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Sofia griff nach Benjamins Hand. Die Kamera hatte nah an Franz Oswalds Gesicht herangezoomt. Er sah noch genauso aus wie früher: sonnengebräunt, durchdringender Blick, kein Schatten von auch nur einem
grauen Haar in seiner schwarzen Haarpracht. Die einzigen sichtbaren Spuren der vergangenen fünfzehn Jahre waren die schmalen Falten an den Mundwinkeln. Oder sind das Lachgrübchen gewesen? Unmöglich.
Aber an seiner Stimme und Tonlage hatte sich etwas verändert. Hier sprach ein ruhiger, beherrschter Franz. Er hatte seine Rolle als versessener Erlöser abgelegt und sich eine reifere Persona gewählt. Eine seriöse, Geborgenheit ausstrahlende Vaterfigur.
»Es ist für uns Schweden eine Zeit großer Trauer und auch eine Zeit zum Nachdenken«, sagte er mit ernster Miene. »Was will ich mit meinem Leben anfangen? Was tun wir unserem Lebensraum, unserer Erde an? Diese Fragen sollten wir uns in der gegenwärtigen Situation alle stellen. Die Klimaveränderungen sind die größte Bedrohung der menschlichen Existenz. Wir haben keine Zeit, noch länger abzuwarten. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt für Gier. Das Schicksal der Menschheit, die Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder steht auf dem Spiel.«
Er lächelte fast wehmütig in die Kamera.
»Allen, die einen geliebten Menschen oder ihr Zuhause
verloren haben. Deren Existenz vor den eigenen Augen vernichtet wurde. Die ein traumatisches Erlebnis verarbeiten müssen. Euch allen möchte ich sagen: Ich fühle mit euch. Und euretwegen bin ich zurückgekommen.«
Eine Windböe ergriff eine seiner Haarsträhnen, aber er verzog keine Miene. Er sah feierlich und ernst aus, beschwert von dieser neuen Last, die er sich auf seine Schultern laden wollte. Um dem schwedischen Volk aus seiner Krise zu helfen. Er erinnerte die Zuschauer daran, dass er bereits vor zwanzig Jahren Naturkatastrophen dieses Ausmaßes vorhergesagt hätte. Wenn mehr Menschen den Reinheitslehren von ViaTerra gefolgt wären, hätte das vielleicht verhindert werden können. Er wiederholte mehrmals die Phrase: »Lauscht der Mutter Erde.« Und machte auch vor poetischen Elementen keinen Halt: »Ihren Hunger, ihren Durst, ihren Atem.« Merkwürdigerweise klang es schön, wenn er das sagte.
Benjamin drückte Sofias Hand und flüsterte: »Was für ein Heuchler!«
»Ja, oder?« Sie wusste aus ihrer Zeit bei ViaTerra, dass sich Franz Oswald kein bisschen für die Umwelt interessierte. Er hatte ihr einmal gesagt, dass die Reinheitslehre lediglich eine Methode war, um Mitglieder zu werben. Die Leute würden so etwas mögen. In Wirklichkeit ging es ihm immer nur um seine Thesen, die eigentlich nichts anderes waren als gängige Übungen, um Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten. Aber er behauptete, sie alle selbst erfunden zu haben. Ziel war es dabei, die Erinnerung an Vergangenes zu wecken und daraus Kraft und Energie zu schöpfen. Ein Teil der Thesen waren für sie unverständlich geblieben, sogar als enge Mitarbeiterin und Vertraute.
Julia war vom Sofa aufgesprungen und stand mit den
Ellenbogen auf die Rückenlehne gestützt. Allem Anschein nach war sie schwer begeistert von Franz Oswald.
Der machte gerade eine Pause.
»Ich weiß. Das Leben fühlt sich manchmal hoffnungslos und ungerecht an. Es ist schwer, nach einer solchen Katastrophe weiterzumachen. Aber es gibt einen Weg – ViaTerra, der Weg der Erde. Ihr dürft diesen Weg gerne mit mir gemeinsam gehen. Vielen Dank, dass ihr mir zugehört habt!«
Sofia spürte den warmen Atem ihrer Tochter an der Wange.
»Verdammt, Mama! Der ist ja noch immer heiß!«
Sofia blieb reglos sitzen und starrte auf den Fernseher. Wenn du wüsstest.
Die Kamera zoomte weg von den Klippen auf Dimö, und der Zuschauer befand sich auf einmal in einem Fernsehstudio, in dem ein paar Menschen auf dem Sofa saßen und sich unterhielten. Der Sender nannte das den Krisenraum
. Einige Promis, ein Psychologe und ein Architekt diskutierten über die verschiedenen Aspekte des verheerenden Sturms Herkules.
Allerdings gab es jetzt nur ein
Thema – Franz Oswalds Comeback.
