Das endlose Puzzle
E ine aufwühlende Nacht lag hinter Kommissar Kießling. Die Ereignisse der letzten Tage gingen nicht spurlos an dem Polizisten vorüber. Er hatte einiges erlebt und über sich ergehen lassen müssen. Ständig fragte er sich, was jetzt noch anstand und passieren würde. Am meisten nagte die Nacht an ihm, in der er todesmutig eine Frau aus einem brennenden Gebäude gerettet und dabei selbst fast sein Leben verloren hatte. Auch für einen kernigen Polizisten wie ihn gab es Momente und Erinnerungen, die wie ein scharfes Messer tief ins Fleisch schnitten.
Er hätte diese Nacht lieber zu Hause bei einer guten Flasche Wein und danach dem Sprung ins gemütliche Bett verbringen wollen. Stattdessen saß er nun schon stundenlang im Krankenhaus und wachte über die van Fraisaen Kinder. Zum einen kamen keine Kollegen für den Personenschutz und zum anderen hoffte Kießling, einige Fragen an die jungen Opfer stellen zu können. Laut den Ärzten käme dies jedoch frühestens in den nächsten Tagen infrage. Der körperliche Zustand sei derart schlecht, dass jegliche Belastung durch eine Befragung vorläufig ausgeschlossen wurde. Kießling wurmte die Tatsache, hatte aber Verständnis für die ärztlichen Anordnungen. Er hatte die Kinder des toten Autors gefunden und selbst gesehen, was für ein Martyrium diese durchgemacht haben mussten. Nachdem die Rettungssanitäter sie aus dem Loch geholt hatten, war es erstmals im Licht möglich, den beiden ins Gesicht zu blicken. Jegliche Farbe war daraus gewichen und sie waren gezeichnet von psychischem Druck und körperlicher Pein. Dazu kam das ständige Betäuben durch heftige Chemikalien. Unter diesen Umständen war keine vorzeitige Vernehmung möglich. Somit war Kießling wieder auf eigene Recherchen angewiesen.
Nachdem endlich in der Nacht Beamte zur Ablösung ins Krankenhaus kamen, fuhr der Kommissar direkt auf das Polizeirevier. Es war noch dunkel und außer ein paar Beamten, die für die nächtliche Schicht eingeteilt waren, befand sich kaum eine Menschenseele auf dem Revier. Lange allein war Kießling allerdings nicht. Ella und Dr. Berger trafen kurz nacheinander ebenfalls in der Früh zum vorzeitigen Dienst ein. Ella wäre gestern gern bei Kießling geblieben und hätte ihm im Krankenhaus Unterstützung gegeben, doch der Kommissar hatte darauf bestanden, dass sie und Dr. Berger nach Hause fuhren, um sich auszuruhen.
Ella sah direkt, nachdem sie aus dem Fahrstuhl stieg, dass Kießling an seinem Schreibtisch vor sich hin brütete. Auf dem Weg zu ihrem Chef zog sie am Kaffeeautomat einen starken, schwarzen Wachmacher.
Sie kam ins Büro und stellte Kießling den Becher vor die Nase. Dieser hatte schlaftrunken nicht bemerkt, dass Ella das Zimmer betrat.
»Guten Morgen, hier einmal zum Wachwerden!«
Etwas neben sich blickte Kießling auf. »Oh, Morsche! Bis du auch schon wieder da.« Dann schaute er auf den dampfenden Becher und sagte: »Genau das brauch ich jetzt!«
»Dachte ich mir! Du warst natürlich nicht zu Hause und hast ein paar Stunden Schlaf nachgeholt?«
Der Kommissar schüttelte den Kopf und antwortete: »Nö. Aber ich hätte eh nicht pennen können. Mein Kopfkino läuft auf Hochtouren. Das kann ich auch hier auf dem Revier rattern lassen. Dann sitze ich nämlich auch gleich an der Quelle, wenn ich was nachgucken will.«
Auf dem Flur ging wieder die Fahrstuhltür auf und Dr. Berger trat in den Gang. Wie erwartet sah er wie frisch aus dem Ei gepellt aus.
Kießling grinste und feixte: »Guck da, unser Dr. Berger, hat wahrscheinlich die Nacht in einem Wellnesshotel verbracht.«
Ella lachte und stimmte mit ein: »Oder er hat die ganze Nacht in seiner riesigen Badewanne gesessen.«
Die beiden grinsten vor sich hin, als der Pathologe das Büro betrat. Der hatte direkt einen Riecher, worüber sich seine beiden Kollegen amüsierten.
