Der alte Wolf
D ie beiden Polizisten fuhren mit ihrem Dienstwagen einige Kilometer zurück Richtung Wiesbaden. Am westlichen Ortsrand der Stadt Erbach bogen sie von der Bundesstraße ab und sahen bereits aus der Ferne das prunkvolle Hotel Schloss Reinhartshausen.
»Dem Herrn Wolf scheint es wohl nicht schlecht zu gehen, wenn er sich hier ein Zimmer leisten kann«, meinte Ella.
Kießling antwortete: »Der Mann reist auf jeden Fall mit Stil!«
Am Hotel angekommen stellte der Kommissar den Wagen auf dem Parkplatz ab. Sie stiegen aus und gingen auf den Eingang zu. Je näher sie der Tür kamen, desto nachdenklicher wurde Kießling. Auf der einen Seite konnte er nachvollziehen, warum Hartmut Wolf nach so vielen Jahren in den Rheingau zurückkehrte. Schließlich waren die sterblichen Überreste seiner Tochter gefunden worden. Auf der anderen Seite war ihm alles suspekt. Wieso erkundigte sich Wolf nach dem toten Autor? Aus welchem Grund meldete er sich nicht bei der Polizei? Schließlich lagen die Knochen seines Kindes in der Gerichtsmedizin. Es wäre naheliegend, bei den Behörden aufzukreuzen, um die näheren Umstände des Fundes zu erfragen, nachdem die guten Eltern es der Polizei schon unmöglich gemacht hatten, sie ausfindig zu machen. Kießling wunderte sich bei diesem skurrilen Fall allerdings über nichts mehr. Auf jeden Fall war es äußerst wichtig, dass er von der Anwesenheit von Serafinas Vater erfahren hatte. Eventuell müsste sogar über Schutzmaßnahmen nachgedacht werden. Es lief schließlich ein Mörder frei herum, dessen wirren Gedankengänge noch nicht ergründet waren.
Ella und Kießling betraten das Foyer. Es war alles sehr prunkvoll. Der Kommissar fühlte sich sichtlich überfordert mit dem gehobenen Stand des Hotels. Er favorisierte definitiv die einfache Straußwirtschaft oder Kneipe. Häuser, in denen einem andere Menschen die Koffer trugen, waren nicht seine Welt.
An der Rezeption stand eine kleine Schlange von anreisenden Gästen. Kießling kümmerte dies nicht wirklich und ging mit Ella im Schlepptau an den wartenden Herrschaften vorbei. Diese brüskierten sich über den dreisten vermeintlichen Gast, der sich vordrängeln wollte. Vorn angekommen, schob er sich zwischen einen wartenden Gast und den Rezeptionisten.
»Was erlauben Sie sich?«, fragte der Hotelgast.
Kießling drehte sich um, zückte seinen Dienstausweis und antwortete: »Polizeieinsatz. Wenn ich Sie bitten dürfte, sich drüben anzustellen. Wir benötigen hier Diskretion. Danke sehr.«
Ein Herr im teuren Anzug reagierte mit Unverständnis und drohte in Richtung Kießling: »Das ist ja eine Unverschämtheit. Stellen Sie sich hinten an oder ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten über Sie beschweren. Ich kenne den Polizeipräsidenten.«
Ella verzog das Gesicht. Sie wusste sehr wohl, dass der Herr bei ihrem Chef den richtigen Knopf gedrückt hatte. Der Kommissar konnte es in keiner Weise leiden, wenn man sich seinen Anordnungen widersetzte, geschweige denn Widerworte gab.
Die meisten Gäste in der Warteschlange waren der Aufforderung Kießlings bereits gefolgt und stellten sich bei einem anderen Hotelmitarbeiter an.
Der Kommissar ging auf den Herrn zu und fauchte ihn an: »Ich wiederhole mich ungern. Schnappen Sie sich Ihren Krokodillederkoffer, Ihre Frau mit dem Chinchilla-Umhang und verschwinden Sie aus meinem Blickfeld.«
Eingeschüchtert wandte sich der Herr ab, nahm seine Frau am Arm und suchte das Weite. Kießling schaute ihm nach und setzte noch einen drauf: »Grüßen Sie den Polizeipräsidenten von mir! Wenn er mich feuert, hätte ich gern meine Überstunden ausbezahlt. Das wär dann sicher der gesamte Haushaltsetat der Stadt Wiesbaden!«
Ella grinste und murmelte zu Kießling: »Den konntest du dir nicht verkneifen, oder?«
Kießling zog mit breiter Brust die Nase hoch und erwiderte: »So was kann ich gar nicht leiden. Aufgeblasene Möchtegerntypen, die sich für was Besseres halten.«
Er ging an den Schalter zurück, wo ein peinlich berührter Rezeptionist die Szene wortlos beobachtete. Kießling zückte wieder seinen Dienstausweis.
