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Die Einrichtung des Straflagers bei Kinder der Erde
haben die anderen mir zu verdanken.
Das Personal von ViaTerra hatte etwas Entsprechendes. Bei ihnen hieß es das Büßerprogramm
. Wir haben sie oft in ihren schweren Arbeitsstiefeln und mit roten Mützen über den Hof hechten gesehen. Untergebracht waren sie in der Scheune hinter dem Stall. Unser Großvater Anders – Mutters Vater – musste mehrere Jahre in dem Programm verbringen.
Das Straflager für uns Kinder wurde schlichtweg Das Loch
genannt.
Es war ein kleiner Schuppen in einer Senke hinter dem Stall, nicht größer als zehn Quadratmeter, voller Gerümpel, Spinnweben und Schimmel. Wenn man den kleinen Tisch an die Wand schob, war auf dem Boden gerade mal Platz für zwei Schlafsäcke. Vielleicht hatte es seinen Namen von seinem Standort, der tiefer gelegen war als alle anderen Gebäude auf dem Anwesen. Es war wirklich ein Loch, im wortwörtlichen Sinn.
Dorthin wurde ich nach Mutters Flucht geschickt.
Zum Glück war es Frühsommer, als ich meine Strafe im Loch antrat, im Winter wäre es dort unerträglich gewesen, kalt und zugig. Ziel meiner Bestrafung war es, dass ich mich dort mit meinen Vergehen konfrontierte und aufschreiben sollte, was ich Vater angetan hatte. Um dadurch
von meiner Schuld und meinem schlechten Gewissen befreit zu werden.
Gleichzeitig hatte ich die Aufgabe, den Graben freizulegen, der an der Mauer entlang verlief und im Laufe der Jahre zugeschüttet worden war. Vater war der Ansicht, mir würde harte körperliche Arbeit guttun.
Es gab nur ein Problem. Sie konnten mich nicht allein lassen. Solange Mutter noch auf freiem Fuß war, bestand das Risiko, dass auch ich versuchen würde zu fliehen.
Deshalb wurde Matteo abkommandiert, um mit mir im Loch zu wohnen, mich zu bewachen und Karsten jeden Tag Bericht zu erstatten. Dieser Bericht wurde dann an Vater weitergeleitet.
Das Loch
Ich sitze an dem wackligen Tisch auf einem Hocker und schreibe alles auf, was ich Vater angetan habe. Dazu gehören auch Gedanken, selbst wenn sie nur flüchtig gewesen sind. Das konnte schon der Anflug von Unbehagen sein, wenn er in meiner Nähe war.
Der Papierstapel wächst täglich. Traurige Seiten, vollgeschmiert mit meiner krakeligen Handschrift. Matteo bohrt immer weiter, es muss doch noch mehr geben, was ich gestehen kann. Wenn man etwas oft genug bestreitet, empfindet man am Ende doch Schuld dafür. Zumindest funktioniert es bei mir so.
Vater kommt jeden Tag vorbei. Er taucht immer dann auf, wenn ich ihn am wenigsten erwarte. Und jedes Mal nimmt er ein Blatt vom Stapel und liest es durch. Er spricht kein Wort mit mir, aber seine Blicke sind so voller Verachtung und Hass, dass ich am liebsten zusammenschrumpfen und mich unter dem Tisch verstecken will
.
Heute reagiert er besonders stark auf die Zeilen, die er liest. Ich weiß, welche Passage es ist: der Moment, als ich Mutters Handy entdecke. Vater wendet sich an Matteo, der wie ein Stock in der Ecke steht, immer in Habtachtstellung, wenn er in der Nähe ist.
»Liest du diesen Scheiß durch?«, fragt er ihn.
»Ja, Chef, ich lese alles, was er schreibt. Jeden Tag«, antwortet Matteo.
»Aha. Und was hältst du davon?«
»Thors Vergehen sind schrecklich und widerlich.«
Vater blinzelt, drückt so sein Missfallen aus.
»Und seine Gedanken sind es auch«, fügt Matteo schnell noch hinzu.
Aber Vater schüttelt missbilligend den Kopf.
»Alle in eurer Gruppe würden die Tragweite wesentlich ernster empfinden als du. Ich hoffe nur, dass du nicht allzu freundlich zu ihm bist. Solche wie er verstehen nur eine harte Hand.«
Ich senke den Kopf und versuche, möglichst zerknirscht und schuldbewusst auszusehen. Meine größte Angst nämlich ist, dass Matteo sein Verhalten ändern wird, dass er gefühlskalt wird und mich vielleicht sogar schlägt. Seit ich im Loch sitze und von ihm bewacht werde, wirkt er abweisend und unzugänglich. Aber in seinen Augen habe ich immer etwas anderes gesehen. Mitgefühl.
»Nein, ich bin überhaupt nicht freundlich zu ihm«, erwidert Matteo da. Vielleicht kommt das ein bisschen zu schnell.
Denn Vater ist noch nicht überzeugt. Ängstlich hebe ich den Kopf.
»Was für ein Jammer, dass du den Sprung vom Teufelsfelsen überlebt hast«, sagt er.
Da empfinde ich etwas, was mir neu ist. Ich hasse ihn. Und zwar innig. Zum ersten Mal empfinde ich richtigen Hass.
