf die Frage ihres Bruders. Sie schüttelte nur den Kopf und versuchte inständig, nicht in Panik zu verfallen. Sie sah nach vorn und erblickte einen Stuhl, der mitten im Raum stand. Ein Seil hing daran herunter und Stricke waren an den Seiten noch verknotet, als wäre jemand auf dem Stuhl gefesselt gewesen.

»Sieh dir das an«, sagte Merle zu ihrem Bruder. Sie robbte im Sitzen in Richtung Raummitte, wollte sich das genauer ansehen. Zwangsläufig folgte ihr Hendrik, da sie mit den Fesseln aneinandergekettet waren. Merle drehte den Kopf nah an den hölzernen Stuhl, berührte mit der freien Hand die Seile und musterte die Oberfläche. An der Seite entdeckte die junge Frau Blutspuren. Sie schimmerten im diffusen Licht fast schwarz, waren aber deutlich erkennbar. Es sah so aus, als hätte sich jemand mit aller Gewalt in das Holz des Stuhles gekrallt und die Nägel eingerissen. Dabei verteilte sich Blut an der Stuhlseite. Merle durchflutete ein Meer von Angst. Ihr Hals schnürte sich zu und Tränen, die von einer Panik ausgelöst wurden, füllten ihre Augen. Sie nahm die freie Hand vor den Mund und schluchzte heftig.

»Wir müssen hier raus«, schrie sie lauthals, in der Hoffnung, dass jemand ihrem Hilferuf Gehör schenkte.

Auch Hendrik versuchte jetzt, mit lauten Rufen Aufmerksamkeit für ihre missliche Lage zu erzeugen. Nach mehreren Versuchen verließ das Geschwisterpaar Kraft und Hoffnung. Resigniert robbten sie zurück und sackten wieder auf die faulige Matratze. Ihre Köpfe auf die Brust gesenkt ergaben sie sich der offensichtlichen Aussichtslosigkeit ihrer Lage. Plötzlich drang ein Geräusch zu ihnen durch, das ihnen in den Minuten nach dem Aufwachen aus ihrer Ohnmacht noch nicht zu Ohren gekommen war. Der Fußboden über ihnen knirschte und es schien sich jemand darauf zu bewegen. Umgehend fassten sie wieder Hoffnung und schrien sich die Seele aus dem Leib. Auf der anderen Seite des Raumes öffnete sich in der Decke eine Luke, zu der eine hölzerne Treppe führte. Diese lag gänzlich im Dunkeln, daher war ihnen der Ausgang vorher nicht aufgefallen. Durch die Öffnung drang etwas Licht und der Umriss einer Person war erkennbar, die die Stufen herunterkam. Merle und Hendrik hörten auf, zu rufen. Sie schwebten irgendwo zwischen Hoffnung und Angst, was sie jetzt erwartete. War es ein Retter oder ihr Entführer?

Eine tiefe Stimme begann zu sprechen: »Die Geschwister sind erwacht, wie schön. Ich hoffe, ihr genießt euren Aufenthalt?«

Merle und Hendrik hielten die Luft an. Sie wussten nicht, was sie ihrem Gegenüber auf diese Floskel entgegnen sollten. Die junge Frau fand als Erste ihre Worte wieder.

»Wer sind Sie und was wollen Sie? Wo sind wir?«, sagte sie mit einem panischen Unterton.

Der Entführer setzte ein diabolisches Lachen voran und antwortete: »Wer ich bin, tut nichts zur Sache. Ihr seid genau da, wo ihr hingehört, in der Bußkammer Eures Vaters.«

Hendrik horchte auf. »Unseres Vaters? Was meinen Sie damit? Wo ist unser Vater?«

»Wo euer Vater ist, spielt keine Rolle mehr. Er hat das geerntet, was er im Leben ausgesät hat, und ihr nehmt nun teil an seinen Geschichten, die er so liebte.«

Jetzt brach es aus Merle heraus. Sie schrie dem Entführer entgegen: »Haben Sie unserem Vater etwas angetan?« Dabei sprang sie auf, wurde aber sofort wieder von der Handfessel zurückgerissen.

Der Entführer kam entschlossen auf beide zu und fauchte: »Er hat sein elendes Leben so ausgehaucht, wie er es geführt hat. Nichts sehend und angekettet.« Dabei zeigte er auf den Stuhl, den die Geschwister bereits entdeckt hatten. Merle brach bei dem Anblick in Tränen aus. Ihr wurde klar, dass der Mann vor ihnen wohl ihren Vater ermordet hatte und das genau in diesem Raum.

Hendrik nahm seine letzte Kraft zusammen und wollte den Entführer angreifen. Auch er wurde von der Handfessel gebremst. Dieses Mal packte der Peiniger zu, erwischte Hendrik am Hals und würgte ihn. Die Kräfte verließen den jungen Mann. Merle versuchte, ihrem Bruder zu helfen.

»Lassen Sie ihn los!«, brüllte sie aus voller Kehle. Es half nichts.

Der Entführer zog eine Spraydose hervor und sprühte Merle eine Flüssigkeit ins Gesicht. Diese sackte sofort zusammen, schloss die Augen und fiel in einen Betäubungsschlaf. Jetzt wandte er sich zu Hendrik, den er immer noch am Hals gepackt hielt.

»Siehst du, so einfach ist das. Versucht es gar nicht erst. Euer Schicksal ist geschrieben, bedankt euch bei eurem Vater, wenn ihr ihn in der Hölle trefft.«

Darauf warf er Hendrik mit einem wuchtigen Hieb ebenso auf die Matratze. Dieser wollte mit letzter Kraft noch mal hochkommen, soweit die Handfessel es erlaubte, doch er landete mit seinem Kopf nur in einer weiteren Wolke des K.-o.-Sprays, das ihm der Entführer entgegensprühte. Er fiel wieder zurück, landete auf dem Rücken und war ebenso wie seine Schwester seiner Sinne beraubt.

Der Entführer richtete sich auf, betrachtete einen Moment lang das Geschwisterpaar. Dann wischte er sich abfällig mit der Hand über das Gesicht, drehte sich um, ging durch den Raum und die Kellertreppe wieder hinauf. Er verschwand durch die Luke und ließ diese mit einem lauten Krachen zufallen. Das diffuse Licht im Keller erlosch und die zwei jungen Menschen blieben in der Dunkelheit zurück.