54
Simon legte einen Finger auf seine Lippen.
»Ist sonst noch jemand zu Hause?«, flüsterte er.
Verwirrt schüttelte Sofia den Kopf.
»Gut. Niemand darf erfahren, dass Elvira hier ist, noch nicht mal Benjamin. Wenn das rauskommt, setzt Franz seine Maschinerie in Gang und wird zur Hetzjagd auf sie rufen, verstehst du?«
Sofia nickte.
Elvira nahm ihre Sonnenbrille ab, offenbarte ihre sagenhaft schönen Augen und lächelte. Wie früher bildeten sich kleine Lachgrübchen auf ihren Wangen. Sie wirkte ganz mitgenommen und tief berührt von dem Wiedersehen mit Sofia. Simon ging dazwischen, als Elvira sie zur Begrüßung umarmen wollte.
»Das machen wir gleich im Haus, uns darf keiner sehen. Los, beeilt euch!«
Kaum standen sie im Flur, da nahm Sofia Elvira in die Arme und drückte sie fest an sich. Dann schob sie das Mädchen von früher ein Stück von sich, um sie genauer anzusehen. Bei ihrer letzten Begegnung war Elvira fünfzehn Jahre alt gewesen – und hochschwanger. Inzwischen war eine reife Frau aus ihr geworden. Ihr Gesicht war weicher und hatte eine schöne Hautfarbe, sie hatte mehr Taille bekommen und größere Brüste als früher. Das alles machte sie sehr weiblich und noch schöner. Als sie die Schirmmütze
abnahm, sah man auch ihre leuchtend roten Haare, die ihr Gesicht wie ein wilder, lodernder Heiligenschein einrahmten.
»Du hast keine Ahnung, wie oft ich an dich gedacht habe, Sofia«, sagte sie. »Erinnerst du dich daran, als wir uns das letzte Mal gesehen haben? Du hast gesagt, dass ich mit den Kindern zu dir in die Wohnung ziehen soll, damit ich bloß nicht nach ViaTerra zurückkehre. Hätte ich doch nur auf dich gehört.«
Sofia bot ihnen Platz im Wohnzimmer an und setzte Kaffee auf. Ihre Hände zitterten, sie versuchte, die Puzzleteile zusammenzufügen. Sie war immer davon ausgegangen, dass Elvira nach wie vor mit den Kindern auf Dimö lebte. Aber jetzt fiel ihr wieder ein, wie sonderbar Vic reagiert hatte, als sie sich nach seiner Mutter erkundigt hatte.
Als sie den Kaffee hinstellte, saßen Simon und Elvira eng nebeneinander auf dem Sofa. Elvira hielt Simons Hand umklammert. Es war seltsam, sie zusammen zu sehen. Ob sie ein Paar waren? Elvira musste vor nicht allzu langer Zeit dreißig geworden sein, Simon war über vierzig, aber das war ja kein nennenswerter Altersunterschied. Trotzdem fand sie die Vorstellung, dass die beiden ein Paar waren, befremdlich.
»Erzähl Sofia bitte alles«, forderte Simon sie auf. »Von Anfang an. Ich möchte, dass Sofia das alles erfährt.«
Und Elvira erzählte, was sich ereignet hatte, nachdem sie nach ViaTerra zurückgekehrt war, um dort ihre Kinder zur Welt zu bringen. Denn unmittelbar danach hatte ihr Martyrium begonnen. Das Geld, das Franz ihr versprochen hatte, hatte sie dorthin gelockt. Und sie hatte sich tatsächlich eingeredet, dass sie Dimö verlassen dürfte, wenn die Kinder erst einmal da wären. Aber dem hatte Franz sofort
einen Riegel vorgeschoben. Stattdessen wurde sie zu seiner Gefangenen, wie auch der Rest seiner Mitarbeiter. Am Anfang hatte sie keine Muttergefühle für ihre Jungs entwickeln können.
»Ich war noch so jung, ich hatte doch keine Ahnung, wie man sich um ein Kind kümmert, und dann bekam ich gleich zwei! Mir hat auch niemand gezeigt, wie es geht. Vor allem, als die Jungs etwas älter wurden, hatte ich Schwierigkeiten mit meiner Mutterrolle. Oft fühlte es sich an, als würde ich auf meine zwei lauten, kleinen Brüder aufpassen. Natürlich habe ich sie geliebt, aber ich bin einfach viel zu früh Mutter geworden. Und dann waren die beiden auch so verschieden. Thor war vorsichtig und still. Vic hingegen sah eigentlich immer wütend aus und hat als Baby ununterbrochen geschrien. Wenn er so früh schon Zähne gehabt hätte, dann wär ich garantiert von ihm gebissen worden. Es änderte sich etwas, als ihre Großmutter manchmal zu Besuch kam.«
»Karin Johansson? Franz’ Mutter?«, unterbrach Sofia sie. Sie hatte Karin vor langer Zeit kennengelernt und sofort ins Herz geschlossen.
