Angriff des Zerberus
A uf dem Polizeirevier machten sich Ella und Kießling direkt an die Recherchearbeit über Hartmut Wolf. Der Kommissar war wie besessen davon, dass der alte Mann ihnen einen Großteil der Wahrheit verbarg. Bevor er somit sein Vorhaben, die Fahrt zum Grauen Haus, in die Tat umsetzte, unterstützte er Ella beim Zusammenstellen des Recherchematerials. Für die Polizistin war jetzt wieder viel Telefonarbeit angesagt. Die meisten Unterlagen zu Wolf dürften nicht digital vorliegen. Somit musste sie wieder bei der Gemeindeverwaltung von Winkel beginnen, um seinen Weg in der Vergangenheit nachzuzeichnen. Sie befürchtete bereits, dass es wohl Berge von alten Akten gab, die mit der Leselupe und in Handarbeit durchforstet werden mussten. Nach zwei Stunden wandte sie sich an Kießling.
»Das bringt hier nichts mehr. Ich habe alles angefragt. Per Mail habe ich altes Archivmaterial von den Behörden bekommen und die Banken können mir auch einiges zur Verfügung stellen. Dazu muss ich allerdings vorher noch mal zu Staatsanwalt Koch, wegen einer offiziellen Verfügung. Sonst dürfen die Banken nichts rausgeben.«
Kießling erwiderte: »Dann mach das. Sammle den Krempel ein und fahr am besten nach Lorch zu unserem Rechercheteam, die können dir sicher mehr helfen als unsere Bürohengste hier.«
Der Kommissar spielte damit auf Willi und Arnold an. Gerade der Rentner schien in der Recherchearbeit aufzugehen wie eine frisch gegossene Blume. Außerdem kannte Willi viele Fakten des Falles, war ein Zeitzeuge und hochmotiviert. Beste Zutaten für eine erfolgreiche Ermittlung. Zudem war ihm klar, dass Ella in diesem entspannten Umfeld, zusammen mit ihrem Arnold, effektiver arbeiten könnte als auf dem Revier. Er selbst wollte jetzt die Zeit nutzen, um am Grauen Haus noch mal seinem Instinkt nachzugehen. Damit schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe, da seine Harley seit dem denkwürdigen Abend, an dem er zum Feuerhelden wurde, auf einem Parkplatz nahe dem historischen Gebäude stand.
Ella und Kießling packten alles zusammen, was für die Ermittlungen von Nöten war, stiegen in ein Dienstfahrzeug und fuhren Richtung Rheingau. Zu Ellas Verwunderung hatte sich ihr Chef von allein auf den Beifahrersitz gesetzt. Wenn er nicht gerade vorher mit Arnold und Willi ein paar Gläser Wein getrunken hatte, war dieses Verhalten nicht alltäglich. Auf der Fahrt sprach der Kommissar auffallend wenig, blickte ständig in den Außenspiegel, drehte von Zeit zu Zeit den Kopf und schaute aus der Heckscheibe auf den nachfolgenden Verkehr. Nach zehnminütiger Fahrt wurde Ella dieses Verhalten unheimlich.
»Was machst du denn die ganze Zeit?«, fragte die Polizistin.
Kießling schielte aus dem Augenwinkel zu seiner Kollegin und antwortete: »Seitdem wir vorhin beim Schloss Reinhartshausen vom Parkplatz gefahren sind, habe ich das Gefühl, dass uns jemand folgt. Dieser dunkle Mercedes, drei Autos weiter hinten, begleitet uns schon den ganzen Nachmittag. Vom Schloss bis zum Revier. Vorm Gebäude hat er an der Straße geparkt und jetzt fährt er wieder Richtung Rheingau hinter uns.«
Ella ging ein Licht auf. Im Büro hatte sie bereits bemerkt, dass Kießling von Zeit zu Zeit auffällig aus dem Fenster blickte. Da hatte er bereits den richtigen Riecher gehabt.
»Was meinst du, wer das ist?«, fragte die Polizistin.
Der Kommissar überlegte und wog die Möglichkeit ab. »Ich denke, dass unser Schatten zu Wolf gehört. Ich bin sicher, der folgt uns erst, seitdem wir diesen Vorzeigevater in die Mangel genommen haben. Ich sag Dir, da steckt mehr dahinter!«
»Soll ich ihn abschütteln?«, wollte Ella von Kießling mit einem Funkeln in den Augen wissen.
