Der Kampf gegen die Zeit

M it Hochdruck arbeiteten alle daran, den mysteriösen Mann zu identifizieren oder wenigstens Anhaltspunkte über dessen Aussehen zu bekommen. Die Überwachungsvideos vom Revier wurden minutiös gesichtet. Auf keinem der Bilder war der Mann deutlich zu erkennen. Immer wieder verdeckten Kragen oder Hut sein Gesicht. Lediglich auf Größe und Statur konnten Rückschlüsse gezogen werden. Ein Phantomzeichner saß bei dem Beamten, der von dem dunklen Mann als Überbringer der Nachricht auserkoren worden war. Nachdem dieser allerdings in drei Anläufen drei verschiedene Versionen des Gesichtes lieferte, verwarf Kießling auch diese Möglichkeit. Letzter Anhaltspunkt war die Fotografie. Die Hoffnung, darauf DNA-Spuren festzustellen, zog der Kommissar erst gar nicht in Betracht. Die Forensiker führten zwar ihre Untersuchungen durch, doch Kießling versprach sich nichts davon. Er hielt den Unbekannten für zu gerissen, derartige Spuren zu hinterlassen.

Mit jeder Minute, die verstrich, wurde der Kommissar nervöser. Auf der Karte befand sich außer dem bedrohlich anmutenden Satz, dass mit den van Fraisaen Kindern ein weiteres Kapitel geschlossen wird, kein weiterer Anhaltspunkt. Es wurden keine Forderungen gestellt oder gar Hinweise geliefert, wann die Tat vollzogen werden würde. Somit ging Kießling davon aus, dass bereits jetzt in diesem Moment die Uhr unaufhaltsam tickte und das Leben der Sprösslinge des ermordeten Autors auf Messers Schneide stand.

Er rief Ella zu sich. »Ruf Arnold an. Er und Willi sollen sich hinter die Bücher klemmen und alles liefern, was mit einem Geschwister- oder Pärchenmord zu tun hat.«

Ella zögerte keinen Moment, suchte sich eine ruhige Ecke und rief ihren Liebsten an. Dieser ging nach kurzem Läuten an sein Handy. Arnold hörte am Telefon sofort Ellas Anspannung heraus. Sie musste ihm gar nichts erklären, er spürte, dass die Situation bitterernst war und es jetzt um Leben und Tod ging. Trotzdem erläuterte sie ihm ausführlich die Fakten, damit er gänzlich im Bilde war. Während Ella den Sachverhalt schilderte und was auf dem Polizeirevier vorgefallen war, lief es Arnold eiskalt den Rücken runter. Er erinnerte sich an die Vergangenheit, in der sie alle gemeinsam derartige kriminelle Gegenspieler bekämpfen mussten. Aus Erfahrung wusste er um die Unberechenbarkeit dieser ruchlosen Menschen. Seine Motivation stieg dennoch mit jedem Satz, den Ella über den Fall ins Telefon sprach. Die Ängste rückten in den Hintergrund und wurden von dem Ansporn abgelöst, die Kinder des ermordeten Autors zu retten.

Nachdem das Gespräch beendet war, rannte Arnold sofort ins Nachbarhaus zu Willi. Mit diesem und mit den Büchern von van Fraisaen hatte er sich bereits die Nacht zuvor um die Ohren geschlagen. Nach mehreren Stunden hatten die beiden allerdings eine Pause einlegen müssen. Arnold klopfte an die Eingangstür und ein völlig verschlafener Willi öffnete diese.

»Ei Bub, schon wieder auf de’ Beine?«, fragte der Rentner schlaftrunken.

Hektisch antwortete Arnold: »Wir müssen weitermachen. Anscheinend gab es eine Entführung und zwei Menschen sind in Lebensgefahr!«

Bei diesen Worten war Willi sofort hellwach. Augenblicklich zog er den jungen Winzer in den Hausflur und warf die Haustür hinter ihm zu. Ohne zu zögern eilten die beiden ins Wohnzimmer und setzten sich wieder an die Bücher von van Fraisaen, um einen Anhaltspunkt zu finden.

Auf dem Polizeirevier stand Kießling mittlerweile hilflos im Raum. Er überlegte, welche Möglichkeiten er noch nicht ausgeschöpft hatte. Wieder mal nahm er das Foto von dem entführten Geschwisterpaar in die Hand und starrte verbissen darauf. Ella gesellte sich zu ihrem Chef und blickte ebenfalls darauf.

