Der letzte Strohhalm

D er Kommissar war wild entschlossen, dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Diese weitere Dreistigkeit seines Widersachers, ihn im Polizeirevier anzurufen, motivierte den Gesetzeshüter bis in die letzte Haarspitze. Er schickte Dr. Berger wieder in die Pathologie. Er wies ihn an, ein weiteres Mal die Leichen zu begutachten und sich mit der Forensik in Verbindung zu setzen. Der kleinste Hinweis könnte entscheidend sein, egal wie absurd dieser im ersten Moment erschien. Für sich und Ella plante er, in den Rheingau zu fahren. Er wollte noch mal den Buchhändler Georg Tessler konsultieren. Bei ihrem letzten Besuch war der Buchhändler vom Tod des Autors van Fraisaen derart erschüttert gewesen, dass er keinen klaren Gedanken mehr zustande gebracht hatte. Kießling hoffte, dass er sich inzwischen wieder fangen konnte und vielleicht weiteres Hintergrundwissen für sie parat hatte. Eine vage Hoffnung, aber das war dem Kommissar egal. Er würde keine Ruhe mehr geben, bis er den Verbrecher überführen konnte.

Auf der Fahrt in den Rheingau kamen sie am Grauen Haus vorbei. Dem Ort, an welchem Serafinas menschliche Überreste gefunden wurden. Im Vorbeifahren überkam Kießling wieder sein bekanntes Bauchgefühl.

Er sagte zu Ella: »Irgendwas liegt da im Argen. Ich kann’s einfach noch nicht greifen.«

»Was meinst du?«, hinterfragte seine Kollegin.

»Keine Ahnung. Jedes Mal, wenn ich hier vorbeifahre oder nur an diese Fundstelle denke, kriege ich fast schon Bauchschmerzen. Irgendwas ist da, was wir noch nicht erkannt haben.«

Ella wusste um das berühmte Bauchgefühl und die sensiblen Antennen ihres Chefs. Häufig waren diese Eigenschaften ausschlaggebend für eine entscheidende Wendung in ihren Fällen. Somit vertraute sie darauf, dass sie, mit Hilfe von Kießlings einzigartiger Intuition, irgendwann auf das vermisste Puzzleteil stoßen würden.

Am Buchladen angekommen fiel ihnen sofort der Inhaber Georg Tessler ins Auge, der gerade dabei war, sein Schaufenster neu zu sortieren. Kießling ging an die Scheibe heran und klopfte vorsichtig. Tessler zuckte zusammen und blickte überrascht auf den Kommissar. Er hob die Hand und winkte Kießling mit seiner Assistentin in den Laden. Die beiden Polizisten betraten die Buchhandlung. Tessler quetschte sich durch eine kleine Tür aus dem Schaufensterbereich zurück in seinen Laden. Dabei balancierte er vorsichtig einen Stapel aussortierter Bücher.

»Dekorieren Sie um?«, fragte der Kommissar.

Tessler entgegnete: »Ich sortiere oft mein Schaufenster neu. Meine Kunden erwarten von mir regelmäßig neue Empfehlungen.«

»Und was gibt es diese Woche?«, interessierte sich Ella.

Tessler druckste etwas herum. Die Antwort schien ihm unangenehm.

Er antwortete: »Na ja, es ist vielleicht etwas unangebracht, aber ich habe diese Woche die Bücher von Richard van Fraisaen ausgestellt.«

Kießling meinte süffisant: »Kann ich verstehen. Häufig steigt die Kunst im Wert, wenn der Künstler das Zeitliche gesegnet hat.«

Tessler versuchte, sich zu erklären: »So ist das nicht. Ich wollte damit eher meine Wertschätzung für den Autor und seine Werke ausdrücken.«

»Wie auch immer«, sagte Kießling und kam zum Grund ihres Besuches. »Wenn wir schon bei van Fraisaen sind: Letztes Mal waren Sie ziemlich schockiert von dessen Ableben und wir konnten uns gar nicht weiter austauschen. Vielleicht können Sie uns doch noch etwas mehr Hintergrundwissen zu dem Autor geben.«

»Ich kann es versuchen, was möchten Sie wissen?«

»Ab wann führen Sie die Bücher des Autors?«

Tessler überlegte und antwortete: »Schon einige Jahre. Irgendwann kam ein Mitarbeiter von ihm vorbei und pries die Bücher an. Das war so Mitte der Neunzigerjahre.«

