Lucy überschlug die Beine, lehnte sich im Sessel zurück, nippte an ihrem Kaffee und betrachtete Dax’ Hinterkopf. Die Haare standen ihm zu allen Seiten, das Gesicht hatte er in die Kissen gepresst und das Laken hing tief um seine Hüfte.
Ihr Blick schweifte über seinen muskulösen Rücken, über die Erhebungen und Senkungen der einzelnen Stränge unter seiner Haut bis zu dem weißen Laken, das ärgerlicherweise den Rest verbarg.
Während er wach war, erlaubte sie sich nie, ihn so genau anzusehen. Doch jetzt, schlafend, konnte sie in Seelenruhe starren. Es war egal, dass sie mal wieder wütend auf ihn war – er war einfach ein Kunstwerk. Die breiten Schultern, der starke Nacken, die Wölbung seines gebräunten Bizepses auf dem weißen Laken …
Seufzend stellte sie den Kaffee auf das Tischchen neben sich. Schlafend war Dax mehr Engel als Teufel.
Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, beobachtete, wie der Sekundenzeiger weiter vorankroch und schließlich die zwölf passierte. Es war fast schade, dass sie ihn so unsanft wecken musste. Aber genau jetzt hätte nun einmal das Fotoshooting angefangen, auf dem Dax offensichtlich nicht war.
Gott sei Dank hatte sie es bereits gestern Abend zwei Stunden nach hinten verlegt. Nach Matts Ankündigung, dass sie am Abend bei Austin Fox ihr Team festigen würden, hatte sie geahnt, dass Dax es aus fadenscheinigen Gründen nicht pünktlich schaffen würde.
Kopfschüttelnd stand sie auf und schlenderte zum Bett. Sie hatte sich merkwürdig dabei gefühlt, einfach so in sein Loft zu spazieren – aber hey, sie hatte ihm gesagt, dass sie einen Schlüssel besaß und alles Nötige tun würde, um sein Image zu verbessern. Er war wirklich selbst schuld. Außerdem wollte er doch, dass sie sich wieder normal benahm. Das war ihre Version von normal.
Sie stoppte neben dem Bett, beugte sich hinunter und ignorierte ihr flatterndes Herz. Dann hielt sie ihr Handy direkt neben sein Ohr und drückte auf die Mitte des Displays.
Ein Schiffshorn in der Lautstärke einer Kindergartengruppe auf Traubenzucker erschallte. Dax zuckte so heftig zusammen, dass er ihr fast das Telefon aus der Hand schlug, also machte sie schnell ein paar Schritte zurück. War vielleicht auch besser, sich nicht direkt in Faustreichweite zu befinden.
Innerhalb von Sekunden saß er kerzengerade im Bett. Sein Blick glitt orientierungslos durch den Raum … und blieb schließlich an ihr hängen, als sie sich gerade wieder in den Sessel setzte.
»Jesus, Maria«, stieß er schockiert aus und krachte erschrocken mit dem Rücken gegen das Kopfende seines Bettes.
Sie lächelte breit. »Guten Morgen, Cinderella«, sagte sie fröhlich. »Ich hoffe, dein Kopf fühlt sich an, als würden hundert Wespen darin leben, denn du bist sehr viel länger als zwölf auf dem nächtlichen Ball geblieben und hast nicht nur einen, sondern gleich beide Schuhe verloren.«
»Was tust du hier?«, fuhr er sie ungläubig an und zog die Decke an seinem Oberkörper höher. Schande. »Und wie zur Hölle bist du in meine Wohnung gekommen?«
»Ja, Hölle ist das richtige Wort«, stellte sie fest. »Denn mein Leben ist in den letzten Wochen die Hölle gewesen. Aber wir haben keine Zeit, um Nettigkeiten auszutauschen. Du musst aufstehen und duschen. Du wirst in einer Stunde in der Maske fürs Fotoshooting erwartet.«
Dax zog fluchend sein Handy vom Nachttisch, blickte aufs Display, blickte zu ihr. »Nein, werde ich nicht. Es ist längst zu spät.«
»Ist es nicht«, sagte sie knapp und gab sich Mühe dabei, den Blick auf seinem Gesicht zu halten und ihn nicht äußerst unseriös seine muskulöse Brust hinunterwandern zu lassen, über die sich feine, dunkle Haare fächerten. »Ich hab das Shooting nach hinten verschoben. Ich wollte sichergehen, dass du auch wirklich erscheinst.«
»Oh, fuck«, murmelte er, zog eine Grimasse, als ein Lichtstrahl sein Gesicht traf, und rieb sich über die Augen. »Ernsthaft, Lucy. Hatten wir nicht darüber geredet, dass du aufhören musst, zu weit zu gehen?« Seine Stimme war noch rau vom Schlaf. Sie konnte sie tief in ihrem Bauch spüren. Ebenso wie seine Blicke.