Mit druckvollen Worten sagte Kießling: »Warum zum Teufel macht dieser Kerl das? Was will er?«

Ella zuckte mit den Schultern. Sie suchte nach aufbauenden Worten, um Kießling moralische Unterstützung entgegenzubringen. Sie kannte den Kommissar schon viele Jahre und wusste, wie sehr ihm diese Situation an die Substanz ging. Natürlich wollte die Polizistin selbst auch nichts weniger, als den jungen Menschen das Leben zu retten. Bei Kießling war ihr jedoch klar, dass dieser sich diese Situation derart zu eigen machte, als säße er selbst in der Gefangenschaft.

Vor diesem Hintergrund antwortete Ella dem Kommissar: »Quäl dich nicht mit der Frage nach dem ›Warum‹, wann hat ein Verbrecher jemals etwas Rationales gemacht?«

»Das ist mir klar. Ich will seinen Antrieb verstehen. Nur dann haben wir eine Chance, die van Fraisaen Kinder zu retten. Wir müssen hinter die Fassade blicken.«

Ella stimmte Kießling zu. Was trieb diesen Schergen an? Das galt es zu ergründen. Über allem stand aber jetzt für den Moment das Leben der Entführten.

Der Kommissar nahm sich wieder die Fotografie vor. Er dachte an seine eigenen Worte, den Blick hinter die Fassade zu wenden. Somit blendete er auf dem Bild das Geschwisterpaar aus und schaute sich jeden Zentimeter rund um die Entführten an. Ein Stück der Wand in ihrem Verließ war ebenfalls abgebildet. Dieses erregte Kießlings Interesse.

»Ella, schau dir dieses Mauerstück an. Wie sieht das deiner Meinung nach aus?«

Die Polizistin nahm das Bild in die Hand und sah sich konzentriert den Bildausschnitt an.

Sie folgerte: »Es sieht nicht nach Mauerwerk aus, eher wie eine Felswand.«

Der Kommissar nickte und antwortete: »Das denke ich auch. Das ist ein Felsenkeller.«

Ella gab ihrem Kollegen recht, wusste aber noch nicht, wie ihnen diese Information weiterhelfen könnte. In ihrem Umkreis gab es mit Sicherheit Tausende dieser Keller. Das wäre gelinde gesagt die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

Sie fragte nach: »Mag sein, aber was bringt uns diese Information? Wir können doch nicht alle Felsenkeller der Region durchforsten.«

Kießling wurde energisch. »Das ist mir klar, aber überleg doch mal. Felsenkeller kommen vorwiegend im Rheingau vor. Die Leiche von van Fraisaen wurde am Oestricher Kran gefunden. Sie wurde post mortem aufgehängt. Demnach könnte das Opfer auch in diesem Keller umgebracht worden sein.«

Jetzt ging Ella ein Licht auf. Sie fuhr fort: »Stimmt. Das muss doch in der Nähe gewesen sein. Das würde den Raum der Möglichkeiten einschränken.«

Kießling blickte sich hektisch um, suchte nach Dr. Berger. Er erspähte ihn an der Kaffeemaschine.

»Dr. Berger!«, rief er lauthals durch die Gänge. Der Pathologe merkte auf und sah sich nach dem Kommissar um. Dieser winkte hektisch und signalisierte, der Gerichtsmediziner solle sofort zu ihm kommen.

Dr. Berger stieß zu Ella und Kießling. »Was haben Sie, Herr Kommissar?«

Kießling führte aus: »Sie sagten in der Gerichtsmedizin, van Fraisaen sei kurz vor dem Aufhängen umgebracht worden.«

Der Pathologe bestätigte dies mit einem Kopfnicken.

Kießling fuhr fort: »Wie groß war Ihrer Meinung nach die Zeitspanne zwischen dem Mord und dem Aufhängen?«

Dr. Berger wiegte den Kopf hin und her. »Das lässt sich nur schwer sagen.«

»Schätzen Sie so genau wie möglich«, sagte Kießling energisch.

