66
Sofia kochte vor Wut – die sie fast blind machte. Und sie musste auf dem kurzen Stück zur Pension für einen Moment am Straßenrand anhalten.
Beherrsch dich. Reiß dich zusammen, sonst tust du ihr noch was an.
Anna war im Speisesaal und fegte den Boden. Als sie sich umdrehte und Sofias Gesichtsausdruck sah, wusste sie, dass Sofia Bescheid wusste. Sie riss die Augen auf und trat einen Schritt zurück. Sofia hielt ihr den USB-Stick vor die Nase.
»Wo können wir ungestört reden?«, fragte sie und zeigte auf Annas beide Kolleginnen.
»Oh, hallo, Sofia. Warte, ich bring nur schnell den Besen weg.« Ihre Stimme war von der aufgesetzten Unbeschwertheit ganz verzerrt. Sie lachte nervös.
»Wir können ins Büro gehen«, sagte sie und sah zu ihren Kolleginnen hinüber, aber die waren in ihre Arbeit vertieft.
Auf dem Weg zum Büro redete Anna ununterbrochen, aber Sofia hörte ihr nicht zu. Sie hielt den Stick so fest umklammert, dass ihre Handfläche brannte. Anna öffnete die Tür zu einer kleinen Vorratskammer.
»Am besten, du erklärst es mir schnell – und zwar sehr schnell, bevor ich dich umbringe«, sagte Sofia, nachdem Anna die Tür hinter ihnen zugezogen hatte und sie sich in dem kleinen Raum gegenüberstanden .
»Es ist nicht so, wie du denkst.«
»Erspar mir die Klischees. Ich habe keine Lust, dir alles aus der Nase zu ziehen, also fang endlich an, mir die Wahrheit zu sagen. Ich habe wirklich anderes zu tun.«
Sie ging einen Schritt auf Anna zu, die auswich. Hinter und über ihr stapelten sich Kartons.
»Wir haben nur zweimal miteinander geschlafen. Das ist anderthalb Jahre her, als du in Göteborg auf dieser Konferenz warst. Dann wollte Benjamin nicht weiter. Und danach ist nie wieder was passiert, ich schwöre es.«
»Benjamin kann mich mal. Ich will wissen, wem du die Fotos geschickt hast.«
»Das weißt du doch«, sagte Anna angriffslustig.
Da packte Sophie Anna an ihren Haaren und riss daran. Vor Schmerz schrie Anna auf. Ihr stiegen die Tränen in die Augen, ihre Unterlippe zitterte.
»Ist ja gut, lass los, ich erzähl es ja«, jammerte sie. »Franz hat mit mir Kontakt aufgenommen, kurz bevor das mit der Herberge angefangen hat. Er hat mich zu einem Date eingeladen. Er sagte, es sei an der Zeit, dass wir uns versöhnen. Das war so aufregend. Alle waren davon ausgegangen, dass er untergetaucht war und neue Thesen entwickelte, aber er hatte sich Zeit genommen, um sich mit mir zu treffen. Er hat mich nach ViaTerra eingeladen und … du weißt ja, wie er sein kann, dann ist es so schwer, sich gegen ihn zu wehren …« Ihr blieben die Worte im Hals stecken.
»Es war nur dieses eine Mal. Er hätte keine Zeit für eine Beziehung, hat er gesagt, aber wir blieben die ganze Zeit in Kontakt. Er hat versprochen, dass wir uns in Zukunft öfter sehen werden. Wir haben ab und zu miteinander telefoniert. Dann hat er mir vorgeschlagen, dass ich dich bei der Arbeit in der Herberge unterstützen soll. Du würdest jede Hilfe verdienen, die du bekommen könntest. Ich hatte den Eindruck, dass er sich wirklich Sorgen um dich macht.«
Anna stammelte, ihr Kopf war gesenkt, auf ihrer Stirn hatten sich kleine Schweißperlen gebildet.
