Keine Gnade
K ießlings Büro im Wiesbadener Polizeirevier glich einem Hühnerhaus. Überall war Geschnatter durch lautes Telefonieren zu hören, Akten wurden durch die Gegend geschleppt und inmitten des ganzen Gewusels versuchte der Kommissar zu koordinieren, was zu koordinieren ging. Ständig schickte er Bürohelfer in den Aktenkeller, um weitere Papiere zu holen, wenn ihm wieder etwas in den Sinn kam. Es ging ihm insbesondere um alte Strafakten, worin vielleicht ein Hinweis über die Beteiligung von Anton Gerber verzeichnet war. In den letzten Tagen hatten sie viel über das Raubein von Winkel erfahren, wussten aber am Ende des Tages nichts Greifbares. Er war ein Raufbold, vielleicht Brandstifter, der Liebhaber einer wunderschönen Weinkönigin, und eine Geschichte reihte sich an die nächste. Aber war er auch imstande, zu töten? Wieso hatte es ihn in die Niederlande verschlagen? Wie war er an den Autor Richard van Fraisaen gelangt und was verband die beiden miteinander? Dieser Part war Ella zugeteilt. Sie telefonierte wie eine Wilde mit niederländischen Behörden und Kollegen, um mehr über die Verbindung von Gerber und van Fraisaen herauszufinden. Teilweise war sie am Rande der Verzweiflung, da die örtlichen Behörden eine ziemlich lange Leitung zu haben schienen, wenn es um Informationsbeschaffung ging. Auf der anderen Seite beruhigte sie dieser Fakt, da sie damit den deutschen Behörden in nichts nachstanden. In einer Mischung von Entspannung und Entnervung blubberte sie vor sich hin:
»Gott sei Dank, ich dachte, wir hätten den lahmarschigsten Staatsapparat der Welt.«
Kießling bekam das Elend mit und kommentierte süffisant: »Nenn mir das Land, wo sich die Sesselfurzer auf den Behörden nicht den ganzen Tag in der Nase bohren, dahin wandere ich aus.«
»Ich hab gehört, in Australien werden einfache behördliche Dinge abends im Pub geregelt.«
Kießling hob den Kopf und schaute seine Assistentin mit großen Augen an.
»Ella, pack die Koffer. Wir holen noch Arnold und Willi ab und wandern nach Australien aus!«
Die Polizistin grinste und bemerkte: »Du hast Dr. Berger vergessen.«
»Bist du wahnsinnig, der im entspannten Australien! Ich garantiere dir, mit Dr. Berger eine Woche in Down Under und wir fliegen hochkant aus dem Land.«
Ella grinste. Die kleine, kurzweilige Konversation brachte die beiden kurzfristig auf andere Gedanken. Schnell wurde die Polizistin aber wieder in die Realität zurückgeholt. Sie hielt den Telefonhörer in der Hand, vom Ohr weggedreht, da im Hintergrund das unerträgliche Lied einer Warteschleife dudelte. Diese wurde beendet und eine Person ging ran. Ella hielt umgehend den Hörer wieder an ihr Ohr und versuchte weiterhin ihr Glück bei den Recherchen um van Fraisaen und Gerber in den Niederlanden.
Kießling nahm wieder seinen Kugelschreiber zwischen die Zähne und wühlte weiter in einem Papierberg von alten Akten.
Draußen auf dem Gang öffnete sich indes die Fahrstuhltür. Ein ganz in schwarz gehüllter Mann trat auf den Gang. Er trug einen schweren Mantel mit hohem Kragen. Dieser war aufgestellt und verdeckte zwei Drittel seines Hauptes. Auf dem Kopf ein Hut, der tief ins Gesicht gezogen war, und lederne Handschuhe an den Händen. Der Mann stand auf dem Gang und beobachtete das Treiben der Beamten. Er schien amüsiert, denn seine Mundwinkel verzogen sich unter dem Schutz seiner Bekleidung zu einem Lächeln. Normalerweise würde eine derart seltsam gekleidete und mysteriös anmutende Person sofort auffallen, doch heute hatten alle nur die von Kießling verhängte Recherchearbeit im Sinn. Der Mann ging langsam über den Gang. Prüfend blickte er in die Büros, wo jeder seinen Aufgaben nachging. Die Wände im Polizeirevier waren gläsern und so konnte man von jedem Punkt auf der Etage aus in die verschiedenen Büros der Beamten schauen. Langsam bewegte sich der Mann immer weiter. Seine prüfenden Blicke schienen etwas oder jemanden zu suchen. Nach einigen Metern blieb er stehen. Er hatte das Ziel seines Interesses gefunden. Seine Augen waren durch die Scheiben auf Kommissar Kießling gerichtet.