Dieser grinste und antwortete seiner heißblütigen Kollegin: »Gemach, gemach. Lass uns sehen, zu was das führt«. Mit dem Finger zeigte er auf ein Ortsschild und fuhr fort: »Da vorn geht’s nach Winkel rein. Lass mich wie geplant am Grauen Haus raus. Wir tun so, als hätten wir unseren Verfolger nicht bemerkt. Fahr du direkt weiter nach Lorch. Halt nicht an und ruf Arnold an, damit er dich persönlich in Empfang nimmt.«
Sarkastisch antwortete Ella: »Ja, Papa!«
Kießling verzog die Mundwinkel über diese lapidare Reaktion. Schließlich machte er sich Sorgen um seine Kollegin. Ella wusste ebenfalls um diesen Umstand und relativierte umgehend den Satz. Die beiden hatten schon zu viel erlebt, um jetzt leichtfertig mit einer derartigen Situation umzugehen.
Wie besprochen bog Ella in die Ausfahrt der Bundesstraße ein und setzte Kießling am Grauen Haus ab. Der Kommissar hatte den Verfolger ständig im Blick. Tatsächlich nahm der Mercedes ebenfalls die Ausfahrt und parkte allerdings einige Hundert Meter weiter hinten. Ella fuhr weiter. Der Kommissar ging ein paar Meter zu dem alten Gebäude und versteckte sich hinter einem parkenden Auto. Er wartete. Nach ein paar Minuten setzte sich der Mercedes in Bewegung und rollte langsam am Grauen Haus vorbei. Kießling blickte unbemerkt zu dem Verfolger. Er konnte einen Mann erkennen, der in seine Richtung sah. Er hielt ein Mobiltelefon am Ohr und schien mit jemandem zu sprechen. Kießling entschied sich, aus seiner Deckung herauszukommen und die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, bevor der Verfolger sich wieder an Ella hängte. Er kam aus seinem Versteck, ließ für den Beobachter aber nicht den Schluss zu, dass er von seiner Anwesenheit wusste. Der Kommissar ließ den Verfolger erkennen, dass er auf das Grundstück des Grauen Hauses ging. Nachdem er dieses betreten hatte, gab der Mann im Mercedes Gas und verschwand. Kießling blickte ihm nach. Verschiedene Gedanken gingen ihm durch den Kopf, welchen Hintergrund die Observation des Unbekannten haben könnte. Er griff unter seine Jacke und prüfte den Sitz seiner Dienstwaffe im Holster. Er rechnete nicht damit, dass ihnen van Fraisaens Mörder und Entführer auf den Fersen war, dennoch war äußerste Vorsicht geboten. Wer auch immer sie verfolgte, hatte mit Sicherheit keine guten Absichten.
Die Dämmerung hatte eingesetzt und Kießling ging prüfend über das Grundstück, unter dem Serafinas Überreste gelegen hatten. Am Fundort blickte er in die Grube. Diese war weiterhin mit Absperrband der Polizei versehen. Beim Gedanken daran, dass dies für viele Jahre die unentdeckte Ruhestätte einer jungen Frau gewesen war, lief es ihm eiskalt den Rücken runter. »Welch ein unrühmliches Ende für eine Deutsche Weinkönigin«, dachte er bei sich. Bei diesem Gedanken schreckte der Kommissar wie vom Blitz getroffen auf. Sein Bauch begann zu grummeln. Er spürte, dass dieser Geistesblitz mehr Bedeutung in sich trug, als er zunächst ahnte. Er rannte ein paar Meter nach oben, weg vom Gebäude und dem Fundort, wollte eine neue Perspektive einnehmen. Von diesem Punkt aus hatte er eine gute Sicht auf das Gebäude mit den Bauarbeiten und auf den Fundort von Serafinas menschlichen Überresten. Er konnte nicht glauben, was er sah.
»Das ist es«, säuselte der Kommissar.
Er zückte sein Mobiltelefon und wollte Ella anrufen, da vernahm er hinter sich ein Geräusch. Etwas bewegte sich in seinem Rücken. Kießling schob langsam seine Hand unter seine Jacke und berührte den Griff seiner Dienstwaffe. Doch weiter kam er nicht. Hinter ihm ertönte ein Knurren und Bellen. Der Kommissar drehte sich blitzschnell um und sah einen riesigen Hund, Zähne fletschend, auf ihn zustürmen.