»Guten Tag. Kießling und Nilsson von der Mordkommission. Wir möchten zu Hartmut Wolf!«
Der Hotelmitarbeiter tippte auf die Tastatur seines Computers und schaute konzentriert in den Monitor. Für Kießling dauerte dies eine gefühlte Ewigkeit. Nervös trommelte er mit den Fingern auf der Empfangstheke herum. Der Rezeptionist hörte auf zu tippen und blickte sekundenlang in den Monitor.
Kießling hatte genug. In ernstem Ton fragte er: »Was ist nun? Wohnt Hartmut Wolf hier oder nicht?«
Der Mitarbeiter druckste herum. »Nun ja, ich kann Ihnen darüber keine Auskunft geben.«
»Wie bitte?«, fragte Kießling sichtlich entnervt.
Eingeschüchtert antwortete der Hotelbedienstete: »Bitte verstehen Sie, wir bieten unseren Gästen ein höchstes Maß an Service und Diskretion. Hier haben wir den Fall, dass der Gast ausdrücklich um Letzteres gebeten hat.«
Kießling schob seinen Oberkörper über die Theke und winkte den Rezeptionisten näher zu sich heran. Dieser folgte zögerlich. Der Kommissar zog wieder seinen Ausweis hervor und hielt diesen dem Mitarbeiter direkt vor die Augen. Dabei unterstrich der Polizist mit dem Finger die Bezeichnung Mordkommission.
Provozierend fragte er den Mann: »Können Sie das hier lesen? Was steht da?«
Der Mitarbeiter las eingeschüchtert vom Ausweis ab: »Mordkommission.«
Kießling nickte mit dem Kopf und sagte fordernd: »Genau! Jetzt stehen hier zwei Beamte von besagter Behörde und wollen einen Gast aufsuchen. Meinen Sie nicht, es wäre angebracht, dass Sie Ihren Allerwertesten bewegen und uns sagen, auf welchem Zimmer besagter Herr residiert?«
Der Rezeptionist war mit der Situation sichtlich überfordert, bat darum, den Hoteldirektor hinzuzuziehen, um sich damit aus der Affäre zu stehlen. Kießling ließ ihn nicht von der Angel. Kurzerhand griff er nach dem Monitor auf der anderen Seite der Theke, drehte diesen in seine Richtung und las eigenmächtig die Zimmernummer von Hartmut Wolf vom Bildschirm ab. Der Hotelmitarbeiter brachte dem nichts entgegen.
Nachdem der Kommissar die Zimmernummer in Erfahrung gebracht hatte, lächelte er zufrieden und bemerkte: »Sehen Sie, war gar nicht schlimm – und Sie haben auch nichts gesagt. Also hinsetzen und weitermachen.«
Dabei drehte Kießling den Monitor wieder zurück, wandte sich um und ging Richtung Fahrstuhl. Ella folgte ihrem Chef.
Auf dem Weg zum Lift sagte Ella: »Dass du immer so gemein sein musst.«
Kießling verteidigte sein Handeln. »Ach was. Die Leute sollen einfach mal ihr Hirn einschalten. Da kommen zwei Beamte von der Mordkommission und suchen nach jemandem. Denken die, wir kommen aus Spaß zum Kaffeeklatsch?«
Ella gab ihrem Chef recht. Ständig erlebten sie dieses »Rumgeeiere«, wie es Kießling gern nannte. Im schlimmsten Fall stahl ihnen dieses wertvolle Zeit, die sie mit der Aufklärung des Falles wesentlich sinnvoller verbringen konnten.
Am Fahrstuhl angekommen drückte der Kommissar auf den Rufknopf. Es öffnete sich die Kabine und darin befand sich ein Liftboy.
Höflich fragte er: »Welches Stockwerk, die Herrschaften?«
Der Kommissar drehte sich zu Ella und sagte: »Siehst du, so muss das sein.« Daraufhin wandte er sich dem jungen Mann zu, der den Lift bediente und sagte: »3. Stock!«
»Sehr gern! Darf ich bitte Ihre Zimmerkarte sehen?«
Ella ballte spontan ihre Hand zu einer Faust, nahm sie vor ihren Mund und kicherte in diese hinein.