Dr. Berger überlegte und schätzte: »Maximal eine Stunde!«

»Maximal eine Stunde«, wiederholte der Kommissar und folgerte weiter: »Dann muss der Mord irgendwo um Oestrich-Winkel verübt worden sein.«

Kießlings Gedanken waren jetzt klar und für alle nachvollziehbar. Voll konzentriert und mit höchster Motivation schilderte er Ella und Dr. Berger seine Theorie. Van Fraisaen musste in der Gegend um den Oestricher Kran umgebracht worden sein. Der Täter nutzte anscheinend einen Felsenkeller. Dieser konnte aber nicht direkt im Ort liegen. Anwohner hätten sicher mitbekommen, wenn im Keller nebenan ein Mord verübt, geschweige denn eine Leiche rausgeschleppt worden wäre. Dazu kam, dass der Täter aller Wahrscheinlichkeit nach an diesem Ort die Kinder von van Fraisaen gefangen hielt. Zwei betäubte Erwachsene in einen Keller zu verfrachten, in einer kleinen Stadt wie Oestrich-Winkel, würde sicher zu jeder Tages- oder Nachtzeit jemandem auffallen. Zumindest wäre die Gefahr groß, dass ein aufmerksamer Bürger etwas mitbekäme. So wie Kießling den Täter einschätzte, würde dieser das Risiko niemals eingehen. Demzufolge konnte angenommen werden, dass der Keller außerhalb des Ortes lag. Viele Möglichkeiten kamen nicht infrage.

»Wir brauchen jetzt Ortskundige«, rief Kießling und gab weitere Anweisungen.

»Ella, ruf auf der Gemeindeverwaltung an. Bring in Erfahrung, ob in oder um Winkel ein verlassenes Weingut, Bauernhof oder sonstiges existiert«. Dann schaute er zu Dr. Berger. »Doktor, klemmen Sie sich ans Internet und suchen auf diesen Satellitenkarten, ob Sie was finden, was Ihrer Meinung nach im Umkreis um den Oestricher Kran als Tatort in Frage kommt.«

Nachdem der Kommissar die wichtigen Aufgaben verteilt hatte, griff er zu seinem Mobiltelefon und wollte Arnold anrufen. Dieser kam ihm zuvor. In seiner Hand klingelte das Handy und der Name des Winzers blinkte vom Display.

Der Kommissar nahm ab. »Was für ein Zufall, ich wollte euch gerade anrufen und fragen, ob ihr was gefunden habt.«

Aufgeregt rief Arnold auf der anderen Seite ins Telefon: »Willi hat etwas gefunden. In einem der ersten Bücher von van Fraisaen gibt es einen Pärchenmord.«

Kießling wurde hellhörig und schüttelte fast schon ungläubig den Kopf.

»Das glaub ich jetzt nicht«, resümierte der Polizist und fragte: »Was passiert in dem Buch?«

»Ich geb dir Willi. Er hat die Passage gelesen.«

Arnold reichte sein Handy an den Rentner weiter.

»Gude, Herr Kommissar, mir habe do ’was gefunde’.«

»Das hat mir Arnold schon erzählt. Lass hören«, sagte Kießling platzend vor Neugier.

»Ei, pass uff, der Mörder hat ein Pärche’ entführt und hält das in einem Keller gefange’. Der Kerl spielt in dem Buch Spielche’ mit der Polizei. Per Bote hat der en Hinweis geschickt und gibt der Polizei nur ein paar Stunde’ Zeit, das Pärche’ zu finde’.«

Kießling konnte nicht glauben, was er von Willi hörte. In dem Buch stand der Hergang fast exakt in der Form, wie sie ihn heute erlebt hatten. Allerdings hatte ihnen der Mörder keine Frist zum Auffinden der Opfer gegeben. Kießling folgerte, dass dies nicht Teil seines Planes war, sondern es ihm lediglich darum ging, die van Fraisaen Kinder wie in der Buchvorlage ihres Vaters zu ermorden.

Aufgeregt fragte der Kommissar weiter: »Wie werden sie umgebracht?«

Willi wurde ernst. Er ahnte bereits, dass das, was er jetzt sagte, womöglich Realität werden könnte. Er schluckte zuerst, bevor er Kießling den Mord aus dem Buch skizzierte.

Er nahm alle Kraft zusammen und sagte: »Er hat sie im Keller lebend begraben.«

Kießling wurde kreidebleich. Sofort schossen ihm Bilder durch den Kopf, wie der Täter die beiden betäubten jungen Menschen in einem Kellerloch lebendig verscharrte.

Er fasste sich und rief zu Ella und Dr. Berger: »Habt ihr etwas gefunden?«

Ella schüttelte den Kopf. Sie schien niemanden auf der Gemeindeverwaltung zu erreichen. Dr. Berger winkte den Kommissar aufgeregt zu sich. Kießling eilte zu dem Pathologen. Dieser tippte wie wild auf einen Punkt oberhalb der Weinberge von Winkel.

»Schauen Sie, Herr Kießling. Da ist irgendwie ein verlassener Hof.«

»Wo?«, fragte Kießling aufgewühlt.