Sie räusperte sich und reckte das Kinn.
Normal. Sie wollte normal sein.
»Ich bin nicht zu weit gegangen. Ich sitze einen respektablen Abstand von deinem Bett entfernt«, erwiderte sie mit großen, unschuldigen Augen.
»Klugscheißer. Du hast mir fast einen Herzinfarkt beschert.«
»Ach was. Du bist Sportler. Dein Herz verträgt mehr als das anderer.«
Er lachte trocken auf. »Lucy, du kannst nicht einfach in mein Apartment einbrechen und dann so tun, als wäre alles bestens!«
»Also erstens: Nichts ist bestens, denn eigentlich solltest du längst am Stadion sein. Und zweitens: Ich bin nicht eingebrochen. Ich habe einen Schlüssel. Abgesehen davon habe ich erst geklopft und dann sturmgeklingelt, aber du hast nicht aufgemacht. Ich habe mir Sorgen gemacht.« Sie nippte unschuldig an ihrem Kaffee to go. »Nachher hättest du noch bewusstlos in der Badewanne gelegen, dem Ertrinken nahe, und konntest deswegen nicht zur Tür. Da wollte ich sichergehen.«
»Wie überaus ritterlich von dir«, knurrte er.
»Ja, finde ich auch. Also, auf, auf. Ich schätze, du bist ordentlich verkatert und brauchst länger als sonst unter der Dusche. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Dax regte sich nicht. Stattdessen beugte er sich vor und sah sie misstrauisch an. »Woher wusstest du, dass ich heute Morgen verkatert sein und vielleicht verschlafen würde?«
»Ach, ich hatte da so ein Gefühl.«
Er verengte die Augen. »Heißt dein Gefühl Matt Payne?«
»Mein Gefühl möchte lieber anonym bleiben.«
»Und ich wäre lieber allein aufgewacht.«
»Wirklich? Deinem Ruf nach zu urteilen, wachst du fast nie allein auf.«
»Ja, aber die Frauen, mit denen ich sonst aufwache, liegen im Bett und ragen nicht wie ein verdammter Laternenmast über mir auf.«
»Der Vergleich mit dem Laternenmast passt, weil ich eine so große Leuchte bin?«, mutmaßte sie.
»Nein. Er passt, weil du Nerven aus Stahl hast und von hier unten ausnahmsweise groß aussahst.«
Sie schnaubte, auch wenn ihre Mundwinkel zuckten. »Du wolltest absichtlich verschlafen, Dax. Nur weil du dich mit deinem Bruder im Kostüm ablichten lassen musst.«
Ruckartig fuhr er in die Höhe, sodass die Decke von seiner Brust rutschte. »Kostüm?«, echote er, Panik in seiner Stimme. »Du hast nie was von Kostümen erzählt!«
Sie zuckte die Achseln. »Hielt es nicht für relevant. Und jetzt steh auf. Sonst kommen wir zu spät.«
»Ich bin nackt, Lucy.«
Hitze flutete ihren Körper und sammelte sich schwer in ihrem Unterleib. Er schlief nackt? Vollkommen nackt ?
Oh Gott, hätte sie das gewusst, hätte sie ihn von außerhalb seines Schlafzimmers geweckt.
