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Ich bin dir begegnet. Habe mich in der Wärme deiner Augen gesonnt. Durfte deine kalte Hand in meine nehmen. Dein ansteckendes Lachen hören. Deine weiche Brust an meiner knochigen spüren. Deinen Duft einatmen. Jetzt weiß ich, dass ich dich retten muss, nur noch nicht, wie.
Ich sehe aus dem Fenster. Im Häuschen brennt Licht. Zu wissen, dass Vater dort mit dir zusammen ist, verursacht mir Schmerzen. Ich kann nicht aufhören, an seine Reaktion zu denken, als ich zurückkam, nachdem ich dich von der Fähre abgeholt hatte. Sein Blick. Sein Eifer, sein Enthusiasmus. Und wie schnell er aus dem Haus stürmte.
Er stand am Panoramafenster, als ich reinkam. Sofort drehte er sich um. Das Hemd war nicht bis obenhin zugeknöpft, die Krawatte hing nachlässig geknotet um seinen Hals. Da war etwas in seinen Augen. Etwas Ungezügeltes, Wollüstiges. Sein Mund stand offen, die Zähne glänzten. Wie Piranhas, die gierig ihre Kiefer aufreißen.
»Sie ist in der Hütte«, sagte ich.
Ich roch sein Rasierwasser, das hatte er extra für dich aufgelegt.
»Wie findest du sie, Thor?«
»Ich weiß nicht.«
»Dann bist du entweder schwul, oder du brauchst eine Brille. «
»Sie ist hübsch.«
»Aber das ist es nicht, mein Junge. Die Welt ist voller hübscher, aber langweiliger Mädchen. Sie ist was ganz Besonderes. Das wirst du doch bemerkt haben.«
Ich murmelte etwas Unverständliches und legte den Autoschlüssel auf seinen Schreibtisch, spürte eine Welle der Erleichterung, ihn endlich wieder abgeben zu können.
»Du bist doch nicht etwa auch eifersüchtig auf sie, wie dein pathetischer Bruder?«
»Nein, überhaupt nicht, Chef.«
Ich sah mich um. Vic war nicht im Raum.
Vater sah meinen fragenden Blick.
»Vic hat deinen Posten bei den Beeten übernommen. Ich habe ihn hier nicht mehr ausgehalten. Du könntest ihm bei Gelegenheit ein paar Tipps geben, wie man Unkraut jätet.«
Zuerst dachte ich, dass er es ernst meinte, aber dann schüttelte er den Kopf.
»Nein, du bleibst hier. Kann sein, dass ich dich noch brauche. Sieh dich doch mal um, horch mal, wie still es hier ist. Ist das nicht herrlich?«
Da sah ich, dass auch Maddes Schreibtisch leer war.
»Sie ist ebenfalls versetzt worden, ist jetzt in der Küche als Aushilfe«, sagte er. »Niemand von denen hält dem Arbeitsdruck hier bei mir stand. Bin ich wirklich so ein komplizierter, schwieriger Chef?«
Er sah stolz aus, ihm schien dieser Umstand nicht die geringsten Sorgen zu machen.
»Das weiß ich nicht, Chef.«
»Vielleicht sollte ich es mal mit dir ausprobieren«, sagte er. Als er aber mein angsterfülltes Gesicht sah, wuschelte er mir durch die Haare .
»Zurück zum Thema ›Julia‹. Vielleicht bist du ja auf mich eifersüchtig?«
Er durchlöcherte mich mit seinem Blick. So schnell würde er nicht aufgeben.
»Ja, vielleicht«, ergebe ich mich.
Er lachte sein heiseres Lachen.
»Wusste ich es doch. Aber das kannst du vergessen. Ihr wird es gefallen haben, dass ich ihr einen Engel geschickt habe, um sie abzuholen. Wie lief es mit dem Autofahren?«
»Nicht so gut.«
Er lachte laut.
»Also dann, zurück an die Arbeit, du musst wahrscheinlich an deine Rechner.«
Er wedelte ungeduldig mit der Hand.
Ich wusste, warum er es eilig hatte. Er wollte zu dir.
Als er weg war, habe ich versucht zu arbeiten, aber ich konnte mich nicht konzentrieren.
Und jetzt stehe ich hier am Fenster, unruhig, nervös und nicht in der Lage, an etwas anderes zu denken als an dich. Ich setze mich hin, atme tief und gleichmäßig, versuche, mich zu beruhigen. Aber es hilft alles nichts.
Dann allerdings passiert etwas Seltsames. Bilder meines Lebens ziehen vor meinem inneren Auge an mir vorbei.
Die Felsen, die Möwen, die Hütte, Mutter, das Klassenzimmer, der Schlafsaal, der Schweinestall, die Pferdebox, das Loch und mein kleines Blumenbeet.
Und da weiß ich, dass dich nur die Wahrheit retten kann und es bloß einen Menschen auf der ganzen Welt gibt, der mich retten kann.
Ich warte, bis es ganz dunkel ist. Ständig sehe ich auf den Hof hinunter. Das Personal rennt hin und her, wie Ameisen, wenn man mit einem Stock in ihren Haufen sticht. Das wird leicht. Alle sind geschäftig und gestresst, beschäftigt mit den Aufträgen, die sie vom Chef erhalten haben.
Mein Plan nimmt Gestalt an. Geh an der Mauer entlang bis zum Stall. Hol die Holzleiter und stell sie dort an die Mauer, wo dir der Baum Sichtschutz gibt. Spring über die Mauer und lauf um dein Leben durch den Wald.
Warmes Licht dringt aus den Fenstern der Hütte, als ich daran vorbeischleiche. Die langen Schatten der Bäume werden vom Wind gestreichelt, und ich werde eins mit ihnen. Ich höre dein perlendes Lachen und dann Vaters, dunkler und heiser. In der Dunkelheit ist mein Gehörsinn noch wachsamer, ich höre das Surren der Elektrizität im Stacheldrahtzaun. Eine leise fauchende Warnung. Ich brenne. Halt dich von mir fern!
Als ich an dem kleinen Tor in der Mauer vorbeikomme, drücke ich aus Reflex auf die Türklinke. Sie ist eigentlich immer abgeschlossen, das weiß ich, dennoch lege ich meine Hand darauf.
Zuerst denke ich, ich träume.
Das Tor gleitet auf.
Es ist nur ein Schritt in die Freiheit.