Leise murmelte er: »Da ist er ja, der Held von Winkel!«
Mit seiner linken Hand zog er seinen Mantel etwas vom Körper weg. Mit der rechten Hand fuhr er in den Mantel und griff in die Innentasche. Er zog einen Umschlag heraus. Dieser war etwas zerknittert und leicht verdreckt. Mit schwarzer Tinte stand etwas darauf geschrieben. Der Mann schaute sich um. Er schien die Personen auf dem Gang genau zu mustern. Am Kopierer erspähte er einen jungen Polizisten, der sehr unbeholfen versuchte, einen Stapel Akten zu vervielfältigen. Immer wieder stöhnte dieser, wenn das Gerät nicht so funktionierte, wie er wollte. Dazu fielen ihm immer wieder Blätter aus der Hand auf den Boden, die er daraufhin mit einem unwilligen Laut zurück in den Stapel sortierte.
Der dunkel gekleidete Mann schritt auf den Polizisten zu und tippte ihm von hinten auf die Schulter. Dieser ließ vor Schreck den ganzen Stapel von Papieren auf den Boden fallen. Entnervt drehte er sich um.
»Verdammter Mist, jetzt kann ich noch mal anfangen«. Er beugte sich nach unten und raffte die Papiere zusammen, dabei schaute er nach oben und fragte: »Und was wollen Sie, warum schleichen Sie sich überhaupt so an mich ran?«
Der Mann entschuldigte sich höflich: »Ich bitte vielmals um Verzeihung. Ich wollte Sie nicht erschrecken und schon gar nicht ein derartiges Chaos bei Ihnen verursachen.«
Der junge Mann entspannte sich ein wenig. »Ist schon ok, das Chaos war bereits vorher da. Was kann ich für Sie tun?«
Der Mann hielt dem Polizisten den Umschlag entgegen. »Ich habe hier eine wichtige Nachricht für Ihren Kommissar Kießling. In diesem Umschlag sind wichtige Informationen enthalten. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie ihm den Umschlag überbringen könnten.«
Der Polizist griff nach dem Umschlag und schaute etwas irritiert. »Ok, kein Problem. Aber Sie könnten ihm den Umschlag auch selbst geben. Herr Kießling ist da hinten im Büro.« Dabei zeigte er durch die Scheiben über zwei Räume hinweg in Kießlings Büro.
Der Mann wiegelte ab. »O nein. Es scheint, er hat gerade unglaublich viel zu tun. Da möchte ich nicht stören. Zudem sind in diesem Umschlag wirklich wichtige Informationen, und ich denke, es steht einem jungen Polizisten wie Ihnen gut zu Gesicht, dem Kommissar diese wichtigen Neuigkeiten persönlich zu überbringen.«
Diese Aussage gefiel dem jungen Polizisten. Endlich eine Aufgabe, die über den stupiden Kopierdienst hinausging. Er hielt offensichtlich sensibles Material in der Hand und könnte dieses exklusiv dem Kommissar überbringen. Das würde ihm sicherlich eine besondere Aufmerksamkeit verschaffen.
Er stimmte dem dunkel gekleideten Mann dankbar zu. »Sie haben recht. Ich denke, ich werde es Herrn Kießling gleich persönlich überbringen und die Dringlichkeit betonen.«
Der Mann grinste, nickte und sagte honorierend: »Guter Mann!«
Schnell drehte sich der frisch motivierte Polizist um und schlug die Richtung zu Kießlings Büro ein. Nach einem Meter blieb er stehen, drehte sich noch mal zu dem Mann um und rief: »Warten Sie doch einfach hier. Wenn der Kommissar noch eine Frage hat, kann ich Sie holen kommen!«
Der dunkle Mann kommentierte dies wortlos, indem er die Hand hob und winkte.
