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Es hatte auch Vorteile, dass wir Kinder der Erde von der restlichen Welt isoliert waren. Wir kamen nicht mit Drogen oder Alkohol in Berührung und konnten auch nicht der Computerspielsucht verfallen. Das Bedürfnis nach teurer Kleidung und schönem Schmuck kam gar nicht erst auf, und das machte uns sehr bescheiden. Man muss immer versuchen, das Positive in allem zu sehen. Obwohl das nicht unbedingt meine starke Seite ist.
Mit dem Mobbing verhielt es sich ähnlich. Es gab keinen Prügelknaben in der Schule, also nicht nur einen, der immer das Opfer war. Sobald man bei Ali-Khan und Karsten in Ungnade fiel, wurde man ausgestoßen und verspottet, allen voran von Vater. Wenn der Chef sich über dich ärgerte, konnte dein Leben im Bruchteil einer Sekunde zur Hölle auf Erden werden. Deshalb litt ich nicht mehr als die anderen.
Als Vic und ich elf Jahre alt waren – und somit die Älteren unter uns schon dreizehn –, entschied Vater, dass wir etwas über Sex erfahren sollten, und ordnete Sexualkundeunterricht an. Seiner Meinung nach war es wichtig, früh damit anzufangen. Die zukünftigen Führer der Welt sollten bei so einer wichtigen Sache wie Sex keine Spätzünder sein.
Der Sexualkundeunterrich t
Ali-Khan ist dunkelrot geworden, das ist ihr in den letzten zehn Minuten schon mehrmals passiert. Sie gerät ins Stocken. Das ist eine ganz neue Seite an ihr, und wir sind begeistert, weil wir uns endlich einmal überlegen fühlen.
Sie hat einen Penis ans Whiteboard gezeichnet. Einen Pimmel, der an einem dicken Hodensack hängt. Der sieht wie eine fette Made aus. Alle kichern, und Didrik stößt kleine Jubelschreie aus, was Ali-Khan noch verlegener macht. Sie zischt uns an, dass wir still sein sollen. Als Nächstes ist die Scheide dran.
Sie hat die ersten beiden Striche gezogen, als Vater mit Karsten ins Klassenzimmer kommt. Das macht Ali-Khan noch nervöser, und sie fängt sogar an zu stottern. Ich winde mich auf meinem Stuhl. Die Stimmung ist unerträglich peinlich. Vater bricht in schallendes Gelächter aus, woraufhin Ali-Khans Gesichtsfarbe dunkelrot wird. Aber dann plötzlich runzelt Vater die Stirn.
»Darf man das hier Sexualkundeunterricht nennen?«, fragt er und zeigt auf den traurigen Penis und die zwei Striche am Whiteboard. »Das ist ja lächerlich. Sie qualifizieren sich nicht gerade dafür, die Kinder in diesem Fach zu unterrichten«, sagt er und durchbohrt Ali-Khan mit seinen Blicken. Dann dreht er sich zu Karsten um, schüttelt schließlich aber den Kopf. »Nein, Sie auch nicht. Am besten wäre es wohl, wenn ich es selbst machen würde, dann hätten die Kinder eine Garantie für höchste Qualität, aber leider ist mein Kalender voll.«
Tief in Gedanken versunken läuft er einige Male im Klassenzimmer auf und ab. Wir werfen uns ängstliche Blicke zu. Der traurige Penis am Whiteboard erinnert uns nur daran, dass in Vaters Augen ohnehin fast alles, was wir machen, armselig und dumm ist. Dann plötzlich fängt er an zu nicken, was bedeutet, dass er kurz vor einem Geistesblitz steht. Abrupt dreht er sich zu Karsten um.
»Bringen Sie den kleinen Computer aus dem Büro nebenan hierher. Wissen Sie, wie man einen Filter installiert, damit bestimmte Seiten gesperrt sind?«
Karsten schüttelt den Kopf.
»Dann müssen Sie sich erkundigen. Sie sperren alle Seiten, die nur Quatsch über mich schreiben, auf unsere Homepage dürfen die Kinder aber gerne gehen. Und dann zeigen Sie ihnen Softpornos, allerdings wirklich von der ganz unschuldigen Art. Wir fangen mit Titten und Ärschen und der Missionarsstellung an. So lernen sie, wie es funktioniert. So eine wie die da brauchen wir dafür nicht«, sagt er abfällig und zeigt auf Ali-Khan.