Kießling begann wieder vor Ärger zu schäumen. Er zückte seinen Dienstausweis, hielt diesen dem Liftboy fordernd unter die Nase und wiederholte: »3. Stock, und hier ist meine offizielle Zimmerkarte!«
Eingeschüchtert nickte der junge Mann, bat Ella mit ihrem Chef in die Kabine und fuhr die beiden in die angesagte Etage. Auf dem Stockwerk angekommen suchten die beiden Polizisten das Zimmer von Hartmut Wolf. Nummer 312 war schnell gefunden. Kießling klopfte an die Tür. Nach wenigen Sekunden öffnete sich die Tür und ein älterer Herr in einem sichtlich teuren Nadelstreifenanzug stand im Türrahmen.
»Ja, bitte?«, fragte der Herr.
»Kießling und Nilsson von der Mordkommission Wiesbaden. Sind Sie Hartmut Wolf?«
Der Mann nickte und antwortete: »Das ist richtig. Kommen Sie herein, ich habe bereits mit Ihnen gerechnet.«
Kießling und Ella betraten das Zimmer. Dieses war sehr groß und ähnelte mehr einer Suite. Der Kommissar schaute sich um. Alles wirkte sehr aufgeräumt. Persönliche Gegenstände von Hartmut Wolf waren im ersten Augenschein nicht zu sehen.
»Sehr schönes Zimmer«, bemerkte Kießling. »Sicherlich nicht das billigste im Haus.«
Herr Wolf wies mit einer höflichen Armbewegung die Beamten an, Platz zu nehmen. Während sie sich auf das Sofa platzierten und Herr Wolf in den beistehenden Sessel, antwortete dieser: »Auch wenn der Anlass meines Besuches im Rheingau einen sehr traurigen Hintergrund hat, sehe ich nicht die Notwendigkeit, auf gewisse Annehmlichkeiten zu verzichten.«
Kießling registrierte die Antwort kommentarlos. Er nahm sich einen Moment und musterte Hartmut Wolf. Der Kommissar war beeindruckt vom rüstigen Zustand des Mannes. Schließlich hatte Wolf das Alter von neunzig Jahren passiert, wirkte aber eher wie Anfang oder Mitte achtzig. Nach einigen Sekunden des Schweigens begann der Polizist mit seiner Befragung. Insbesondere interessierte ihn die Vorgeschichte zu all dem Vorgefallenen. Hartmut Wolf gab bereitwillig Auskunft. Er setzte früh an, kurz nach dem Verschwinden seiner Tochter. Er bestritt keineswegs, dass er diese womöglich sehr unter Druck gesetzt hatte mit seinen Vorstellungen über ihre Zukunft. Im Gegenteil, er beharrte weiterhin darauf, dass seine Pläne für Serafina die einzig richtigen gewesen waren. Die vorgesehene Heirat Serafinas mit einem Erben eines anderen großen Weingutes hätte ihren Stand auf ein völlig neues Niveau gehoben.
Ella war anzusehen, dass sie die Ausführungen Hartmut Wolfs regelrecht schockierten. Sie konnte nicht glauben, dass ein Vater seiner Tochter eine derartige Bürde auferlegte. Die Polizistin hakte ein.
»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie unterbreche, aber hat Ihnen das Glück Ihrer Tochter überhaupt nicht am Herzen gelegen?«
Wolf nahm den Einwand überhaupt nicht ernst. Belehrend antwortete er der Polizistin: »Was ist denn Glück aus Ihrer Sicht, Frau Nilsson? Definieren Sie es so, dass Ihre Tochter mit einem Taugenichts ihr Leben wegwirft, weil ihr danach ist? Oder dass ihr Vater dafür sorgt, dass sie ein Leben als Teil der gesellschaftlichen Elite führen kann? Was würden Sie für Ihre Kinder wollen?«
Von den Worten provoziert antwortete Ella: »Ich habe keine Kinder.«
»Dann maßen Sie sich nicht an, mir einen Vortrag über das Glück privilegierter Kinder zu halten!«
Kießling unterbrach den Disput zwischen Wolf und Ella.
