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Hinter unserem Haus gab es eine große Wiese, auf der früher die Schafe geweidet haben. Als der Tierpfleger vor vielen Jahren floh, reduzierte Vater die Anzahl der Tiere auf dem Anwesen. Seitdem hat es nur noch vegetarisches Essen gegeben. Im Stall lebten lediglich noch ein paar Milchkühe und Legehennen. Die Wiese hatte jahrelang brach gelegen, nur Vic und ich spielten da ab und zu Fangen. Nachdem er mich aber einmal in einen Brennnesselbusch geschubst hatte, weigerte ich mich, die Wiese zu betreten.
Ein paar Wochen nach dem Besuch von Carmen Gardell aber machte Vater den Spatenstich für ein neues Projekt auf ebendieser Wiese. Wir waren von den Baggern und Lastwagen begeistert, die plötzlich auf dem Anwesen ein und aus fuhren und hielten uns ständig auf der Baustelle auf. Wir wussten nicht, was gebaut wurde, und auch Mutter wich unseren Fragen aus. Aber dann kam der Tag, an dem Vater es uns erzählte. Sein Gesicht hatte etwas Feierliches und Verschmitztes.
»Ihr werdet bald eure eigene Schule bekommen. Und Schulkameraden.«
Vic jubelte vor Freude. Ich fand die Vorstellung eher beängstigend, versuchte aber, fröhlich auszusehen. Was mir offenbar nicht gelang.
»Freust du dich gar nicht, Thor?«, fragte Vater mich
.
»Doch, sehr«, antwortete ich und lächelte, so breit ich konnte. Erst dann wandte er den Blick von mir ab.
Ich denke oft an den Tag zurück, als die ersten Schulkinder mit ihren Eltern eintrafen. Im Nachhinein versuche ich zu verstehen, warum sie sich für diese Schule entschieden hatten. Am besten kann ich mich daran erinnern, wie sie Vater angesehen haben. Angehimmelt haben sie ihn. Voller Ehrfurcht und Bewunderung. Mit einer Liebe, die sich von der Liebe unterschied, mit der sie ihre Kinder ansahen. Vielleicht wollten sie deshalb nie wahrhaben, was in der Schule wirklich geschah.
Denn es gab Vieles, über das wir mit niemandem sprechen durften.
Die Schule
Die Schule ist fertiggestellt. Eines der Gebäude besteht aus mehreren Zimmern mit Stockbetten. Sonst befindet sich nichts in den Räumen, man kann also nur auf den Betten herumhüpfen. Aber das andere Gebäude ist groß und aufregend. Es gibt einen Schulraum mit Tischen und Stühlen, einen Gymnastiksaal und sogar eine Bibliothek. Es riecht ganz neu nach Holz und Linoleum, und es hallt, wenn man durch das Haus rennt. Eigentlich dürfen wir uns nicht im Schulgebäude aufhalten, aber das interessiert uns wenig. Mutter erzählte, dass auch das Schulamt irgendwann kommen würde und wir uns an diesem Tag nicht in der Schule aufhalten dürfen. Doch an diesem Morgen schleichen wir uns aus dem Haus, während Mutter noch schläft.
Plötzlich kommt sie reingestürmt und ruft uns mit schriller Stimme. Sie wirkt furchtbar nervös
.
»Ihr müsst sofort reinkommen und euch was Ordentliches anziehen. Wir bekommen Besuch!«
Sie weigert sich, unsere Fragen zu beantworten, obwohl wir nicht lockerlassen. Wie gehetzt zieht sie uns um und kämmt unsere Haare. Sie reißt und zerrt an meinen widerspenstigen Locken. Das tut so weh, dass ich anfange zu weinen.
Wir hören ausgelassene und fröhliche Stimmen vor der Tür und dann Vaters Stimme, die alle anderen übertönt. Wir klettern in den Erker und sehen die kleine Versammlung vor unserer Haustür. Eine Gruppe von Erwachsenen, die Vater aufmerksam lauschen, und viele Kinder. Wir hatten schon sehr lange keinen Kontakt zu anderen Kindern. Vic ist so aufgedreht, dass er wie verrückt im Kreis rennt. Ich drücke meine Nase an der Fensterscheibe platt und bestaune atemlos die Fremden. Es sind drei Mädchen und drei Jungen. Die einen verstecken sich hinter ihren Eltern, die anderen rennen ausgelassen über den Hof. Ich werde nervös, weiß nicht, wie ich mit ihnen reden soll. Gleichzeitig aber möchte ich da draußen bei ihnen sein und mit ihnen spielen. Sie sehen so frei aus.
»Mama, was wollen die hier?«, frage ich.
»Sie werden hier mit euch zur Schule gehen. Das wird schön, nicht wahr?«
Die Gruppe verschwindet aus meinem Sichtfeld. Vater wird ihnen die Schule zeigen, erklärt mir Mutter, danach werden wir gemeinsam zu Abend essen.
Das Abendessen dauert eine Ewigkeit, und ich fühle mich die ganze Zeit beobachtet und angestarrt. Vater redet fast ununterbrochen. Er legt den Eltern seine Pädagogik dar und seine Ansichten über die Unterweisung und Erziehung. Seine Zuhörer sind von seinen Worten hingerissen. Einige bekommen glasige Augen, andere nicken die ganze Zeit. Sogar die Kinder starren ihn mit offenen Mündern an
.
