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Als wir nach Hause fuhren, auf der Fähre über den Sund, musste ich die ganze Zeit an dich denken. Nicht so, wie wenn man sich in ein Mädchen verknallt hat. Du bist für mich ein Symbol für etwas Außergewöhnliches, Feines und Unerreichbares gewesen.
Ich machte mir Sorgen, was Vater tun würde, nachdem er die vielen Fotos von dir gesehen hat. Ich kannte ihn, er war eigentlich nicht impulsiv, außer bei Wutausbrüchen. Er hatte immer einen Plan, und ich wollte wissen, welche Rolle du darin spielen würdest.
Ich hatte ein paar Fotos gemacht, die ich ihm nicht geschickt habe. Auf einem liegst du im Garten. Deine Bluse ist hochgerutscht, und man kann den Ansatz deiner Brust sehen. Das andere Foto ist von hinten aufgenommen. Du bückst dich, um einen Stift aufzuheben, und dein Rock ist so kurz, dass man deine Unterhose sehen kann.
Ich wusste genau, warum ich sie Vater nicht geschickt hatte, auch wenn ich mir das nicht gleich eingestehen wollte. Aber ich ahnte, wie er darauf reagieren würde.
Deshalb löschte ich sie, ohne dass Didrik es bemerkte.
Während der Abstand zwischen Fähre und Insel schrumpfte, wuchs der Druck in meiner Brust. Der Schmerz wurde so groß, dass ich am liebsten über Bord gesprungen und in den Fluten verschwunden wäre. Ich schämte mich. Und zum ersten Mal in meinem Leben hatte die Scham nichts mit mir selbst zu tun – mit meiner Hässlichkeit, Ungeschicklichkeit oder Unzulänglichkeit. Ich schämte mich bei dem Gedanken, wie du das finden würdest, was wir getan hatten.
Kaum waren wir in ViaTerra angekommen, wurden wir von einem ungeduldigen Karsten in unser Büro im Herrenhaus gedrängt. Dort verfassten wir einen detaillierten Bericht über unsere Reise und die Erfüllung unseres Auftrages und übergaben die SIM-Karte mit den Aufnahmen. Wir sollten uns beeilen, denn eine neue Katastrophe hatte sich ereignet und erforderte unsere ganze Aufmerksamkeit.
Elisa, die Sexbombe, hatte Lügen über Vater verbreitet.
Enthüllungen und Lügen
Wir sollen uns im Klassenzimmer einfinden. Karsten möchte mit uns reden. Und bald erfahre ich auch, warum er das will. Die Angelegenheit ist viel zu heikel, als dass Vater es selbst machen kann.
Karsten sieht uns ernst und streng an. Er erinnert uns an Elisa, das schreckliche Mädchen, das vor einiger Zeit bei uns zur Schule gegangen war. Sie musste wieder nach Hause geschickt werden, weil sie die hohen Standards von ViaTerra nicht hatte erfüllen können. Der Chef hatte das angeordnet. Wir können alle von Glück sagen, dass er die Fähigkeit hat, Lügner auf den ersten Blick zu erkennen. Ihm ist es zu verdanken, dass er sofort ihre eigentliche Absicht durchschaut hatte. Sie war nur gekommen, um alles zu zerstören und mit den Jungs zu bumsen.
Karsten durchbohrt Didrik mit Blicken, während er weiterspricht. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Didrik neben mir auf seinem Stuhl zusammensinkt.
Und diese Elisa habe sich wie ein Blutegel verhalten und versucht, sich am Chef festzubeißen. Sie sei promiskuitiv gewesen, was wir bestimmt alle bemerkt hätten. Und trotzdem habe niemand von uns etwas dagegen unternommen. Weil wir davon ausgingen, dass der Chef es schon richten würde. Und das sei nicht in Ordnung. Aber uns würde jetzt die Gelegenheit gegeben werden, es wiedergutzumachen. Elisa habe einen Post geschrieben, innerhalb eines Blogs, in dem sie Lügen über ViaTerra und den Chef verbreite. »Ihr erinnert euch doch noch daran, wie sie war?«, sagt er. »Wie verlogen! Sie hat immerzu gelogen. Ich bin mir sicher, dass euch gute Beispiele dafür einfallen. Und die werdet ihr vor laufender Kamera erzählen, einer nach dem anderen. Die Aufnahmen werden wir benötigen, wenn Elisas Eltern kommen, um mit dem Chef zu sprechen. Sie haben das Recht zu erfahren, was für ein berechnendes kleines Miststück ihre Tochter ist.«
Ich erinnere mich vor allem an ihre schönen Augen, an ihren Busen, dessen Rundungen man unter dem T-Shirt hatte sehen können, und an ihr starkes Parfum. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass sie mich jemals angelogen hat.
Zaghaft melde ich mich.
