Es war viel zu kalt.
Sie hatte die absolut falschen Schuhe für einen Besuch in der Eishalle an, aber zu ihrer Verteidigung: Sie hatte nicht damit gerechnet, hier sitzen zu müssen.
Doch Leslie war der Meinung, dass irgendwer vom PR-Team das erste gemeinsame Training mit Neuzugang Jack West beobachten sollte, um eine Pressemitteilung darüber zu schreiben, wie er sich ins Team integrierte – und sicherzugehen, dass Dax Jack nicht an die Gurgel ging.
Sie war die glückliche erste Wahl für diese Aufgabe gewesen. Also fror sie sich seit einer Stunde den Hintern ab, nur um Dax dabei zu beobachten, wie er Jack so gut wie möglich ignorierte. Das war nicht gerade Blockbuster-Kino und sie war froh, zumindest nebenbei noch etwas vernünftige Arbeit zustande zu bekommen. Wie zum Beispiel die Fototermine von Dax im Kinderkrankenhaus zu planen, die diese Woche anstanden, und eine Liste an Fragen zu erstellen, die Dax bei einem Interview sorglos beantworten könnte, um wie ein freundlicher Kerl zu wirken. Nicht wie ein Mann, dessen Kopf nur mit Rachegedanken für Jack West gefüllt waren.
»Ist der Platz noch frei?«
Lucy blinzelte und blickte auf. Als hätte sie ihn allein mit ihren Gedanken heraufbeschworen, stand Jack West vor ihr und sah erwartungsvoll zu ihr hinab.
»Solltest du nicht auf dem Eis stehen?«, wollte sie wissen und nickte zu den anderen Spielern, die sich immer noch dem Parcours widmeten.
West hob eine Achsel. »Jeder hat eine kleine Pause verdient. Vor allem so hart arbeitende Menschen wie ich.«
Sie hob einen Mundwinkel. »Ich bin mir sicher, dass eure Trainer das anders sehen, aber klar. Setz dich neben mich. Auch wenn die gesamte Tribüne frei ist. Werde zu einem dieser seltsamen Menschen, die sich in der Bahn auf den Platz dir direkt gegenüber setzen, obwohl der Rest des Abteils vollkommen unbesetzt ist.«
Er grinste breit und ließ sich neben sie fallen. »Danke für die freundliche Einladung.«
»Immer«, erwiderte sie fröhlich und schlang die Decke enger um ihre Beine, während sie aufs Eis blickte und Dax dabei beobachtete, wie er den Parcours bezwang. Den Puck eng an seinem Schläger führend, als wäre er daran festgeklebt.
Viele Leute behaupteten, Eishockey sei ein brutaler Sport. Weil zu oft die Fäuste der Spieler flogen und sie andauernd in Bande krachten, Holz auf Holz schlug, Schulter gegen Schulter.
Lucy war anderer Meinung. Eishockey war pure Eleganz. Niemand brachte diesen Aspekt der Sportart besser zur Geltung als Dax Temple. Denn er skatete nicht übers Eis, er tanzte. In einem selbstgewählten Rhythmus, mit dem die meisten Gegner nicht mithalten konnten. Es war egal, ob sie ihn mochte oder nicht – wann immer sie ihn auf dem Eis sah, erfüllte eine nervöse Ehrfurcht ihre Brust, die ihre Finger feucht werden ließ und ihren Nacken zum Kribbeln brachte. Denn wenn ein Mann sich auf zwei dünnen Kufen so geschmeidig bewegen konnte, dann musste er auch in anderen körperlichen Bereichen talentiert sein.
»Er war immer besser als ich darin, den Puck so nah am Körper zu halten«, murmelte Jack abwesend.
Überrascht wandte Lucy den Kopf.
»Ich hab es nie zugegeben. Nicht als Gegner auf dem Spielfeld und als eingebildeter Teenager erst recht nicht, aber … er ist wie ein Magnet. Wenn der Puck ihm gehört, gehört der Puck ihm.«
Da schwang echte Bewunderung in seiner Stimme mit, die Lucy stutzen ließ. Den meisten Hockeyspielern fiel es sehr schwer, ihre eigenen Unzulänglichkeiten einzusehen, geschweige denn laut auszusprechen. Ach was, das beschränkte sich nicht nur auf Hockeyspieler! Diese Regel galt für alle Menschen. Doch Jack schien kein Problem damit zu haben.