»Ach du Scheiße!«, brüllte er panisch, nahm die Beine in die Hand und stürmte zurück Richtung Graues Haus. Er spürte, dass die Bestie ihm dicht auf den Fersen war. Das Adrenalin schoss in dem Kommissar hoch und verlieh ihm einen besonderen Schub, der ihm eine Extraportion an Geschwindigkeit brachte. Er konnte den feuchten Atem des Tieres förmlich in seinem Nacken spüren und bereitete sich darauf vor, jeden Moment zerfleischt zu werden. Trotz des Panikmodus nahm er vor sich einen kleinen Zaun wahr, der ein Gemüsebeet vom Grundstück trennte. Ein letzter Rettungsanker. Der Kommissar nahm Kurs auf die Umzäunung. Kurz davor nahm er alle Kraft zusammen, sprang mit beiden Beinen vom Boden ab und überwand den Zaun in olympischer Manier. Der Hund krachte in der nächsten Sekunde gegen die Gitter, fletschte die Zähne und bellte in ohrenbetäubender Lautstärke. Kießling blickte sich schnell um, damit er sicherstellen konnte, dass diese Bestie keinen anderen Weg zu ihm auf das sichere Terrain fand. Erleichtert, dem Tod oder zumindest schweren Verletzungen entkommen zu sein, blickte er das Tier prüfend an. »Woher zum Teufel war das Vieh gekommen?«, ging ihm durch den Kopf.
Plötzlich drangen Rufe zu ihm und der weiterhin bellenden sowie wild zähnefletschenden Bestie durch.
»Zerberus, Zerberus – hierher!«
Wie auf Knopfdruck beendete der Hund sein aggressives Verhalten und rannte zu einem Mann, der schnellen Schrittes auf den hinter dem Gatter kauernden Kießling zukam. Der Kommissar sah den Mann und erkannte diesen zu seiner Überraschung sofort. Es war Bauarbeiter Peter Ullreich.
Kießling brüllte in seine Richtung: »Ist das Ihrer? Machen Sie dieses Monstrum an der Leine fest, sonst beruhige ich ihn mit meiner Dienstwaffe.«
Ullreich griff sogleich den Hund am Halsband und befestigte eine dicke Leine. Nachdem Kießling sicher war, dass das Tier sicher angebunden war, kletterte er wieder über das Gatter. Auf der anderen Seite klopfte er den Dreck von seinen Klamotten und musste feststellen, dass er sich beim Sprung in die Sicherheit ein Knie aufgeschlagen hatte.
Ullreich war nervös und begann sich zu entschuldigen. »O mein Gott, Herr Kommissar, das tut mir fürchterlich leid. Normalerweise lass ich Zerberus nicht von der Leine, aber heute hat er sich losgerissen.«
Kießling schüttelte ungläubig den Kopf. »Was für ein Zufall – nicht wahr? Gehen Sie hier immer um diese Zeit spazieren?«
Ullreich zögerte, überlegte seine Antwort. Er entgegnete verunsichert: »Ja, das ist unsere Abendstrecke.«
Kießling nickte, hatte aber so seine Zweifel. »Komischer Zufall«, ging es dem Kommissar durch den Kopf.
Mit einem Wink auf den Hund sagte Kießling zu Ullreich: »Seinem Namen macht dieser Höllenhund allerdings alle Ehre.« Mit dieser Aussage wollte der Kommissar von seinem Verdacht ablenken, dass er diese ganze Szenerie als verdächtig empfand.
Ullreich schob ein aufgesetztes Lächeln vor und antwortete: »O ja, Zerberus ist ja auch gewissermaßen mein Wachhund«. Er machte eine kurze Pause, blickte sich verunsichert um und stammelte: »Wie gesagt, tut mir leid, Herr Kommissar, aber ich muss jetzt auch nach Hause. Zerberus braucht sein Fressen.«
Der Kommissar stimmte zu. »Das denke ich auch. Machen Sie sich mit dem Biest nach Hause, bevor es noch den nächsten Passanten auffrisst.«
Dies ließ sich Ullreich nicht zweimal sagen und verschwand kurzerhand mit seinem tierischen Begleiter.
Kießling schluckte, konnte die gerade erlebte Szene immer noch nicht fassen. Er klopfte sich noch mal den Dreck von der Hose und ging zu seiner Harley. Am Motorrad angekommen rief er Ella an und erzählte von dem Vorgefallenen. Diese fragte sofort, ob sie vorbeikommen solle oder er einen Arzt brauche. Kießling verneinte und wies seine Assistentin an, mit den Recherchen weiterzumachen. Er selbst musste seine Gedanken ordnen und das Geschehene erst mal sacken lassen. Kießling hoffte, dass seine Eingebung mit Ellas Ergebnissen harmonierte. Sie verabredeten sich für den nächsten Morgen auf dem Polizeirevier. Sie solle Willi und Arnold mitbringen, da die beiden ihre tatkräftigen Unterstützer waren.