Der Polizist bahnte sich seinen Weg durch die Büros bis zu dem Raum, in dem Kießling und Ella ihren Pflichten nachgingen. Er versuchte, auf sich aufmerksam zu machen.
»Entschuldigung, Herr Kommissar?«, brabbelte er in Richtung Kießling.
Dieser nahm keine Notiz von dem jungen Kollegen, rannte weiter nachdenklich im Zimmer herum, biss auf seinem Kugelschreiber herum und war völlig versunken in seinen Gedanken. Ella bekam ebenfalls nichts mit. Sie quälte sich weiter am Telefon und versuchte vergeblich, mit niederländischen Behörden in einen konstruktiven Austausch zu gelangen.
Der junge Polizist probierte es erneut: »Entschuldigung … Herr Kießling, ich hab hier was für Sie.«
Jetzt hatte der Kommissar mitbekommen, dass noch jemand im Raum war und etwas von ihm wollte.
»Was ist?«, fragte er unsanft.
Der junge Polizist wirkte eingeschüchtert von Kießlings rauem Ton. Mit leicht zittriger Stimme antwortete er: »Ich habe hier eine wichtige Nachricht für Sie.«
Kießling zeigte mit dem Finger auf den Schreibtisch und antwortete: »Legen Sie’s da vorn hin.«
Daraufhin begann er wieder zu grübeln. Der junge Polizist stand weiterhin im Raum und hielt den Umschlag in der Hand. Ihm ging durch den Kopf, dass dieser doch wichtige Informationen enthielt und er auserkoren war, diese dem Kommissar zu überbringen. Kießling bemerkte, dass sein junger Kollege immer noch wie eine Salzsäule im Raum stand und an dem Umschlag festhielt.
»Haben Sie was an den Ohren? Legen Sie das, was auch immer es ist, auf den Schreibtisch und gehen Sie dann wieder an den Kopierer.«
Der junge Mann begann zu stottern: »Aber Herr Kommissar, mir wurde der Umschlag mit der expliziten Anweisung übergeben, diesen Ihnen persönlich auszuhändigen. Er enthält wichtige Informationen.«
Jetzt wurde Kießling nachdenklich. Sein berühmtes Bauchgefühl begann zu arbeiten und suggerierte ihm, dass hier etwas im Gange war. Wortlos ging er auf den jungen Mann zu und blickte ihm dabei prüfend ins Gesicht. Ohne hinzusehen, nahm er ihm den Umschlag aus der Hand. Dann trat er einen Schritt zurück und schaute dabei weiterhin den Kollegen an, der durch Kießlings stechenden Blick immer nervöser wurde. Jetzt blickte der Kommissar auf den Umschlag, sah die verschmutzte Oberfläche und drehte ihn um. Dann las er den darauf geschriebenen Text. Er öffnete seine Augen ganz weit, begann zu schlucken. Sein Herz schlug heftig, wie nach einem erhaltenen Stromstoß. Auf dem Umschlag stand in kritzligen Lettern »Serafinas Leiden«.
Kießling riss den Umschlag auf. Ella bemerkte die Anspannung bei ihrem Chef, legte den Telefonhörer weg, in dem wieder einmal die unerträgliche Melodie einer Warteschleife dudelte, und kam um den Schreibtisch herum zu Kießling. Dieser zog aus dem aufgerissenen Umschlag eine Fotografie heraus. Sofort erkannte er die Kinder von Richard van Fraisaen. Sie lagen aneinandergekettet auf einer augenscheinlich alten Matratze in einem Kellerverlies. Die Augen geschlossen und – wie es aus aussah – betäubt. Der Kommissar drehte die Fotografie herum.
Auf der Rückseite stand geschrieben: »Mit ihnen endet das nächste Kapitel des Leidens!«
»Wo haben Sie das her?«, fragte Kießling den Beamten in lautem Ton.
Dieser hatte Selbstvertrauen getankt, als er bemerkte, dass der Inhalt in der Tat wichtig war und er der Überbringer sein durfte.