»Als er sagte, dass er gern Fotos von dir haben wollte, fand ich das zuerst überhaupt nicht komisch. Er sagte, er sei neugierig, würde wissen wollen, wie du heute aussiehst. Im Laufe der Zeit wurden es immer mehr, er überwies mir Geld, und ich konnte das wirklich gut gebrauchen, aber dann wurde es immer schlimmer, und ich habe total die Kontrolle verloren …«
Sie fing an zu weinen. Heisere Schluchzer, die ihren ganzen Körper schüttelten. Aber ihr jämmerliches Verhalten machte Sofia nur noch wütender.
»Reiß dich gefälligst zusammen! Warum hast du die Fotos auf den Sticks gespeichert?«
»Ich sollte sie nicht auf dem Computer lassen. Franz meinte, ich solle sie aufheben, ihm gefielen sie. Ich sei eine gute Fotografin, hat er gesagt. Die Aufnahmen, die ich mit meinem Handy gemacht habe, waren nichts. Er hat mir eine Digitalkamera gekauft. Schweineteuer. Du solltest natürlich nicht mitbekommen, dass ich dich fotografiere. Er wollte sich eine Collage daraus machen.«
Der Gedanke an eine solche Fotowand lenkte Sofias Aufmerksamkeit ab, ihre Wut wandte sich von Anna ab und konzentrierte sich nun voll und ganz auf Franz.
»Wie hältst du es bloß mit dir selbst aus, Anna?«
»Gar nicht. Ich hoffe, du glaubst mir, dass ich diese Fotos von dir nicht machen wollte. Ich war furchtbar eifersüchtig, dass Franz so besessen von dir ist. Ich wollte ihn für mich allein haben. Aber ich konnte ihm nicht widerstehen, als er mich um den Gefallen bat. «
»Weiß Benjamin, dass du mit Franz Kontakt hattest?«
»Nein, überhaupt nicht! Ich weiß auch nicht, warum ich die letzten Fotos in die Kassette gelegt habe. Ich sollte alles aufheben, was ich Franz geschickt hatte. Die letzten, das sind bloß Privataufnahmen gewesen. Ich habe sie ihm trotzdem gemailt. Wahrscheinlich dachte ich, ich könnte Franz damit imponieren, dass ich Benjamin verführt habe. Ich wollte ihn eifersüchtig machen.«
Plötzlich krümmte sie sich zusammen und fing an zu weinen. Sofia packte sie an den Schultern und schüttelte sie. Anna war größer und kräftiger gebaut als Sofia, aber sie musste Sofias Zorn gespürt, den Geruch von unbeherrschter Wut gerochen haben, denn sie zitterte vor Angst. Schluchzend sank sie auf dem Boden in sich zusammen. Sofia ging neben ihr in die Hocke, hob Annas Gesicht und gab ihr eine schallende Ohrfeige. Anna riss die Augen auf.
»Stell dieses widerliche Selbstmitleid ab. Du bist bei uns eingebrochen, während wir auf der Weihnachtsfeier waren, und hast mich an Heiligabend fast zu Tode erschreckt. Das ist einfach ekelhaft, du Verräterin!«
»Bitte vergib mir. Ich war wirklich am Ende. Beim ersten Mal hattest du mich überrascht, darum musste ich nochmal kommen. Ich wollte nur den Stick mit den Fotos von Benjamin. Denn ich konnte mir ja denken, dass du sofort Bescheid wüsstest, wenn du sie siehst.«
»Hast du Franz auch erzählt, dass Elvira zurückgekommen ist und jetzt bei uns wohnt?«
Anna ließ ihren Kopf auf die Brust sinken, schlang ihre Arme um die Knie und wiegte sich wimmernd hin und her.