»Sie sollen nur wissen, wie es funktioniert, verstanden. Das ist das einzige Ziel. Und einmal in der Woche gibt es eine Beichtstunde, damit sie gar nicht erst auf die Idee kommen, etwas Versautes anzustellen.«
Noch verstehen wir kein Wort von dem, was die Erwachsenen da reden. Aber kurz darauf wird es klarer.
In den darauffolgenden Tagen drängen wir uns vor dem Computer. Einen Computer zu sehen ist schon an sich etwas ganz Besonderes. Bunte Fotos, kleine Filme – man muss nur auf die Maus klicken. Für uns eröffnet sich eine ganz neue Welt. Wir sehen unzählige nackte Körper, die seltsame Dinge tun, die sich kneifen und dabei keuchen und stöhnen. Das ist erregend und zugleich einschüchternd. Es kribbelt angenehm in meinem Bauch.
Molly, die immer die Taffeste von allen ist, machen die Filme verlegen. Sara hingegen, die eher schüchtern ist, dreht dabei richtig auf und will gar nicht aufhören. Vic und Didrik sagen immer wieder, wie krass das ist. Ein paar Tage später erwische ich die beiden zusammen mit Sara im Schlafsaal der Jungen. Sie ist untenrum nackt, und Vic und Didrik fummeln an ihr herum.
Ich muss schwören, nichts zu verraten.
In den Beichtstunden bekommt Ali-Khan eine ganze Menge zu hören. Die nackten Körper auf dem Bildschirm lösen eine Menge verbotene Gedanken und Gefühle aus. Das nimmt so überhand, dass sie beschließt, die Beichtstunde jeden Freitag im Klassenzimmer vor allen anderen stattfinden zu lassen. Damit wir zweimal überlegen, bevor wir etwas Unanständiges machen. Mir graut vor diesen Freitagsstunden. Die Stimmung ist beklemmend und peinlich.
Außerdem muss uns Ali-Khan die Beichten meistens aus der Nase ziehen. Damit wir Sachen gestehen wie:
»Ich habe unter der Decke versucht, an meinem Pimmel zu lutschen.«
»Ich habe mich da unten berührt.« In diesem Fall musste man genau angeben, wo und wie oft.
»Ich habe Sara an die Brust gefasst. Aber sie wollte das.«
Alle müssen sich vor die Klasse stellen.
Und alle müssen eine Beichte ablegen.
Allen ist das peinlich, nur Ali-Khan nicht mehr. Sie wird nicht mehr rot, wenn sie über Sex spricht. Ich finde sogar, dass sie richtig aufgedreht wirkt. Als sie eines Tages begreift, dass in den Pornofilmen nicht erklärt wird, wie Kinder gemacht werden, greift sie zu einem anderen Mittel. Sie erzählt uns die Geschichte von dem Jungen, der ein Mädchen geschwängert hat und deswegen ins Gefängnis musste. Dazu hält sie ein Paket Kondome in die Luft, fügt aber hinzu, dass diese nur für erwachsene Männer bestimmt sind. Auf ViaTerra, bei Kinder der Erd e, würde so ein Schweinkram nicht zugelassen werden.
Sara beichtet, dass Vic und Didrik sie zwischen ihren Beinen berührt haben. Vic hätte sogar einen Finger in sie hineingesteckt. Zur Strafe müssen die drei zehn Runden um das Schulgebäude rennen und alle Toiletten mit einer Zahnbürste schrubben. Aber richtig wütend ist sie deswegen nicht.
Ganz anders verhält es sich mit Hugos Beichte, dem, was er Ali-Khan unter vier Augen gesteht. Daraufhin verschwindet Hugo und kommt erst ein paar Wochen später wieder zurück. Er muss sich vor die Klasse stellen und gestehen, dass er unreine, widerwärtige Fantasien gehabt hat, die so abstoßend klingen, dass er uns davon nicht erzählen kann. Aber jetzt, sagt er, hat er sie zum Glück nicht mehr.
»Aber ich bin nicht schwul«, beendet er sein Geständnis, stürmt auf seinen Platz zurück und setzt sich mit einem Seufzer der Erleichterung.
An diesem Abend erfahre ich von Hugos Fantasien, aber erst, nachdem ich ihm hundert Mal geschworen habe, es niemandem zu erzählen. Er hat davon geträumt, dass Vater seinen Pimmel in den Mund nimmt und daran lutscht.
Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter.
Der Sexualkundeunterricht hat in unserer kleinen Schule ein Ungeheuer entfesselt.