»Dieses Video wurde uns heute zugesandt«, erklärte der Moderator. »Wir hier bei Extra
sind die Ersten mit diesen Breaking News über sein Comeback. Was sagen meine Experten dazu?«
Der Psychologe war besonders skeptisch. Er betonte, dass Franz Oswald nicht der Einzige sei, der vor den Konsequenzen des Treibhauseffektes gewarnt habe. Außerdem habe er eine mehr als zweifelhafte Vergangenheit. Eine der Promis, eine platinblonde Schauspielerin, unterbrach ihn vehement
.
»Come on! Man sollte ihm doch wenigstens eine Chance geben. Diese angebliche Vergewaltigung ist über fünfzehn Jahre her. Damals hat das Wort der Frau gegen seins gestanden. Er wurde wegen Nötigung verurteilt und hat seine Strafe abgesessen. Ich habe gehört, dass er das Sorgerecht für die Kinder hat, die er mit dieser Frau bekommen hat und sich sehr gut um sie kümmert.«
Eine ältere Dame, eine Autorin, nickte zustimmend. »In seiner Rede wurde wunderbar deutlich, wie sehr ihn das alles bewegt. Das konnte man auch gut in seinen Augen sehen, das war unverkennbar.«
»Es ist doch bewundernswert, dass wenigstens einer
versucht, die Menschen aus dieser Krise zu führen«, fügte die Platinblonde hinzu. »Die Politiker reden immer nur dummes Zeug.«
Dann unterhielten sie sich über die Gerüchte, die über Franz Oswalds Verschwinden aus der Öffentlichkeit kursierten. Erst danach kehrten sie zum eigentlichen Thema, dem Sturm und seinen Folgen, zurück. Fürchterliche Aufnahmen der Zerstörungen wurden gezeigt. Diese Bilder hatte Sofia schon an die hundert Mal gesehen. Unter den Aufnahmen standen in der Laufschrift Aussagen von Prominenten: Mein Herz blutet. Kräftige Küsse an alle, denen Herkules Schlimmes angetan hat.
Sofia seufzte und schaltete den Fernseher aus. Sie löste ihre Hand aus Benjamins, weil sie schweißnass war.
»Es ist einfach unfassbar! Die Leute hören dem tatsächlich zu! Die glauben ihm.«
»Verdammt!«, sagte Benjamin. »Die Leute haben einfach keine Ahnung, was er uns angetan hat. Sie wissen nicht, wie er seine Angestellten auf ViaTerra behandelt hat. Das Letzte, was sie von ihm mitbekommen haben, waren seine
Abschlussworte bei der Gerichtsverhandlung. Als er behauptet hat, dass Elvira mit allem einverstanden gewesen war. Und wenn sie älter als vierzehn gewesen wäre, hätte er den Gerichtssaal hundertprozentig als freier Mann verlassen. Es gibt Politiker und andere Anführer, die bei wesentlich größeren Vergehen straffrei ausgegangen sind. Außerdem, was kann er schon ausrichten? Eine kleine Rede auf seiner Insel halten? Seine Methoden sind völlig altbacken und unmodern.«
Julia saß rittlings auf der Armlehne des Sofas, versunken im Display ihres Handys.
»Das Netz ist voll mit dem!«, rief sie. »In allen sozialen Medien ist der unterwegs. Twitter, Facebook, Newsflashs, Online-Sendungen, überall. Hunderte von Tweets allein in den letzten Minuten. Doch
nicht so unmodern, was? Und seht mal! Es gibt auch eine neue Homepage.«
»Julia!«, ermahnte sie Benjamin. »Dein Enthusiasmus ist ziemlich unpassend, wenn man bedenkt, was dieser Typ deiner Mutter und mir und vielen anderen angetan hat.«
»Schon bei dem Gedanken daran, dass er wieder aktiv ist, muss ich kotzen«, sagte Sofia.
»Liebling, das hat alles nichts mit uns zu tun«, sagte Benjamin beschwichtigend und nahm sie in den Arm.
»Die Medien werden einen ökologischen Nationalhelden aus ihm machen.«
»Wohl kaum. Schließlich ist er nicht der Einzige, der über die Umweltzerstörung spricht. Außerdem hat er in den letzten zehn Jahren nichts von Bedeutung von sich gegeben.«
Julia schien von ihren Worten vollkommen unbeeindruckt zu bleiben. Sie klickte eine Seite an und betrachtete ein Foto von Oswald. Ihr fasziniertes Lächeln gefiel Sofia
überhaupt nicht. Auf einmal bekam sie keine Luft mehr, sprang auf und rannte in den Garten.
Es war Oktober. Der Sturm hatte den Bäumen viel zu früh ihr Laub genommen, es machte den Eindruck, als wären die brennenden Farben des Herbstes ein Feuer gewesen, das er mit einem einzigen Atemzug ausgepustet hatte. Die Bäume, die den Sturm überlebt hatten, streckten ihre nackten Zweige in den Himmel. Es mochte karg und kahl sein, war aber trotzdem schön. Der Tau hatte sich schon wie eine silberne Decke auf den Rasen gelegt. In den Herbstduft hatte sich der Geruch von Seewasser gemischt, es roch süßer und stechender.