»Guten Morgen, die Dame und der Herr. Bevor ich mir wieder Schmähungen um meine Person anhören muss, ja, ich habe gestern zu Hause ein Bad zur Tiefenentspannung genommen und davor noch dreißig Minuten Sauna genossen. Irgendwo muss die Anspannung schließlich hin«. Dann richtete er sein Wort direkt an Kießling. »Und nicht wie Sie, werter Kommissar, Erholung im Angesicht des Schreibtischs.«
Diese kleine Stichelei lockerte die Runde etwas auf und brachte die drei kurzfristig auf andere Gedanken.
»Sind Arnold und Willi gestern gut zu Hause angekommen? Hast doch sicher mit deinem Liebsten gestern noch gechattet.«
Ella lächelte verschmitzt und antwortete: »Ja, sind gut angekommen. Ich hatte gegen zehn Uhr angerufen. Da saßen beide noch zusammen und waren leicht beschwipst. Zur Feier der Geiselrettung hatte Willi wohl ein paar Feinheiten aus seinem Weinkeller rausgeholt.«
Kießling brummelte: »Dieses Programm hätte ich mir eher vorstellen können, als in einem Krankenhaus zu sitzen. Aber ist halt so. Haben uns den Job ausgesucht. Zurück zum Geschäft!«
Der Kommissar stand auf und ging an das große Whiteboard an der Wand. Er nahm einen Stift zur Hand und begann zu skizzieren.
Er zeichnete alle Fakten ein, die sie bis dato zu dem Fall hatten, und verband diese mit Linien, um die Zusammenhänge zu verdeutlichen. Über allem stand Anton Gerber. Er arbeitete für den ermordeten Autor Richard van Fraisaen und entführte mutmaßlich auch dessen Kinder. Diese wurden auf einem Hofgut gefunden, das auf seinen Namen lief. Bei den Taten hielt er sich als vermeintlicher Täter an die Buchvorlagen seines Arbeitgebers. War dies ein Zufall oder hatte das einen tieferen Hintergrund? Dann der Brand in Winkel. Gerber wurde damals als Verdächtiger in mehreren Brandfällen gehandelt, jedoch in der jüngeren Vergangenheit nicht weiterverfolgt. Im Gegenteil. In den Neunzigerjahren kam er unbehelligt nach Winkel und warb für die Bücher seines Arbeitgebers. Wieso kam es jetzt zu diesen Ereignissen? Wurde das alles durch den Fund von Serafinas menschlichen Überresten ausgelöst? Kießlings Kopf qualmte sichtlich und sein Bauch rumorte. Er hatte dieses dringliche Gefühl, dass es nur eines kleinen Puzzleteilchens bedurfte, um dem Ganzen einen echten Sinn zu geben. Der Kommissar ging zurück zu seinem Schreibtisch und sank entkräftet auf seinen Stuhl.
Ella und Dr. Berger hatten nichts weiter zu sagen. Sie blickten auf das Board und versuchten beide, das fehlende Teil zu ergründen.
Das Klingeln des Telefons unterbrach das kollektive Grübeln. Kießling schaute genervt auf den Apparat.
»Willst du nicht rangehen?«, fragte Ella.
Von Erschöpfung gezeichnet wiegelte der Kommissar ab. »Nein, wer außer Staatsanwalt Koch könnte das um diese unchristliche Zeit sein? Den kann ich jetzt ganz und gar nicht gebrauchen.«
Das konnte Ella nachvollziehen, widersprach aber ihrem Chef. »Ach, komm schon. Gestern, die Befreiung der Geiseln, das war doch ein großer Erfolg. Vielleicht gibt es ja mal ein Lob?«
Dabei lächelte die Polizistin charmant und aufbauend. Kießling ließ sich erweichen und nahm den Hörer ab.
»Kießling – hallo!«
Auf der anderen Seite der Leitung begann jemand mit einer tiefen, dunklen Stimme zu sprechen: »Guten Morgen, Herr Kommissar. Meine Glückwünsche zu Ihrer Rettungsaktion, ich bin tief beeindruckt.«
Kießling schaute verwirrt drein. Es war nicht die Stimme von Staatsanwalt Koch. Er fragte: »Danke für die Blumen, aber mit wem spreche ich bitte?«
»Nur mit einem Bewunderer Ihrer großen Ermittlungskunst, und ich möchte mich bei dieser Gelegenheit auch gleich entschuldigen.«
Kießling war kurz davor, aufzulegen. Offensichtlich hatte hier wieder ein windiger Pressevertreter oder sonstiger Polizeigroupie seine Nummer ergattert. Dennoch fragte er nach.