»Mich hat sie, glaube ich, nie angelogen. Was soll ich stattdessen sagen?«
Karstens Augen bekommen einen harten, unerbittlichen Glanz.
»Dann wirst du wohl deine Fantasie anstrengen müssen. Sie wird dich ganz sicher wegen irgendetwas angelogen haben, verdammt nochmal. Willst du wirklich, dass der Chef ganz allein damit fertigwerden muss? Du sollst ihm dabei helfen, Thor. Mir ist es scheißegal, ob dir das gefällt oder nicht. «
Es ist totenstill im Klassenzimmer. Alle starren mich an. Den Verräter, der dem Chef schon wieder nicht helfen will. Wenn ich jetzt widerspreche, wird das Vertrauen, das Vater in mich gesetzt hat, noch einmal verloren gehen. Der Gedanke an das Loch treibt mich an. Gleichzeitig aber wächst auch die Wut in mir.
Mein kleines Abenteuer auf dem Festland hat mir nämlich eines gezeigt. Was wir hier auf der Insel tun, ist alles andere als normal.
Karsten baut sich vor mir auf. Die Ader an seiner Stirn ist geschwollen. Er ist stinksauer. Auf einmal überkommt mich eine Fantasie, ein Zwangsfantasie, wie ich aufspringe und ihm mit der Faust ins Gesicht schlage. Wie schön das wäre. Aber stattdessen zische ich eine Antwort, als wären meine Kiefer zusammengebunden.
»Verstehe.«
Da erinnere ich mich, erzähle ich stotternd, dass Elisa einmal erwähnte, ihr Vater sei steinreich. Und später hätte sie dann gesagt, dass er der reichste Mann in ganz Schweden sei. Aber das sei ja nicht dasselbe. Zwischen »steinreich« und »der reichste Mann in ganz Schweden« gäbe es doch einen Unterschied, oder? Kaum habe ich diese These hervorgestottert, ist Karsten ganz Feuer und Flamme.
»Ganz genau! Manchmal ist es gar nicht so einfach, die Lügner zu enttarnen. Sie konnte sich gut einschmeicheln und war ziemlich überzeugend. Das ist ein sehr guter Ausgangspunkt, Thor! Und ihr anderen, euch werden bestimmt auch so ähnliche Beispiele einfallen. Los, lasst uns anfangen!«
In der kleinen Kammer hinter dem Klassenraum haben sie eine Videokamera aufgebaut. Wir sollen uns auf den Stuhl davor setzen, uns kurz vorstellen und angeben, wie lange wir schon bei Kinder der Erde sind. Und danach sollen wir erzählen, wie wir Elisa erlebt und wahrgenommen haben. Wir dür fen auch was Freundliches sagen. Zum Beispiel: »Elisa war ganz nett, aber einmal hat sie mir gegenüber behauptet, dass ihr Vater der reichste Mann in Schweden ist.« Karsten coacht uns durch die Dreharbeiten. Wir sind bis spät in die Nacht damit beschäftigt. Vater muss die Videoclips erst abnicken, dann dürfen wir ins Bett gehen. Ängstlich und müde warten wir im Klassenzimmer auf sein Urteil.
Aber Vater ist noch nicht zufrieden. Wir müssen nochmal vor die Kamera, und dieses Mal sollen wir sagen, wie wir ihn sehen und erleben. Sollen Beispiele seiner Hilfsbereitschaft und Unterstützung geben. Gern auch kurze Anekdoten von kleinen, persönlichen Geschenken und Aufmerksamkeiten.
»Mit Feuer im Blick«, fordert Karsten. »Denkt daran, wie sehr ihr den Chef bewundert. Erzählt der Kamera von allen guten Taten, die er vollbringt.«
Also setzen wir uns einer nach dem anderen vor die Kamera, unterdrücken ein Gähnen und versuchen, so gut es geht, mit fröhlichen und hingebungsvollen Gesichtern unsere Geschichten zu erzählen.
Endlich kommt Karsten aus Vaters Büro zurück und streckt den Daumen in die Luft.
Ein paar Tage später sollen wir uns erneut im Klassenzimmer einfinden. Stolz verkündet Karsten, dass wir Elisas Eltern mit unseren Beiträgen hätten überzeugen können. Elisa werde sich in psychologische Behandlung begeben, und alles werde wieder gut. Vater danke uns für unsere Mithilfe.
In dieser Nacht spiele ich den Gedanken durch, mich vom Teufelsfelsen zu stürzen und für immer zu verschwinden. Meine Großmutter hat Selbstmord begangen, meine Mutter hatte auch mit dem Gedanken gespielt, vielleicht habe ich das ja geerbt?
Etwas hat sich grundlegend verändert .
Eine Grenze ist überschritten worden.
Ich habe etwas getan, was ich nicht mehr ungeschehen machen kann.
Ohne es zu wollen, habe ich zwei Mädchen verraten, die ich wirklich sehr gern mochte.