Sie musste an ihre kleine Unterkunft für Aussteiger und das Telefonat mit Anna denken. Das Haus war in der stürmischen Nacht dem Erdboden gleichgemacht worden. Wenn sie nicht schnell eine große Summe zusammenbekämen, würden sie nicht weitermachen können. Sieben Aussteiger hatten sie zurzeit aufgenommen. Die waren mit Anna ins Landesinnere geflohen und für ein paar Tage bei einer freundlichen Familie im Keller untergekommen. Mittlerweile hatte Anna einen alten VW-Bus organisieren können und war mit den Aussteigern auf dem Weg in das Sommerhaus ihrer Eltern, das in den Stockholmer Schären stand. Von dort aus würde es ihr hoffentlich gelingen, sie so schonend wie möglich ins richtige Leben zu entlassen. Sofia wollte sie zuerst begleiten, aber Anna fand es besser, dass sie vor Ort blieb und sich nach den Möglichkeiten erkundigte, das Haus wiederherzustellen. Mithilfe von Spenden vielleicht. Auf erneute staatliche Subventionen konnten sie nicht hoffen, der Sturm hatte Schäden in einem solchen Ausmaß verursacht, dass erst andere gesellschaftlich relevante Bereiche bevorzugt werden würden
.
Nach dem Telefonat fühlte sich Sofia, als läge ihr ein Stein im Magen. Die Bilder von dem schönen Haus tauchten auf, die schönen Sommerabende auf der Veranda, die Gesichter derer, denen sie hatten helfen können. Obwohl die Herberge
nur ein paar Kilometer entfernt war, wollte sie lieber nicht dort hinfahren und sich das Elend ansehen. Noch nicht. Das Haus war zwar versichert, aber nicht gegen Naturkatastrophen. Nicht gegen Herkules.
Damit war alles, wofür sie in den letzten Jahren gekämpft und gearbeitet hatte, zerstört worden. Und gleichzeitig feierte Franz sein Comeback und bereicherte sich an der Katastrophe. Da meldete sich ihr glühender Hass wieder zu Wort. Obwohl sie gedacht hatte, dass sie ihn endlich hinter sich gelassen hatte. Ihr Verlangen nach Gerechtigkeit – Wiedergutmachung – war so stark, dass ihr ganz schwindelig wurde. Sie wollte ihn in die Zange nehmen. Am liebsten wollte sie alles zerstören, was ihm etwas bedeutete.
Sie legte sich auf den Rasen und wurde sofort von der Dunkelheit, den Millionen von Sternen und der vollkommenen Stille umschlungen. Ihr Atem erzeugte kleine Wolken, sie stiegen auf und lösten sich auf. Der kalte Tau drang durch ihre Kleidung, als würde sie auf einer Eisscholle liegen.
Mein Leben ist nur ein kurzer Atemhauch in der Unendlichkeit des Universums, dachte sie voller Ehrfurcht bei dem Anblick der Sterne am Himmel. Sie schloss die Augen, und plötzlich war sie wieder einundzwanzig, genauso trotzig wie Julia und auf dem Weg nach Dimö – zu dem größten Abenteuer ihres Lebens. Sie erinnerte sich an die Insel. An die Sonnenuntergänge, die Stürme, die Kälte in den Winternächten und die ständig wiederkehrenden Nebel. Sie erinnerte sich an das Glücksgefühl am Anfang, als sie
sich in Benjamin verliebt hatte. Aber auch an die Gefangenschaft und ihre Verzweiflung, bis sie endlich befreit wurde. Sie ließ alle Erinnerungen Revue passieren. Wie schnell einem das Leben zwischen den Fingern hindurchrinnen konnte, ohne dass man den geringsten Abdruck auf der Erde hinterlassen hatte. Ich muss die Herberge
retten, beschloss sie, sie wiederaufbauen. Das werde ich auf jeden Fall tun, koste es, was es wolle.
Eine kleine Windböe trug Julias Lachen aus dem Haus zu ihr. Die Feuchtigkeit war durch ihre Hosenbeine gedrungen, sie stand auf und ging zurück. Franz Oswalds Erfolg sollte ein schnelles Ende haben. Die Medien würden ihm ein paar Glanztage bescheren, aber ViaTerra würde in der erschütterten Gesellschaft nie wieder Fuß fassen können. Die Leute würden sich um ihre Sachen kümmern. Es gab keine Zeit mehr für mystische Zusammenkünfte und Götzenverehrung.
Außerdem interessiert mich das alles nicht mehr, sagte sie sich.
Aber das tat es doch.