»Entschuldigen? Wofür?«
Der Anrufer sprach weiter: »Dass ich Sie gestern nicht persönlich begrüßen konnte, als Sie die beiden van Fraisaen Kinder aus meinem Keller geholt und so meine mühevoll erdachten Pläne für die beiden zunichtemachten.«
Kießling riss die Augen auf, setzte sich gerade hin und schaute mit einem ungläubigen Blick zu seiner Assistentin und dem Pathologen. Ella und Dr. Berger erschraken, spürten, dass hier etwas Ernstes im Gange war. Der Kommissar gestikulierte wie wild mit seinem freien Arm. Er signalisierte Ella, den Anruf zurückverfolgen zu lassen.
Die Polizistin deutete umgehend die Signale ihres Chefs. Sie rannte ins Nebenbüro, versuchte Kollegen aus der Technik zu erreichen. Ein diensthabender Beamter ging ran und machte sich sofort an die Arbeit, den Ursprung des Anrufs zu identifizieren. Ella mobilisierte zudem eine Einsatztruppe, um gegebenenfalls Beamte an den Ursprungsort des Anrufs zu entsenden.
Kießling konzentrierte sich indes auf das Gespräch und überlegte sich währenddessen eine Taktik, wie er den Anrufer möglichst lange in der Leitung halten könnte.
Er antwortete dem vermeintlichen Verbrecher: »Oh, das war nicht schwer. Sie haben es uns relativ leicht gemacht, die Kinder des Autors aufzuspüren.«
Der Kommissar wollte bewusst eine Provokation in seine Aussage verpacken, um sein Gegenüber aus der Reserve zu locken.
Dieser ging aber nicht darauf ein, lachte ins Telefon und sagte: »Herr Kommissar, ich bitte Sie, schmälern Sie Ihre Leistung nicht. Das war schon verdammt gute Polizeiarbeit. Ich muss sagen, ich bin gespannt, ob Sie das Kunststück wiederholen können.«
Kießling zögerte einen Moment und fragte nach: »Wiederholen? Haben Sie etwa noch mehr Geiseln, von denen wir nichts wissen?«
»Sehen Sie, anscheinend bin ich Ihnen doch ein paar Schritte mehr voraus, als Sie denken.«
Kießling überlegte, wie er den Mann noch länger in der Leitung halten könnte. Er hielt das Mikrofon des Hörers zu und rief leise zu Ella: »Habt ihr schon was?«
Ella kreiste mit der rechten Hand und gab Kießling zu verstehen, das Gespräch weiter in die Länge zu ziehen. Dieser gab sein Bestes.
»Hören Sie, sind wir alle jetzt mal ganz vernünftig. Sie sagen mir, was Sie eigentlich mit der ganzen Farce bezwecken, und ich sage Ihnen, wie wir dann die Kuh vom Eis bekommen.«
Der Mann am anderen Ende lachte. »Das ist nett gesagt, Herr Kommissar. Üben Sie sich in Geduld, schon bald werden Sie die Wahrheit erfahren, über alle, die sich hier schuldig gemacht haben.«
Der Kommissar wurde ernst. »Schuldig? Wer hat sich womit schuldig gemacht? Ich kann Ihnen garantieren, egal was damals mit Serafina, den Bränden oder sonst etwas passierte, wir bekommen es raus und die Schuldigen werden zur Rechenschaft gezogen – aber von uns!«
Sein Gegenüber senkte seine Stimme weiter. Würde man diese Tonlage einer Farbe zuordnen, wäre diese jetzt tiefschwarz.
»Zur Rechenschaft gezogen? All die Jahre musste sich niemand für Geschehenes verantworten. Das ist jetzt vorbei. Was Sie als Gerechtigkeit empfinden, hatte seine Chance. Jetzt bin ich an der Reihe!«
Daraufhin knackte die Leitung des Telefons und der Mann legte auf. Sofort schaute Kießling zu Ella und rief zu ihr rüber: »Habt ihr den Anrufer verfolgen können?«
Ella schüttelte den Kopf und antwortete: »Wir konnten nur eine Funkzelle im Rheingau ausmachen, über die der Anruf kam. Um weiter einzugrenzen, fehlte die Zeit.«
Verärgert knallte Kießling den Hörer auf das Telefon. Seine Erschöpfung war komplett verflogen, ein neuer Enthusiasmus in ihm geweckt.
»Der Typ will mich rausfordern«, rief er in die Runde.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Dr. Berger nach.
»Erst mal ist der angepisst, weil wir ihm gestern die Tour vermasselt haben. Jetzt pocht er auf ein höchstes Maß an Aufmerksamkeit. Das kann er bekommen!«