»Antworte mir gefälligst!«
»Du kennst die Antwort doch schon. Es war eine unglaubliche Nachricht, dass sie zurück war, alle waren doch von ihrem Tod überzeugt gewesen. Ich kann mir jetzt nicht mehr erklären, warum ich das alles getan habe. Vielleicht hatte ich gehofft, dass er durch meine Hilfe einsieht, wie sehr wir beide füreinander bestimmt sind. Ich habe es einfach nicht geschafft, mich von ihm loszusagen.«
Sie schluchzte. Tränen und Schnodder vermischten sich und tropften ihr am Kinn herunter. Sofia packte Anna am Kragen ihrer Jacke und schüttelte sie und stieß sie von sich. Anna prallte gegen den Stapel mit den Kartons, der oberste löste sich und fiel ihr auf den Kopf. Die Kante traf sie an der Stirn, aber Anna verzog keine Miene, sie zuckte nur kurz zusammen.
»Geh zur Polizei und zeige dich selbst an, sonst mache ich das.«
Anna murmelte eine Antwort.
»Gib mir dein Handy«, fauchte Sofia.
»Was?«
»Du sollst mir dein Handy geben, los jetzt!«
Anna holte es aus ihrer Jackentasche und gab es Sofia.
»Damit du nicht auf die dumme Idee kommst, ihn anzurufen.«
»Nein, ich verspreche es dir …«
Die Beule auf Annas Stirn hatte die Farbe gewechselt und leuchtete in einem dunklen Lila. Sofias Wut war jetzt abgekühlt und hatte einem grenzenlosen Ekel Platz gemacht. Wie hatte sie jemals finden können, dass Anna eine schöne Frau war, ein schöner Mensch? Wie hatte sie ihre Nähe in den letzten Jahren überhaupt ertragen können? Hässlich war sie, widerlich und hässlich, mit roten, falschen Augen und Schnodder, der ihr übers Gesicht lief.
Die Sonne stand noch hoch am Himmel und vergoldete das zarte Frühlingslicht, als sie sich auf den Rückweg machte. Es war unbegreiflich und auch ungerecht, dass die Welt da draußen so schön war, wenn ihre eigene gerade in Scherben lag. Ihr liefen die Tränen übers Gesicht. Die Straße verschwamm vor ihren Augen, aber sie hielt nicht an, sondern fuhr nur langsamer, aber zielsicher weiter. Sie war von einer beinahe übermenschlichen Stärke erfüllt.
Zu Hause angekommen, ließ sie Denzel zum Pinkeln in den Garten, behielt aber Schuhe und Mantel an, als sie wieder reinkamen. Sie schnappte sich einen Rollkoffer, ging nach oben ins Schlafzimmer und warf wahllos Kleidungsstücke hinein. Als sie ins Badezimmer ging, um eine Zahnbürste zu holen, merkte sie, wie sehr ihre Hände zitterten. Im Spiegel sah sie mit Entsetzen, dass ihre Augen unnatürlich groß waren, wie zwei schwarze Löcher. Dann zog sie den Rollkoffer hinter sich her in Julias Zimmer. Der Boden war bedeckt mit Unterwäsche und Kleidungsstücken von ihr, Sofia sammelte einige davon auf und stopfte sie zu den anderen Sachen in den Koffer. Sie hatte keine Lust, ihn zu tragen, und ließ ihn die Treppenstufen hinunterpoltern.
Sie hatte kein Gefühl für ihren Körper, sie war auch nicht mehr richtig wütend, sondern eher außer sich, wie in einem gruseligen Albtraum. Sie nahm sich einen der Stoffbeutel, die an der Kücheninsel hingen, und ging in Benjamins Büro. Es war still und dunkel in dem Raum und roch nach Benjamin – vertraut und jungenhaft. Das holte sie schlagartig in die Gegenwart zurück. Sie schluchzte. Am liebsten hätte sie sich auf seinem Schreibtisch erbrochen, so übel wurde ihr. Sie nahm den Laptop vom Ladekabel und legte ihn in den Stoffbeutel. Im Regal standen die beiden Ordner, in denen er seine Aufträge und seine Buchführung abheftete, die packte sie auch ein. Seinen I-Pad hatte er zu Hause gelassen, auch der wanderte in den Beutel.