»Ist mir egal«, sagte sie dennoch und nippte an ihrem Kaffee, darauf bedacht, ihr Gesicht zu verbergen, das mittlerweile sicherlich in den schillerndsten Rottönen leuchtete. »Steh auf, geh duschen und putz dir die Zähne. Du riechst nach einem Whiskeyfass.«
»Bourbon«, korrigierte er. »Es waren Wodka und Bourbon.«
Sie warf ihm einen herablassenden Blick zu. »Sehe ich aus, als würde mich das interessieren?«
»Nein, aber du siehst aus, als würde dich interessieren, dass ich nackt bin«, gab er leise zurück.
Allein seine tiefe Stimmlage reichte, um ihre Lippen mit der Erinnerung an seinen Kuss brennen zu lassen. Hastig wandte sie das Gesicht ab. Sie war noch schlechter im Vergessen als im Normalsein. »Bist du immer noch betrunken oder wie kommst du auf so lächerliche Ideen?«
Ein tiefes Lachen war die Antwort. »Das mit dem Lügen üben wir noch mal. Aber schön, wenn du meinst, dass du kein Problem hast und unsere überaus professionelle Beziehung nicht darunter leidet. Ich hab kein Problem mit meinem Körper.«
Im nächsten Moment schwang er die Beine aus dem Bett.
Ein kleines, sehr unprofessionelles Quietschen drang über ihre Lippen. Damit hätte sie rechnen sollen. Wenn sie aussähe wie eine römische Statue, hätte sie auch kein Problem damit, nackt vor ihm herumzuspazieren.
»Jaja, dir ist es egal«, flüsterte er.
»Ist es«, beharrte sie und schluckte.
»Warum hast du dann die Augen geschlossen, Lucy?«
Oh. Hatte sie das? Das hatte sie gar nicht gemerkt. »Um dir Privatsphäre zu geben.«
»Das aus dem Mund der Frau, die in mein Loft eingebrochen ist und mich wie ein verdammter Mafiaboss auf dem Sessel neben meinem Bett begrüßt hat«, murmelte er schnaubend.
Dann hörte sie Schritte und wie eine Tür ins Schloss klickte.
Erleichtert atmete sie aus und öffnete die Augen. Gut. Vielleicht war es ihr doch nicht egal, wenn Dax nackt durch den Raum lief. Aber das hatte er bestimmt nicht mitbekommen.
Seufzend stand sie auf und schlenderte zurück in den Küchenbereich. Dax’ Loft bestand aus einem einzigen, riesigen Raum, der in verschiedene Bereiche eingeteilt war. Gerade hatte sie dem Rest keinen zweiten Blick geschenkt, da sie ein klares Ziel vor Augen gehabt hatte. Doch jetzt, da sie im Hintergrund die Dusche rauschen hörte, nahm sie sich das Recht, sich schamlos umzusehen.
Den Kaffeebecher in der Hand, schlenderte sie durch den Raum. Es war ordentlich, aber nicht makellos sauber. Über der L-förmigen hellblauen Couch lagen ein Mantel und eine abgewetzt aussehende Kuscheldecke. Auf dem Wohnzimmertisch aus Naturholz erkannte sie eine leere Kaffeetasse auf einem Untersetzer, eine Blumenvase mit Trockenblumen und Kopfhörer, die an ein iPad angeschlossen waren. Ein gemütlich aussehendender gelber Teppich nahm den Raum vor einem riesigen Bücherregal ein, diverse Pflanzen standen in den Ecken und ein paar Landschaftsgemälde sowie Fotos hingen an den Wänden.