Der Pathologe zeigte mit dem Finger auf die digitale Karte im Monitor.

»Hier. Ein Stück weiter an Schloss Vollrads vorbei im Wald.«

Der Kommissar schaute genauer. Tatsächlich schien im Wald so etwas wie ein verlassener Hof zu stehen.

»Das könnte etwas sein. Wie kommen wir da hin?«

Dr. Berger versuchte, einen Weg auszumachen, über den dieser Fleck auf der Karte zu erreichen wäre.

Kießlings Mobiltelefon war immer noch eingeschaltet und mit Willi verbunden. Der hatte auf der anderen Seite alles mitbekommen und rief lautstark ins Handy.

»Max … Hey Max … Hört mich jemand?«

Kießling bemerkte, dass Willi noch in der Leitung war und versuchte, auf sich aufmerksam zu machen.

Er wollte sich bedanken und dann so schnell wie möglich einen Einsatz nach Winkel vorbereiten.

»Willi? Du bist noch dran? Vielen Dank für deine Hilfe, du hast uns wieder mal sehr geholfen.«

Daraufhin wollte Kießling auflegen. Willi hingegen brüllte ins Telefon: »Ei, du blöder Ochs’, leg’ bloß nit uff – ich weiß, wo das is’!«

Kießling zog reflexartig den Finger vom roten Hörersymbol, das das Gespräch beendet hätte. Fast schon ungläubig fragte er ins Telefon: »Du weißt, wo das ist?«

»Jo! So wie das der Doktor beschriebe’ hat, is’ das en uralte, verlassene Hof, wo mir in de’ Siebzigerjahr’ schon Partys gefeiert habe!«

Der Kommissar schüttelte den Kopf. Offensichtlich war Willi einmal mehr das rettende Zünglein an der Waage.

Er rief ins Telefon: »Dann macht euch auf den Weg nach Winkel. Wir treffen uns …« Kießling stockte und überlegte sich einen Treffpunkt. Hilflos blickte er Dr. Berger an. Dieser zeigte zielsicher auf einen Punkt auf der Karte.

Der Kommissar nickte und gab Willi Anweisung: »Wir treffen uns vor Schloss Vollrads!«

In Windeseile organisierte er eine Einsatztruppe. Dr. Berger war skeptisch. Gegenüber Kießling äußerte er diskret seine Sorgen, ohne dass die mobilisierten Polizeibeamten etwas mitbekamen.

»Ihnen ist doch klar, dass dies nur eine sehr vage Vermutung ist, dass die van Fraisaen Kinder dort sind?«

Kießling ging nah an Dr. Berger heran und wisperte ihm zu: »Das ist mir egal. Wir haben nur diesen Anhaltspunkt, und wenn das lediglich eine Minichance für das Überleben der jungen Leute darstellt, dann versuchen wir das jetzt!«

Dr. Berger verstand Kießlings Aktionismus. Sei die Chance noch so klein, so war es an ihnen, diese Möglichkeit mit allem, was in ihrer Macht stand, in Betracht zu ziehen.

Aus dem Hintergrund eilte Ella zu Kießling und Dr. Berger. Aufgeregt wedelte sie mit einem Blatt Papier in der Hand.

»Hier, seht euch das an!«, sagte die Polizistin mit klopfendem Herzen.

Kießling nahm das Blatt in die Hand und fragte seine Assistentin: »Was ist das?«

Überschwänglich antwortete Ella: »Das ist ein Auszug vom Grundbuchamt. Für die Recherchen zu Anton Gerber hatte ich dort angefragt, ob es in Winkel und Umgebung Grundstücke oder Gebäude gibt, die auf den Familiennamen laufen. Ich hatte die Antwort noch ungelesen in meinen E-Mails. Jetzt seht euch das an!«

Sie zeigte auf ein eingezeichnetes Flurstück, das auf dem Dokument beschrieben war. Kießling hielt es sofort neben die Karte, die immer noch auf dem Computermonitor schimmerte. Es war dasselbe Grundstück und in der Spalte Eigentümer prangte ein Name: Anton Gerber!

Jetzt gab es für Kießling kein Halten mehr. Wie ein Feldherr sammelte er die Beamten um sich und scheuchte diese zu den Einsatzfahrzeugen. Keine fünf Minuten später rollte der Tross auf direktem Wege in den Rheingau.