»Und weißt du, was das Traurige ist?«, murmelte er und warf Lucy einen kurzen Seitenblick zu. »Heute hätte ich kein Problem damit, es ihm zu sagen. Aber heute würde Dax es nicht wie ein Kompliment auffassen, weil er heute nicht mehr den Wunsch verspürt, mich zu beeindrucken. Heute würde er denken, dass ich die Worte nutze, um ihn zu manipulieren. Um ihn um Vergebung zu bitten.«
Lucy blinzelte mehrfach. Schließlich fragte sie: »Warum erzählst du mir das?«
»Weil du die Einzige bist, der ich es erzählen kann«, sagte er schlicht und eine bittere Note schwang in seiner Stimme mit. »Denn du bist die Einzige hier, die weiß, dass Dax und mich sehr viel mehr verbindet als eine Liebe zu Eishockey. Richtig? Denn du hast gestern den ganzen Streit mit angehört.«
Sie schluckte und das schlechte Gewissen nagte sofort wieder an ihr. »Ich werde es nicht weitersagen«, flüsterte sie hastig. »Wirklich nicht. Ich habe Dax mein Wort gegeben und ich werde es halten.«
Er nickte unbeeindruckt. »Ich weiß.«
»Du weißt?«, echote sie verblüfft. »Wie kannst du das wissen? Du kennst mich nicht.«
»Nein, aber ich vertraue Dax’ Menschenkenntnis. Und seinem verzweifelten Wunsch, niemanden wissen zu lassen, dass wir verwandt sind.«
»Oh, okay«, sagte sie langsam und klappte den Laptop zu. »Weswegen sitzt du dann neben mir, wenn nicht um sicherzugehen, dass ich euer Geheimnis bewahre?«
»Das ist eine gute Frage, Lucy.« Er verengte die Augen. »Ich glaube, ich habe gehofft, dass du mir etwas über ihn erzählen kannst.«
Überrascht wandte sie den Kopf. »Was erzählen?«
»Irgendetwas«, murmelte er. »Irgendetwas, das mir hilft, ihn besser zu verstehen. Herauszufinden, wie ich ihn dazu bringen kann, mich nicht mehr zu hassen.«
Sie musste lachen. »Du fragst die Falsche. An dem Versuch scheitere ich nämlich selbst noch.«
»Nein, das ist nicht wahr«, sagte Jack ernst. »Dax hasst dich nicht.«
Hitze wanderte in ihre Wangen. »Nein, vermutlich nicht. Aber … wir verstehen uns auch nicht sonderlich gut.«
»Aha«, meinte Jack vage und musterte sie skeptisch, so als würde er ihr nicht glauben.
»Und selbst wenn ich etwas wüsste, was dir helfen könnte, würde ich es dir nicht verraten«, fügte sie hastig hinzu. »Das, was zwischen euch passiert, ist …« Sie brach ab und räusperte sich. »Es ist eure Sache. Ich möchte nicht zwischen die Fronten geraten.«
Jack nickte. »Weil deine Loyalität bei ihm liegt?«
Sie öffnete den Mund, aber wusste nicht, wie sie darauf antworten sollte. Denn das war eine interessante Frage. Noch vor einer Woche hätte sie gesagt, dass das Schwachsinn war.
Doch jetzt bewahrte sie sein Geheimnis für ihn. Jetzt hatte sie seinen Respekt … jetzt wusste sie irgendwie gar nichts mehr.
»Verstehe«, murmelte Jack.
Na, wenigstens einer von ihnen beiden.
Wie automatisch flog ihr Blick zurück aufs Eis und erschrocken stellte sie fest, dass Dax zu ihnen herübersah. Sein Blick war saurer als ein Glas Milch, das zu lang in der Sonne gestanden hatte.
»Ähm, warum starrt Dax uns an, als hätten wir seinen Lieblingshockeyschläger überfahren?«, wollte sie interessiert wissen.