Mit breiter Brust antwortete er: »Ein dunkel gekleideter älterer Herr hat mir den Umschlag übergeben«. Dann drehte er sich um und zeigte mit dem Finger in Richtung Gang. »Er steht da vorn!«
Synchron richteten sich Ellas und Kießlings Blicke in Richtung des Fingerzeigs.
»Wo, verdammt noch mal?«, fragte Kießling in jetzt sehr bestimmendem Ton.
Der Mann war verschwunden und die Unsicherheit kehrte in den jungen Polizisten zurück. Dieser begann zu stammeln: »Na … na da vorn. Da war er zumindest.«
Kießling warf das Bild auf den Schreibtisch und rannte wie von einer Tarantel gestochen durch die Büroräume auf den Gang. Hektisch blickte er sich um. Ella und der Polizist folgten ihm. Der Kommissar rannte zum Fahrstuhl, drückte hektisch auf den Knopf. Dieser war allerdings im Erdgeschoss und die Türen blieben geschlossen. Er rannte in das nächstgelegene Büro und blickte runter auf den Parkplatz. Mit Adleraugen versuchte er den vom Kollegen beschriebenen Mann auszumachen. Er konnte nichts entdecken. In diesem Moment gingen die Fahrstuhltüren auf. Er packte den jungen Polizisten am Ärmel, schleifte diesen bis zum Fahrstuhl und zog ihn hinein. Er drückte wie besessen auf den Erdgeschossknopf, bis sich die Türen schlossen. Ella hatte sich mittlerweile aufgemacht, andere Kollegen zu aktivieren, um schnellstmöglich eine Fahndung nach dem Mann einzuleiten. Unten angekommen rannte Kießling aus dem Fahrstuhl hinaus und durch das Foyer direkt auf den Parkplatz vor dem Polizeirevier. Dort drehte er sich mehrfach um die eigene Achse und versuchte, den Verdächtigen auszumachen. Der junge Polizist war dem Kommissar gefolgt und schaute sich ebenfalls auf dem Parkplatz um. Nach einigen Minuten resignierte Kießling. Ihm wurde klar, dass der ominöse Mann wohl über alle Berge war. Vorwurfsvoll blickte er seinen jungen Kollegen an. Der realisierte mittlerweile, dass er Mist gebaut hatte, indem er dieses seltsame Treffen nicht hinterfragt hatte.
Kießling war völlig außer Atem. »Sie Spezialist, haben Sie keinen Gedanken daran verschwendet, den Überbringer dieser Nachricht nach seinem Namen«, der Kommissar wurde lauter, »oder irgendwas zu fragen?«
Der junge Polizist war vollends eingeschüchtert und stammelte: »Er sagte doch, es wäre wichtig und ich könnte Ihnen …«
Kießling unterbrach den jungen Mann mit einer genervten Handbewegung und schnauzte ihn an: »Jaja, ich kann’s mir schon denken. Gehen Sie wieder rein und warten oben auf mich. In der Zwischenzeit machen Sie sich Gedanken, wie der Kerl ausgesehen hat.«
»Ist in Ordnung«, stammelte dieser und ging zögerlich und geknickt zurück ins Polizeirevier.
Ella stieß in der Zwischenzeit zu ihrem Chef.
»Ich hab’ den Mann zur Fahndung ausgeschrieben. Wir checken die gesamte Umgebung um das Revier.«
Kießling schüttelte den Kopf.
»Ach, das kannst du doch vergessen. Wenn dieser Typ so dreist war, ins Revier zu spazieren, um sich die größtmögliche Nebelkerze als Nachrichtenüberbringer auszusuchen, und dann anscheinend wieder seelenruhig verschwunden ist, hat der sicherlich alles gut geplant.«
»Wir checken noch die Videos, vielleicht können wir auf den Bändern mehr erkennen«, sagte Ella und wollte damit einen Funken Hoffnung erhalten.
Kießling war sich aber sicher, dass auch dies nichts bringen würde. Seinem Bauchgefühl und seiner Überzeugung nach handelte es sich hier nicht um Leichtfertigkeit, sondern scharf kalkuliertes Kalkül. Der Entführer und vermeintliche Mörder wollte ihm eine Botschaft senden und hatte dies eindrucksvoll geschafft.