Nachdem Vater gegangen ist, spüre ich eine unerträgliche
Spannung zwischen Matteo und mir. Verzweifelt suche ich die vertraute Milde in seinen Augen. Und bin erleichtert, als ich sie erkenne.
»Willst du raus und was arbeiten?«, fragt er.
Ich nicke. Allein der Gedanke, wieder zum Stift greifen zu müssen, erzeugt Übelkeit.
Dicke Wolken sind aufgezogen und hängen unheilverkündend über dem Anwesen. Es riecht nach Regen. Die Luft ist so feucht, dass ich das Gefühl habe, ich könnte in ihr ertrinken.
Schweigend arbeite ich ein paar Stunden im Graben. Irgendwann spüre ich Matteos wachsame Augen nicht mehr und bin allein mit meinen schweren Gedanken. Und aus dem Gefühl unendlicher Einsamkeit, die mir wie ein eiskalter Nordwind entgegenbläst, entsteht eine Art befreiender Taumel. Mein starres, diszipliniertes Leben wurde völlig auf den Kopf gestellt, und jetzt habe ich zwischen jedem Spatenstich Raum und Zeit für meine Gedanken.
Mich fasziniert, dass die Jahreszeiten sowohl innerhalb als auch außerhalb der Mauern denselben Gesetzen folgen. Ich finde es unglaublich, dass die Menschen dort draußen dieselbe Sonne und denselben Mond sehen wie ich. In mir drängen sich Fragen auf wie: Wer bin ich? Wer werde ich sein? Und wer werde ich niemals sein dürfen?
Auf einmal fühlt es sich an, als würde ich eine zweite Identität ausbilden.
Mir läuft der Schweiß über die Stirn, brennt in meinen Augen und schmeckt salzig auf meinen Lippen. Der Graben wird immer tiefer. Die Blasen an meinen Händen brennen. Eine von ihnen platzt auf. Aber ich grabe weiter, erfüllt von einer Erkenntnis, die langsam in mir Form annimmt. Ich hatte immer die Angst, dass Vater meine Gedanken lesen kann. Aber das kann er gar nicht. Den Hass, den ich bei seinem Besuch im
Loch für ihn empfunden habe, hat er nicht gesehen. Obwohl er sich mit seinem Blick bis in meine Seele gebohrt hat. Meine Gedanken gehören mir allein. Ich besitze jetzt etwas, was er mir niemals nehmen kann.
Matteos Stimme reißt mich viel zu schnell und plötzlich aus meinen Gedanken zurück in die Wirklichkeit. Aber es bleibt ein wohliges Gefühl zurück.
»Es ist an der Zeit, zurück an den Schreibtisch zu gehen«, sagt er.
Am Schuppen warten Vic und Didrik auf uns. Mir wird schwindelig.
»Da ist ja das Stück Scheiße!«, ruft Didrik.
Vic packt mich mit beiden Händen an der Jacke. Sein Gesicht ist nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Sein Atem ist keuchend, seine Augen flackern, ich weiß genau, was gleich passieren wird.
»Hast du Mutter gebumst?«, fragt er mich.
»Was?« Ich bin sicher, mich verhört zu haben.
»Der Chef sagt, dass ihr beide so eng miteinander wart, dass ihr bestimmt gebumst habt. Und wir werden jetzt die Wahrheit aus dir herausprügeln.«
Noch bin ich davon überzeugt, dass sie Scherze machen. Aber der Ausdruck in ihren Augen ist untrüglich. Der Chef höchstpersönlich hat sie geschickt, und kein Flehen oder Betteln wird mich davor bewahren.
»Das habe ich nicht getan!«, schreie ich. Meine Stimme bricht. Ich versuche, mich aus Vics Griff zu befreien.
Aber Didrik steht hinter mir und hält meine Arme fest.
Der Faustschlag kommt unerwartet schnell und trifft meinen Solarplexus. Mir bleibt die Luft weg, und ich krümme mich zusammen. Didrik lässt meine Arme los, und ich falle zu Boden. Vic zerrt mich hoch, bis ich stehe
.
»Los, gib zu, dass du Mutter gebumst hast!«
»Aber das habe ich nicht!«, wimmere ich. Aus den Augenwinkeln sehe ich Matteo. Ich verabscheue ihn genauso sehr wie Vic und Didrik. Die beiden könnten mich umbringen, ohne dass er etwas dagegen unternehmen würde.
Der zweite Schlag trifft mich im Schritt. Der Schmerz ist unerträglich, ich klappe zusammen und stolpere nach hinten. Da packt mich Didrik mit der einen Hand am Hals und drückt zu. Mit der anderen Hand boxt er mir ins Zwerchfell.
In diesem Augenblick ereignen sich zwei Dinge gleichzeitig.
Vic sagt: »Das reicht jetzt, Didrik!« Und ich höre ein leises Klicken.
Hinter den beiden steht Matteo. Er hat einen schwarzen länglichen Gegenstand in der Hand, den er sofort wieder in die Hosentasche steckt.
Vic und Didrik sind viel zu aufgedreht, sie haben das nicht mitbekommen.
Aber ich.
Matteo ist nicht nur im Besitz eines Handys. Er hat damit gerade ein Foto gemacht.