Vor Schloss Vollrads warteten bereits Willi und Arnold auf Kießling, um ihn zu unterstützen. Die Kolonne rollte leise an. Der Kommissar hatte auf dem Weg die Anweisung gegeben, Leuchtsignale und Sirenen abzuschalten. Sollten die van Fraisaen Kinder und im besten Fall ihr Peiniger auf dem abgelegenen Hof sein, wollte er das Überraschungsmoment auf seiner Seite haben. Arnold und Willi stiegen geschwind zu Ella und dem Kommissar ins Auto. Dr. Berger war auf dem Revier geblieben. Sie fuhren vorneweg. Kießling gab über Funk an die nachfolgenden Wagen die Anordnung, etwas Abstand zu halten. Wenn der Entführer eventuell eine Polizeikarawane anrollen sah, könnte er sich genötigt fühlen, von seinem ursprünglichen Plan abzurücken und dem Geschwisterpaar spontan etwas anzutun. Egal wie man es drehte und wendete, der Plan barg viele Risiken und unbekannte Faktoren. Doch darauf kam es jetzt nicht an. Sie mussten zwei Menschenleben retten.

Willi dirigierte Kießling immer weiter Richtung Wald. Am Waldrand angekommen zeigte der Rentner auf einen schmalen Weg.

»Do geht’s rein«, sagte Willi.

»Wie weit ist es noch von hier?«, fragte der Kommissar.

Willi zog die Schultern hoch und schätzte. »Ich denk’, vielleicht zweihundert Meter. Dann taucht der Hof uff ’ner Lichtung auf.«

Kießling bremste und stellte den Wagen am Wegesrand ab. Er gab Willi und Arnold die Anweisung, hier zu warten, und sobald die Kollegen eintreffen, sollten sie sich bereithalten und auf sein Zeichen vorrücken. Er zückte seine Dienstwaffe und ging mit Ella die verbleibenden Meter zu dem Hofgut. Vorsichtig schlichen sie am Rand entlang, immer im Schutz der Bäume. Beide fokussierten sich vollends auf den Hof vor ihnen, versuchten jede mögliche Bewegung einzufangen. Das Adrenalin stand ihnen bis unter den Haaransatz. Das Knacken und Knirschen, das in einem Wald natürlicherweise immer vorkam, löste in den beiden Polizisten nervöse Zuckungen aus. Sobald nur ein Eichhörnchen einen Zweig brechen ließ, schauten sie instinktiv in diese Richtung und machten sich schussbereit.

Am Grundstücksrand angekommen, schlichen sie über den Hof. Dieser bot nicht viel Schutz für eine Deckung, somit bewegten sie sich schnell, aber dennoch leise zum stark verfallenen Gebäude hin. Dort angekommen blickte Kießling vorsichtig durch eine zerbrochene Fensterscheibe. Im Gebäude war nichts zu sehen. Es schien ein Wohnraum mit früherer Küche gewesen zu sein. Die Räumlichkeiten waren sehr klein. Nach hinten raus war noch eine Tür erkennbar.

Der Kommissar winkte Ella, mit dem Zeigefinger an den Lippen, zu sich. Gemeinsam pirschten sie sich zur Eingangstür. Vorsichtig fasste Kießling die Klinke an und drückte diese herunter. Die Tür war nicht verschlossen. Mit der Waffe voraus schob sich der Polizist langsam in das Innere des Gebäudes. Ella folgte dicht hinter ihm. Sie sah von hinten, wohin Kießlings Blicke gingen. Somit konzentrierte sie sich auf Teile des Raumes, die der Kommissar nicht im Fokus hatte. Es roch vermodert in dem alten Haus. Der Geruch ließ erahnen, dass dieses seit vielen Jahren ungenutzt war und sich schon lange keine Seele mehr um den Erhalt gekümmert hatte.

Die beiden tasteten sich Zentimeter um Zentimeter voran. Kießling steuerte auf die verschlossene Tür am anderen Ende des Raumes zu. Er fasste die Klinke an. Bevor er diese nach unten drückte, vergewisserte er sich mit einem prüfenden Blick, dass auch Ella zu allem bereit war, was ihnen hinter dieser Tür begegnen könnte. Sie war konzentriert und nickte. Mit einem schnellen Ruck drückte Kießling die Klinke nach unten, warf die Tür auf und zielte mit seiner Waffe in den Raum. Ella schob sich neben den Kommissar und deckte mit ihrer Schusswaffe die andere Seite des Raumes ab. Der Raum war leer. In der Ecke stand ein rostiges Bett. Es waren nur noch der Rahmen und das Bettgestell übrig. Die Matratze fehlte. Sofort ging Kießling wieder das Foto von den Geiseln durch den Kopf. Diese lagen auf einer alten Matratze. Der Größe nach könnte diese vorher hier auf dem Bettgestell gelegen haben.