Kießling wurde hellhörig. »Das ist ja interessant. Erzählen Sie uns bitte mehr über diesen Mitarbeiter.«

»Nun, ich kann mich nur noch dunkel erinnern. Er sagte, er habe früher hier in Winkel gewohnt und stellte viele Fragen. Insbesondere zum alten Weingut Wolf.«

Ella brachte sich ein. »Sie meinen das Weingut, das der Familie der damaligen Weinkönigin Serafina gehörte?«

»Genau dieses. Ich wusste nur, dass die Familie Wolf das Weingut verkauft und aus dem Rheingau weggezogen war.«

Kießling nickte und kritzelte die Informationen von Tessler auf einen kleinen Notizblock.

»Können Sie sich an noch mehr erinnern oder an irgendwelche Details zu van Fraisaen – egal, wie unwichtig Ihnen diese erscheinen?«

Tessler ging in sich und dachte nach. Nach einigen Sekunden sagte er kopfschüttelnd: »Nein, mehr weiss ich nicht«. Er machte eine kurze Pause und fügte an: »Mehr konnte ich auch Herrn Wolf nicht berichten.«

Kießling und Ella blickten auf und schauten den Buchhändler ungläubig an. Bei der Polizistin fiel die Kinnlade runter und sie war sprachlos.

Kießling stotterte: »Wolf? Welcher Wolf?« Der Kommissar hatte eine Vorahnung davon, was jetzt kommen würde.

Tessler antwortete: »Hartmut Wolf! Der Vater der Weinkönigin Serafina.«

Kießling fiel vom Glauben ab. Das war eine Neuigkeit, die er nicht erwartet hatte. Serafinas Vater war in Winkel und hatte diesen Buchladen aufgesucht.

Der Kommissar fragte energisch nach: »Das ist eine verdammt wichtige Information. Warum rücken Sie damit erst jetzt raus.«

Tessler war sichtlich verunsichert. »Ich glaubte, Sie wüssten, dass Herr Wolf in der Stadt ist. Schließlich wurden die sterblichen Überreste seiner Tochter gefunden.«

Diesen Fakt hätte Kießling in der Tat gern im Vorfeld gewusst. Die Option, nach Serafinas Eltern zu recherchieren, hatte er sträflicherweise nicht in Betracht gezogen. Er war davon ausgegangen, dass diese weg und wahrscheinlich schon tot waren. Hier zeigte es sich dem Kommissar wieder, dass man keine Möglichkeit außer Acht lassen durfte.

Er wandte sich wieder an den Buchhändler.

»Wie kommt es, dass Herr Wolf gerade zu Ihnen kam?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Er fragte mich ebenfalls nach Richard van Fraisaen aus. Ich habe auch keine Ahnung, warum die Leute deshalb zu mir kommen. Nur weil ich der Buchhändler vor Ort bin, muss ich doch nicht zwangsläufig über die Schicksale der Autoren informiert sein.«

Kießling nahm Tesslers Aussage hin und fragte: »Wissen Sie, wo sich Hartmut Wolf aufhält?«

»Er erwähnte, dass er im Schloss Reinhartshausen ein Zimmer bezogen habe.«

Ella kommentierte: »Nicht schlecht, das feinste Haus am Platze.«

In sarkastischem Ton verabschiedete sich Kießling von Buchhändler Tessler: »Danke für Ihre Hilfe. Wenn das nächste Mal Angehörige von Leuten zu Ihnen kommen, deren menschlichen Überreste wir gefunden haben, rufen Sie uns bitte direkt an.«

Tessler nahm diese Spitze von Kießling wortlos hin. Höflich nickte er und widmete sich wieder seinen Büchern. Kießling und Ella verließen im Eiltempo den Buchladen. Auf dem Weg zum Auto brüskierte sich Kießling noch mal über den Buchhändler und dessen lapidaren Umgang mit wichtigen Informationen. Ella relativierte Kießlings Ärger. Sie gab ihm zu verstehen, dass man von niemanden erwarten kann, wie ein Kriminalermittler zu denken. Letzten Endes war es dem Kommissar egal. Ihn trieb jetzt nur der Gedanke an, dass mit Hartmut Wolf eine potentiell wichtige Informationsquelle auf ihn wartete.