»Ganz genau. Sie hat mir wahnsinnig viel geholfen. Zum Beispiel hat sie mir beigebracht zu kochen, und mit Erlaubnis von Franz durfte ich mit ihr sogar ab und zu aufs Festland fahren. Die Jungs haben sie geliebt. Obwohl sich das änderte, als sie in die Schule kamen, die Franz gegründet hat. Grässlich war das. Sie kamen mit Sonnenbrand auf den Schultern und im Gesicht nach Hause und waren übersät mit blauen Flecken und Blasen an den Händen. Sie sollten eine Steinmauer bauen oder so. Aber am schlimmsten fand ich, dass sie mir davon nichts erzählen durften. Ich habe gehört, wie Thor sich nachts in den Schlaf weinte. Ich fühlte mich immer eingeengter, wurde klaustrophobisch und stand
kurz davor, wahnsinnig zu werden. Als ich Franz darauf ansprach, wies er alle Vorwürfe weit von sich. Die Kinder sollten abgehärtet werden und auf keinen Fall so werden wie ihre wehleidige und träge Mutter.«
Sofia spürte, dass Elvira die Demütigungen erneut durchlebte. Alle hatten Schwierigkeiten, frei durchzuatmen.
»Manchmal kam er zu uns in die Hütte und wurde furchtbar wütend, weil er fand, dass ich die Jungs vernachlässigte. Dann bekam er einen seiner Wutanfälle. Dann wieder kam er abends zu mir und wollte mit mir schlafen. Er konnte so zärtlich und liebevoll sein. Es fühlte sich fast wie in einer normalen Familie an. Obwohl es mir fast lieber gewesen wäre, wenn er nur seine kränkende Seite gezeigt hätte. Denn ich wusste nie, wen ich gerade vor mir hatte, und musste ständig auf der Hut sein.«
Sie machte eine Pause, sammelte neue Kraft.
»Unerträglich wurde es erst, als er beschloss, mich zu seinem Spielzeug auf dem Dachboden zu machen. Dort oben mutierte er zu einer anderen Person, wurde aggressiv und grob. Simon hat mir erzählt, dass Franz’ Vorfahren schon Frauen dorthin verschleppt und misshandelt haben. Vielleicht musste er ihnen nacheifern?«
Gedankenverloren starrte sie auf den Glastisch, hatte bisher den direkten Augenkontakt mit Sofia vermieden. Sie löste ihre Hand aus Simons und fingerte nervös am Sofabezug.
»Mich zu quälen war für ihn wie eine alte Angewohnheit, die er nicht sein lassen konnte. Ich habe mich, um der Kinder willen, nicht gewehrt, dachte, ich könnte die paar Nächte aushalten. Aber er benutzte einen Lederriemen und würgte mich damit. Thor sah die Flecken an meinem Hals, und ich wusste, wie sehr er darunter litt. Vic war das völlig
egal, aber Thor registrierte die kleinste Stimmungsschwankung bei mir. Er war wahnsinnig klug. Und er hatte mit dreizehn Jahren einen größeren Wortschatz als ich, obwohl sie in dieser bescheuerten Sektenschule nur diese idiotischen Thesen auswendig gelernt haben. Als mir das klar wurde, wusste ich auch, dass ich gehen muss, damit ich nicht … in meiner Entwicklung stehen bleibe und den Rest des Lebens so verbringen muss …« Ihr blieben die Worte im Hals stecken.
»Simon und ich haben uns ein paarmal beim Einkaufen im Dorf getroffen. Das war, bevor wir in die USA geflohen sind. Wir haben uns unterhalten, und irgendwann habe ich ihm alles erzählt. Er hat mich überredet zu gehen. Denn es ginge Thor und Vic auch nicht besser, wenn sie mit einer misshandelten und verängstigten Mutter groß würden. Er gab mir ein Handy, damit wir meine Flucht planen konnten. Als ich über die Mauer geklettert bin, hat mein Herz so laut geschlagen, dass ich schon dachte, es würde gleich platzen. Ich habe mich dann eine ganze Weile bei Simon versteckt, bis alle von meinem Tod überzeugt waren. Erst danach sind wir nach Kalifornien gegangen. Aber meine Jungs habe ich nie vergessen. Ich würde so gern wissen, was aus ihnen geworden ist, seit Franz allein mit ihnen ist.«
»Wie kannst du es wagen, Elvira hierher zurückzubringen – nach all dem, was passiert ist?«, fragte Sofia Simon und sah ihn vorwurfsvoll an.
»Ich habe ihn angebettelt«, sagte Elvira. »Ich möchte die beiden unbedingt wiedersehen. Ich habe solche Schuldgefühle, dass ich sie allein gelassen habe.«
»Aber wie konntest du in die USA einreisen? Haben sie dich nicht überall gesucht?«
»Simon hat mir einen neuen Pass besorgt. Ich heiße jetzt
Elly Ahlstedt. Du kannst dir vielleicht denken, wer mir dabei geholfen hat?«
Sofia wusste sofort, wen sie meinte.