»Ok, in Ordnung. Vergessen wir die Wertevorstellung einer nachhaltigen Kindeserziehung. Kommen wir zum Thema zurück. Herr Wolf, was können Sie uns zu Anton Gerber sagen?«
Wolf schwieg einen Moment. Er überlegte und antwortete Kießling: »Den Namen habe ich schon seit Jahren nicht mehr gehört und will diesen am liebsten ganz aus meinem Gedächtnis streichen. Dieser Mensch hat alles Unglück verursacht.«
Der Kommissar bemerkte sofort eine aufkommende Unsicherheit bei dem alten Herrn. Er hakte nach. »Ich kann Ihren Unmut verstehen. Schließlich ist Ihre Tochter mit ihm durchgebrannt.«
Wolf unterbrach den Kommissar rüde: »Das ist absoluter Schwachsinn, Serafina wäre nie mit ihm durchgebrannt. Dieser Mann ist wahrscheinlich ihr Mörder und hat sie letzten Endes am Grauen Haus verscharrt. Danach hat er halb Winkel in Brand gesetzt, und heute ist er zurück, setzt sein Unwesen fort.«
Kießling ließ Wolf sprechen, wollte ihn weiter aus der Reserve locken. Nachdem der alte Mann seine Ausführungen beendet hatte und sichtlich aufgebracht den Kommissar anstarrte, fragte Kießling in ruhigem Ton:
»Wie kommen Sie eigentlich darauf, dass Gerber Ihre Tochter umgebracht hat, geschweige denn dass es überhaupt Mord war, der zu ihrem Tode führte?«
Diese Frage hatte Hartmut Wolf nicht erwartet. Sie schien ihn zu verunsichern.
Er schüttelte den Kopf und antwortete: »Was soll es denn sonst gewesen sein? Das war alles so schrecklich damals. Diese Nacht, als Serafinas Kleid brennend am Grauen Haus hing. Hören Sie auf, in der Vergangenheit zu wühlen. Fangen Sie lieber den Täter, der für die Taten von damals und heute verantwortlich ist!«
»Könnte das aus Ihrer Sicht Anton Gerber sein?«
Diese Frage löste in Hartmut Wolf weitere Verunsicherung aus. Er versuchte, der Situation zu entfliehen.
»Sie sind von der Polizei, es ist Ihr Job. Finden Sie es heraus!«
Daraufhin stand der alte Mann auf, zog ein Stofftaschentuch aus seiner Tasche und wischte sich über die Stirn. Fordernd wies er mit einem Fingerzeig auf die Apartmenttür.
»Wenn ich Sie nun bitten dürfte, zu gehen. Ich bin ein alter Mann, der gekommen ist, um seine Tochter in Würde zu bestatten. Guten Tag!«
Kießling und Ella folgten der Aufforderung von Hartmut Wolf. Sie verabschiedeten sich ebenfalls angemessen höflich und verließen das Zimmer. Auf dem Gang legten sie erst ein paar Meter zurück, bevor Ella die erste Reaktion folgen ließ.
»O Mann, was für ein Unsympath. Bitte versprich mir eines, sollten Arnold und ich jemals Kinder haben und der wird so wie der alte Wolf, tritt ihm mit Anlauf in den Hintern!«
Kießling grinste und erwiderte: »Darauf kannst du Gift nehmen.« Danach wurde er ernst und fragte seine Kollegin nach ihrem Eindruck von dem eben geführten Gespräch.
Ella versuchte, ihre Gefühle und Eindrücke zu sondieren. Sie war immer noch sehr aufgebracht über die Einstellung eines Vaters, derart in das Schicksal seiner Tochter einzugreifen. Diese Gefühle überlagerten im Moment ihre objektive Sichtweise. Kießling hingegen war ruhig und nachdenklich. Er hatte das Gesagte völlig wertfrei aufgenommen. Zwar widersprach dies völlig seiner eigenen Weltanschauung, doch das sollte seine Einschätzung in diesem Moment nicht trüben.
Ella fragte: »Was denkst du?«
Der Kommissar überlegte kurz und erwiderte: »An dem Kerl ist einiges falsch. Ich kann es noch nicht ganz greifen, aber er verschweigt uns was!«
Jetzt, wo Kießling die Einschätzung erwähnte, kehrte die Klarheit in die Polizistin zurück. Sie wischte ihre Gefühle beiseite und übrig blieb das gleiche Gefühl, das der Kommissar hatte.
»Was jetzt?«, fragte die Polizistin.
»Ich fahre dich zum Revier. Setz dich an den Computer und finde mir alles über Hartmut Wolf heraus. Check jedes Detail, das du kriegen kannst. Wo war er die letzten Jahre, Bankkonten, Videothekenausweis, Payback-Karte – einfach alles.«
»Und was machst du?«, fragte Ella ihren Chef.
Kießling rümpfte die Nase und antwortete: »Ich geb meinem Gefühl nach und fahre später noch mal zum Grauen Haus. Irgendetwas haben wir übersehen!«