Jack winkte ab. »Ach, weil ich ihm erzählt habe, dass ich zu dir rübergehe, um dich anzumachen.«
»Oh.« Verwundert blinzelte sie ihn an. »Aber das machst du nicht?«
»Nein.«
»Warum nicht?«, rutschte es ihr heraus.
Er lächelte amüsiert. »Möchtest du von mir angemacht werden, Lucy?«
»Gott, nein.« Ihre Wangen wurden gleich noch ein wenig heißer. Sie zog eine Grimasse. »Ähm, sorry, ich bin mir sicher, du bist ein netter Kerl, aber ich date keine Spieler.«
»Ja, das habe ich schon gehört. Ich hätte vermutlich trotzdem mit dir geflirtet, einfach weil du witzig bist und ich gern flirte, aber … nein.« Er grinste breit. »Ich glaube, wenn ich wirklich mit dir ausgehen würde, könnte Dax …« Er brach ab. »Es wäre die Sache einfach nicht wert. Also bleibe ich dabei, ihn allein mit dem Gedanken etwas anzupissen.«
Sie sah ihn misstrauisch an. »Wenn du mit mir ausgehen würdest, könnte Dax was?«, fragte sie scharf. »Und du machst ihn absichtlich wütend? Ich dachte, du wünschst dir, er würde aufhören, dich zu hassen.«
»Oh, das tue ich«, sagte er ehrlich. »Aber er ist eben immer noch mein Bruder, ob er will oder nicht, und ich konnte nicht widerstehen.« Er hob hilflos die Schultern. »Abgesehen davon ist es besser, ihn wütend zu machen, als gar keine Reaktion von ihm zu bekommen.«
»Ist es das?«, fragte sie zweifelnd.
»Jap«, antwortete er bestimmt, bevor er nachdenklich zu ihr herübersah. »Hat Dax dir irgendetwas von seiner Kindheit erzählt?«
Sie warf ihm einen ironischen Blick zu. »Natürlich nicht. Er erzählt niemandem etwas über seine Kindheit. Was, schätze ich, der Grund ist, warum niemand weiß, dass ihr Brüder seid.«
Er lächelte, doch es erreichte seine Augen nicht. »Ich kann es ihm nicht übelnehmen. Ich rede auch nicht gern drüber. Aber Dax war schon immer ein … sehr emotionaler Mensch. Ein Hitzkopf, impulsiv und arrogant auf dem Feld.«
»Was du nicht sagst. Kann ich mir überhaupt nicht vorstellen«, erwiderte sie trocken.
Jack hob einen Mundwinkel. »Es war ein Ausgleich für ihn. Er konnte zu Hause nie das machen, was er wollte, und außerhalb hat er dann nichts anderes getan. Zu Hause war er der Engel, der er sein musste, um Anna, Mom und mich nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Aber in der Schule, auf dem Feld …« Er zuckte die Schultern. »Der Spitzname Devil kommt nicht von ungefähr. Ist auch egal. Wenn dann doch irgendetwas von Dax’ Eskapaden an die Ohren seines Vaters drang, hat das nie ein gutes Ende genommen.«
Das Blut floss aus Lucys Gesicht und ihr Atem stockte.
»Er hat ihn nicht geschlagen oder so«, sagte Jack hastig, als er das Entsetzen auf Lucys Gesicht sah. »Aber es gibt andere Wege, einem Kind das Gefühl zu geben, einen Dreck wert zu sein. Ich war nicht wirklich sein Sohn, mich hat es nie gestört, wenn Temple Senior scheiße war. Aber über Dax hatte er Macht, die er ausgenutzt hat. Dax war deswegen sehr wütend auf seinen Vater. Immer wütend. Und irgendwann … hat er aufgehört wütend zu sein.«
»Warum?«, flüsterte sie und ihre Stimme verlor sich fast in den Geräuschen von Dutzenden Kufen auf Eis.