»Dieses Schulprojekt ist eines der wichtigsten in der Geschichte von ViaTerra, das kann ich Ihnen versichern. Die Kinder, die hier unterrichtet werden, sind rein und unzerstört. Mithilfe der Methoden von ViaTerra und der Tatsache, dass wir sie vor den destruktiven staatlichen Schulen bewahren, werden ihnen ganz andere Möglichkeiten geboten als anderen Kindern. Sie werden eine strahlende Zukunft haben, auch das sage ich Ihnen zu. Sie werden unser Stoßtrupp im Kampf für eine bessere Welt sein.«
Eine Frau, die direkt neben ihm sitzt, räuspert sich verlegen.
»Entschuldigen Sie bitte meinen Einwand, aber ich kann mich nicht an den Gedanken gewöhnen, meine Tochter die ganze Woche über wegzugeben und hierzulassen. Verzeihen Sie mein Zweifeln, aber es ist wohl mein Mutterherz, das …«
»Das verstehe ich gut«, sagt Vater und legt seine Hand auf ihre. »Aber mitunter ist es sogar von Gewinn, dass die Kinder von ihren Eltern getrennt sind und lernen, allein zurechtzukommen. Sie sind die ganze Zeit unter kompetenter Aufsicht. Das Schulamt hat unseren Lehrplan geprüft und anerkannt, außerdem kommen Ihre Kinder ja jedes Wochenende nach Hause. Natürlich dürfen Sie die Wochenenden auch mit ihnen gemeinsam hier verbringen, sich in unserem Spa erholen und das ökologische Essen und die wunderschöne Natur auf dieser Insel genießen.«
Ich kann förmlich sehen, wie der Widerstand der Frau schmilzt. Das Bild ihres Gesichtes verfolgt mich noch lange danach. Wie sich ihre Sorge in Luft aufgelöst hat. Vor allem ist es der Blick, mit dem sie Vater ansieht. Der hat etwas Unheimliches, obwohl ich nicht bestimmen kann, was es genau ist.
»So, jetzt höre ich aber auf zu reden, damit Sie das Essen genießen können. Ein Letztes will ich noch sagen. Sie sollen wissen, dass Sie zu den Handverlesenen gehören, die ich mir für dieses Projekt ausgesucht habe. Sie gehören zu den ergebensten
Mitgliedern von ViaTerra, auf die ich mich immer verlassen konnte. Ich möchte Ihnen danken, dass Sie mich vor allem in den schweren Jahren so unterstützt haben.«
Nach dem Abendessen werden wir zurück ins Haus geschickt, denn Vater will den Eltern den Lehrplan im Einzelnen erläutern. Ich bin noch ganz benommen von meinen neuen Mitschülern. Der eine Junge mit der großen Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen sah irgendwie besonders aus. Eines der Mädchen war ausgesprochen blass. Aber am meisten hat mich der Junge mit den freundlichen Augen und dem lockigen Haar interessiert. Er sah genauso aus wie ich, nur mit dunklen Haaren. Ich glaube, er heißt Matteo.
Am nächsten Morgen werden wir von lautem Poltern gegen die Haustür geweckt. Mutter macht auf. Wir stehen verschlafen hinter ihr und starren Vater an, der da in Begleitung von zwei Fremden steht. Eine dicke ältere Frau mit Brille, die sehr übellaunig aussieht, und ein sehr großer, junger Mann, größer noch als Vater, der sehr stark wirkt.
»Jetzt ist alles in trockenen Tüchern!«, verkündet er uns. »Die anderen Kinder kommen nächste Woche.«
Mutter murmelt leise und verängstigt eine Antwort. Vater fordert sie auf, sich und uns anzuziehen. Die drei sitzen im Wohnzimmer, als wir wieder nach unten kommen. Die beiden Fremden mustern uns neugierig.
»Kommt mal zu mir, Vic und Thor«, sagt Vater. »Ich möchte euch euren neuen Betreuer und eure neue Lehrerin vorstellen.«
Der junge Mann kommt auf uns zu. Er ist ungefähr so alt wie Mutter.
Er hat blondes, weiches Haar, das so kurz geschnitten ist, dass man die rosa Kopfhaut sehen kann. Seine Augen sind eisblau. Sein Blick wandert an uns herunter, und als er mich ansieht,
verzieht sich sein Mund zu einem Lächeln. Aber es ist kein freundliches.
»Das ist Karsten Hoss. Er ist ab jetzt euer Betreuer und wird euch bei den Hausaufgaben helfen, mit euch Sport machen, Fußball spielen und so was.«
Mein Herz sinkt mir bis in die Knie, denn ich kann nicht gut Fußball spielen. Karsten grinst uns an.
»Das wird schon. Obwohl ich ziemlich hart bin, nur damit ihr es wisst. Faulpelze kann ich nicht ausstehen.« Vater nickt zustimmend und zeigt dann auf die Frau, die uns ebenfalls eingehend inspiziert.
»Und das wird eure neue Lehrerin sein«, sagt er.
Sie stellt sich als Alice Karlsson vor, aber sie spricht es so schnell aus, dass Vic »Alikan« versteht.
Später wird das unser Spitzname für sie: »Ali-Khan«. Großmutter hatte uns nämlich von Dschingis Khan vorgelesen, einem grausamen Krieger, der seine Untertanen in Angst und Schrecken versetzt hat. Und so eine war Alice Karlsson.