»Klar, Ellis, habe ich recht?«
Elvira nickte. Sofia war ein bisschen beleidigt, dass ihr Ellis nie davon erzählt hatte. Und auch sauer auf Simon, dass er wie ein Grab geschwiegen hatte. Sie hätte niemals etwas verraten, sie hätten sich voll und ganz auf sie verlassen können. Stattdessen saß sie jetzt wie ein Idiot in dem Karussell, das Franz in Gang gesetzt hatte.
»Ich habe Vic vor ein paar Monaten gesehen«, sagte Sofia. »Wir waren nur auf einen Sprung dort. Er war unser Chauffeur, fuhr uns von der Fähre nach ViaTerra. Wir waren nur kurz da, Simon hat es dir bestimmt schon erzählt.«
»Wirklich? Und wie sah Vic aus, wie ging es ihm?«, fragte Elvira ganz aufgeregt.
»Er ist das Abbild von Franz. Selbstbewusst, taff und zu schön für diese Welt.«
»Das überrascht mich nicht, so habe ich ihn in Erinnerung. Hast du auch Thor gesehen?«
»Nein, leider nicht.«
Elvira seufzte enttäuscht.
»Simon möchte, dass ich dir noch etwas anderes erzähle«, sagte sie. »Du weißt ja, wie unberechenbar Franz war und ist. Manchmal kam er zu mir in die Hütte, nur um zu plaudern. Dann war er ganz zauberhaft. Und dabei hat er ganz oft über dich gesprochen.«
»Aha, und was hat er gesagt? Dass er mich wie eine Fliege zerquetschen wird?«
»Im Gegenteil. Mir gegenüber hat er nie ein schlechtes Wort über dich verloren. Das klingt vielleicht unvorstellbar, aber es ist die Wahrheit. Er hat immer dasselbe gesagt. Dass
ihr »wieder zueinanderfinden« würdet. Das hat er mehrmals gesagt. Als hättet ihr geheiratet und euch danach getrennt. Das klang richtig verrückt. Er hat auch immer wiederholt, dass du die Einzige bist, die in der Lage war, die Tiefe und Bedeutung seiner Thesen zu verstehen.«
Sofia musste unwillkürlich an den Tag denken, an dem Franz sie vergewaltigt hatte und ihr die Flucht von der Insel gelang. Er hatte sie von hinten gepackt und auf das Bett gedrückt und gesagt: Du bist so schön, weißt du das, Sofia? Du bist nicht so eng wie eine Vierzehnjährige, aber trotzdem schön. Und wenn wir schon dabei sind, du hast einen geilen Arsch.
Sie erinnerte sich an die Schwere seines Körpers, das unerträgliche Gefühl und die Gewissheit, ihn niemals von sich abschütteln zu können. Ihr schnürte sich der Hals zusammen, und die vielen, nie geweinten Tränen stiegen hoch.
»Und was sollen wir jetzt tun, Simon?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
»Ich weiß, das sieht auf den ersten Blick ziemlich kompliziert aus«, sagte er. »Aber eigentlich haben wir doch alle mehr oder weniger dasselbe Ziel, oder? Elvira möchte ihre Söhne wiedersehen. Du willst Franz endlich loswerden. Benjamin und ich wollen euch beschützen. Wir müssen uns überlegen, wie wir Franz´ Imperium für immer und endgültig stürzen können. Elvira könnte ihre Geschichte in den Medien verbreiten, die würden sich garantiert darauf stürzen. Aber das hätte nur denselben Effekt wie dein jüngster Angriff auf ihn. Er erholt sich von allem wieder.«
»Und wie kommen wir dann an ihn ran?«
»Wir setzen alle denkbaren Mittel ein. Deinen Ellis selbstverständlich. Vielleicht können wir den Journalisten Magnus Strid dafür gewinnen, der dir schon damals geholfen hat. Hast du noch Kontakt zu ihm?
«
»Nein, aber das dürfte kein Problem sein.«
»Sehr gut. Wir müssen uns treffen und uns einen wasserdichten Plan ausdenken. Ich habe ganz gute Kontakte zu den Medien in den USA. Wir müssen einen weltweiten Skandal daraus machen, versteht ihr? Sein Netzwerk erstreckt sich über die ganze Welt. Aber ich kenne mich in Schweden nicht mehr so aus, ich weiß nicht, wem ich hier über den Weg trauen kann. Kannst du deine Hand für Benjamin, Ellis und Anna ins Feuer legen?«
»Absolut«, sagte sie, ohne zu zögern. »Aber ich möchte Julia da rauslassen.«
»Verstehe ich. Also, dann lasst uns ein Treffen vereinbaren«, sagte Simon.
Er lehnte sich zurück und sah seit langem endlich wieder wie der alte Simon aus.
Tiefenentspannt.