»Weil ich ihm gesagt habe, dass es die Wut ist, die seinem Vater Macht gibt«, meinte Jack kühl. »Weil ich wusste, dass es ihm erst besser gehen wird, wenn er lernt, die Wut zu vergessen und durch Gleichgültigkeit zu ersetzen. Dass er die Menschen, die er wirklich und wahrhaftig hasst, ignorieren soll. Und es sich nur lohnt, mit denjenigen zu streiten und zu diskutieren, die er respektiert.« Er hob freudlos einen Mundwinkel. »Natürlich hat er auf mich gehört. Und wie ich es vorhergesagt habe, ging es ihm besser.« Er seufzte schwer. »Ich habe mich damals für sehr klug und weise gehalten. Jetzt bin ich der Idiot, der nicht in Angst davor lebt, dass Dax ewig wütend auf mich ist. Ich lebe in der ständigen Angst, dass er es irgendwann nicht mehr ist. Dass er meinen Rat ein weiteres Mal befolgt und ich ihm gleichgültig werde«, schloss er leise.
Ein Kloß arbeitete sich ihren Hals hinauf und ihre Augen brannten. Das hörte sich nach einer schrecklichen Kindheit an. Und nach einer schrecklichen Last, die beide Brüder ständig mit sich herumtragen mussten.
»Also«, sagte Jack leichthin. »Das ist der Grund, warum es immer besser ist, bei Dax eine Reaktion hervorzurufen. Erst wenn keine Reaktion mehr kommt, hat man verloren. Und eine Sache haben wir in jedem Fall gemeinsam: Wir verlieren nicht gern. Und ich mag meine Familie schon einmal verloren haben, aber den Fehler mach ich nicht zweimal.«
Lucy starrte ihn an. Ihr Herz schlug laut und schwer in ihrer Brust, während eine andere Kälte als die der Eishalle auf ihrer Haut brannte. »Warum erzählst du mir das?«, fragte sie erneut.
»Ich habe eine Theorie«, erklärte er leise. »Eine Theorie, in der es nicht schaden kann, wenn du mich magst und besser verstehst.«
»Okay«, sagte sie perplex. Denn er hatte mit seiner Geschichte das Gegenteil erreicht. Sie verstand ihn definitiv nicht. Er redete, als hätte er zu viele Glückskekse gegessen.
»Danke fürs Zuhören, Lucy«, meinte er lächelnd und stand auf. Er war riesig auf seinen Skates und dennoch schien er in den letzten Minuten merkwürdig in sich zusammengeschrumpft zu sein.
»Kein Problem«, krächzte sie und rutschte unsicher auf ihrem Sitz hin und her. »Aber … na ja. Da du ja anscheinend an deiner Beziehung mit Dax arbeiten willst: Ich glaube, er fände es überhaupt nicht gut, wenn er wüsste, was du mir gerade erzählt hast.«
»Nein, vermutlich nicht«, sagte er leichthin. »Aber er kann nicht noch wütender auf mich werden, also …« Er zuckte die Schultern.
Sie wollte fragen, warum das so war. Was Jack getan hatte. Doch sie musste den Mund nicht aufmachen, um zu wissen, dass er ihr nicht antworten würde. Stattdessen bahnte sich eine andere Frage einen Weg aus ihrem Mund. »Hast du sie verdient?«
»Entschuldige?« Er wandte sich um und hob die Augenbrauen.
»Dax’ Wut. Hast du sie verdient?«
Einige Herzschläge lang antwortete Jack nicht. Er sah sie nur ungerührt an, sein Blick unergründlich. Und gerade als Lucy schon glaubte, er würde ihr nicht antworten, murmelte er ein einziges Wort: »Definitiv.«
Er wandte sich um und war schon auf halbem Weg zurück zum Eis, als sie ihm noch einmal nachrief: »Jack, was ich noch sagen wollte: Es wird ihn nicht interessieren. Dass du so tust, als würdest du mit mir flirten.«
Das Lächeln, das auf seinem Gesicht erschien, stellte mit seinem Leuchten einen Weihnachtsbaum in den Schatten. »Was sagt man dazu? Anscheinend kenne ich Dax doch besser als du.«
Sie verdrehte die Augen und seufzte schwer. Jack musste noch eine Menge über seinen Bruder lernen. Denn wenn sie eins wusste, dann dass es Dax egaler nicht sein könnte, mit wem sie ausging.