Bevor sie das Haus verließ, füllte sie Denzel frisches Wasser auf und Essen in seinen Napf. Dann streichelte sie ihm über sein Fell und gab ihm einen Kuss auf den Kopf.
Ihr Ziel war genau der Platz auf den Felsen, an dem sie mit Benjamin immer gesessen und den Sonnenuntergang genossen hatte. Sie parkte den Wagen und ließ alles darin, bis auf den Stoffbeutel. Vorsichtig kletterte sie über die Felsen bis zu dem flachen Stein, auf dem sie häufig saßen. Sie ging bis nach vorn an die Spitze und verlor um ein Haar das Gleichgewicht, als sie seinen Laptop aus dem Beutel holte. Es platschte laut, als er auf der Wasseroberfläche auftraf. Er kippte auf die Seite, wie eine silberne Haiflosse, dann stiegen ein paar Wasserblasen auf, und er versank. Die Ordner wollten nicht gleich sinken, sie musste sie einweichen, bis sie so schwer waren, dass auch sie versinken konnten. Das iPad schwebte in Zeitlupe auf den Meeresgrund. Annas Handy wurde als Letztes den Fluten übergeben. Als es nicht mehr zu sehen war, spürte sie, dass auch ihr Herz mit in die Tiefe gesunken war.
Die kühle Meeresluft stieg in Nase und Mund und füllte ihre Lunge. Ein leichter Wind kräuselte die Wasseroberfläche.
Sie ging zurück zum Auto. Dort blieb sie eine Weile nachdenklich sitzen.
Dann rief sie ihre Mutter an, die nicht sofort ans Telefon ging, und hinterließ ihr eine Nachricht. Julia und ich kommen heute Abend vorbei. Wir haben Sehnsucht. Positiv und knapp gehalten. Alles, um zu vermeiden, die hochsensiblen Nerven ihrer Mutter zu überstrapazieren. Ein Blick auf die Uhr. Viertel nach zwei. Bald war Schulschluss .
Als sie an der Schule eintraf, konnte sie nicht im Auto sitzen bleiben, darum stieg sie aus, um im Gebäude auf Julia zu warten. Im Flur kam ihr der Direktor entgegen und begrüßte sie herzlich und überschwänglich.
»Oh, wie schön, Sie zu sehen! Was kann ich für Sie tun?«
»Ich hole Julia ab. Sie war doch weg und ist heute früh mit dem Bus direkt zur Schule gefahren.«
Der Direktor sah sie ganz perplex an.
»Aber … sie ist nicht hier.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich habe vorhin sogar persönlich mit Franz Oswald telefoniert, Sie wissen schon, das ist dieser geistige Anführer von ViaTerra auf Dimö. Er hat uns Bescheid gegeben, dass Julia aufgehalten wurde. Sie macht eine große Hausaufgabe über sein Unternehmen und wird ihn heute noch interviewen. So ein Aufsatz. Er war ausgesprochen freundlich und höflich. Er sagte, sie würde morgen wieder hier sein. Ich bin selbstverständlich davon ausgegangen, dass Sie davon wissen. Wir sind ein bisschen stolz, dass sie dieses Angebot bekommen hat.«
Es wurde so still. Sofia hörte nur ihren Puls, der wie eine Bombe tickte. Und dann explodierte sie.
»Sind Sie denn wahnsinnig? Dieser Mann ist gefährlich ! Warum haben Sie mich nicht sofort angerufen? Julia ist noch nicht volljährig.«
Der Direktor wollte sie beruhigen und ihr seine Hand auf die Schulter legen, aber da hatte Sofia bereits kehrtgemacht und stürmte aus dem Schulgebäude.