Die beiden zogen sich aus dem Raum wieder zurück. Mehr schien es in dem alten Gebäude nicht zu geben. Das waren die beiden einzigen Räumlichkeiten. Kießling säuselte ein leises »verdammt«. Er drehte sich um und wollte sich wieder in Richtung Ausgang bewegen, da stieß er versehentlich eine alte Porzellanvase um, die unbemerkt auf dem Boden stand. Diese zerbrach beim Umfallen mit einem lauten Klirren. Umgehend im Anschuss hallte ein lauter Schrei durch die morschen Bodenplanken und erschütterte Mark und Bein der beiden Polizisten.

»Hier ist ein Keller drunter!«, folgerte Ella.

Der Kommissar sah sich um. Er sah einen Sessel in der Ecke stehen. Die Kratzer auf dem Boden ließen erahnen, dass dieser mehrfach verrückt worden war. Er eilte auf das Möbelstück zu, warf diesen schwungvoll um und fand eine Bodenluke. Diese war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Kießling zog mehrfach heftig am Bügel, doch er konnte das Schloss nicht lösen. Wieder erschallte dieser ohrenbetäubende Schrei. Der Kommissar brüllte der Luke entgegen.

»Alle da unten, Kopf einziehen!«

Dann ging er einen Schritt zurück, zielte mit der Waffe auf das Schloss und schoss. Der erste Schuss war gleich ein Volltreffer. Das Schloss zersprang in mehrere Teile. Kießling riss die Luke auf, zückte eine Taschenlampe und sprang selbstlos in das Loch. Ella sicherte den Eingang, damit sie keine Überraschungen erleben mussten. Der Kommissar rutschte vor lauter Schwung die hölzerne Treppe nach unten. Am Boden angekommen leuchtete er sofort in den Raum. Am Todesstuhl vorbei erblickte er die völlig entkräfteten Kinder von Richard van Fraisaen. Merle hatte die Augen geöffnet und starrte den Kommissar an. Ihre Blicke verrieten Erleichterung und dass eine große Last von ihr abfiel. Ihr Bruder Hendrik lag ohne Bewusstsein neben ihr.

Kießling sagte laut: »Keine Angst, hier ist die Polizei, sind Sie Merle van Fraisaen?«

Die junge Frau nickte, fiel nach hinten um und verlor wieder das Bewusstsein.

Kießling rief zu seiner Assistentin: »Die Kinder sind hier. Ruf sofort die Kollegen und zwei Krankenwagen. Schnell!«

Ella folgte den Anweisungen. Kießling steckte die Waffe ein und eilte zu den beiden jungen Leuten. Je näher er kam, desto deutlicher konnte er eine Chemikalie riechen, die der Entführer wohl dazu benutzte, um die beiden zu betäuben. Ihm selbst wurde richtig schummrig in ihrer Nähe. Draußen rollten indes die Polizeifahrzeuge an und sicherten das Gelände. Wenig später trafen auch die Notärzte ein und versorgten das Geschwisterpaar.

Kießling und Ella machten Platz und überließen den Tatort den Spezialisten. Draußen vor dem Gebäude standen sie dann zusammen mit Willi und Arnold.

Der Rentner sagte: »Der Bösewicht is’ wohl über alle Berge?«

Kießling überlegte kurz und antwortete: »Wahrscheinlich. Ich denke, wir sind ihm zuvorgekommen, bevor er mit den Geschwistern seinen Plan umsetzen konnte.«

In diesem Moment kam ein Beamter um die Ecke und bat Kießling, mitzukommen. Ella, Arnold und Willi folgten ihm. Sie gingen ums Haus herum. Hinter dem Gebäude blickten sie auf zwei hölzerne Kisten, die wie Särge anmuteten. Dieser Anblick ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren.

Arnold resümierte: »Dieser Wahnsinnige hatte tatsächlich vor, die beiden lebendig zu begraben.«

Ella und Willi fehlten die Worte. Kießling starrte regungslos auf die Kisten. Nach ein paar Sekunden drehte er sich zu Willi und klopfte dem Rentner anerkennend auf die Schulter.

Dabei sagte er: »Da haben wir angeblich die modernste Polizei der Welt und am Ende können die beiden van Fraisaen Kinder ihr Leben einem romanlesenden Rentner verdanken.«