Sie lief zu den Fotos und inspizierte sie. Eines zeigte eine breit lächelnde junge, dunkelhaarige Frau in Abschlusstalar, den Arm um Dax’ Mitte geschlungen, der sichtbar stolz zu ihr hinabsah. Auf einem anderen standen drei Kinder vor einem großen, bunten Pferdekarussell. Da waren zwei maximal zehnjährige Jungs mit Zuckerwatte in den Händen, der eine dunkelhaarig, der andere blond. Der Dunkelhaarige – definitiv Dax! – grinste breit in die Kamera und präsentierte seine Zahnlücken. Das Gesicht des anderen wurde von der riesigen Süßigkeit verborgen, die er gerade an ein kleines Mädchen mit einem Stoffhasen im Arm reichte, das direkt neben ihnen stand und sein Glück, so etwas Leckeres essen zu dürfen, offensichtlich kaum fassen konnte.
Wärme breitete sich in Lucys Brust aus und sie ließ den Kaffeebecher sinken. Dax liebte seine Schwester … und hatte Jack noch nicht aufgegeben. Sonst hätte er dieses Foto hier nicht hängen. Er war es. Das wusste sie. Auch wenn man ihn nicht wirklich erkennen konnte.
Sie drehte sich einmal im Kreis und schüttelte den Kopf. So hatte sie sich Dax’ Wohnung nicht vorgestellt. Es sah so … gemütlich aus. So benutzt. Als würde er tatsächlich Zeit hier verbringen. Das war bei den wenigsten Single-Spielern so. Sie waren so oft zu Auswärtsspielen unterwegs, lebten in Hotels und auf dem Eis, dass sie sich meistens keine Mühe machten, ihre Wohnung oder ihr Haus vernünftig einzurichten. Aber das hier … Das war keine Wohnung aus dem Katalog. Das war eine Wohnung, die man Zuhause nannte. Sie konnte nicht sagen, warum, aber das beunruhigte sie. Es machte Dax so … real.
Sie lief weiter in die Küche. In der Spüle lag ein helles Hemd mit einem roten Flecken darauf, der mit etwas Weißem eingesprüht worden war. Stirnrunzelnd beugte sie sich vor. Weichte er den Fleck ein, damit er in der Waschmaschine besser rausging?
Das war sehr … hausmütterlich. Und untypisch. Matt warf Hemden mit hartnäckigen Flecken lieber sofort weg, um sich neue zu kaufen. Lucy hatte das schon immer schrecklich verschwenderisch gefunden, aber wenn man sechs Millionen Dollar im Jahr verdiente, dachte man darüber wohl nicht nach.
Hatte sie geglaubt.
Kopfschüttelnd ging sie weiter, inspizierte das saubere Geschirr auf einem Abtropfgitter neben der Spüle – Dax besaß doch eine Spülmaschine, wieso hatte er das Geschirr von Hand gewaschen? – und ging dann zum Kühlschrank.
Sie sah sich um, ging sicher, dass noch immer das Wasser lief, und öffnete die Tür. In ihrem eigenen Kühlschrank stapelten sich die Essenskartons vom Chinesen nebenan, doch hier sah sie nur frisches Gemüse, Milch, eine halb gegessene Lasagne in ihrer Auflaufform …
Kochte Dax? Das würde auch die etlichen Küchenutensilien erklären, die an den Wänden hingen und … war das ein Messerschärfer auf der Anrichte?
Die Tür hinter ihr ging auf und Dax trat aus dem Badezimmer, ein Handtuch tief um die Hüfte geschlungen.
Normalerweise hätte sie den Blick abgewandt, um nicht in Versuchung zu kommen, ihn wieder anzustarren. Doch es sprach dafür, wie verstörend sie das ganze Loft und das, was es über Dax aussagte, fand, dass sie kaum wahrnahm, dass er nackt war und ihm stattdessen ins Gesicht sah, um perplex zu fragen: »Dax. Bist du ein … erwachsener, bodenständiger Mann?«
Seine Mundwinkel zuckten, sodass das Grübchen auf seiner Wange erschien. »Ich weiß nicht, wie du auf diese lächerliche Idee kommst.«
»Na ja, es sieht hier so … heimelig aus«, antwortete sie perplex und breitete die Arme aus. »Gemütlich. Als hättest du selbst dekoriert. Als würdest du selbst einkaufen. Als wärst du … vollkommen selbst für dein Leben verantwortlich. Oh mein Gott.« Sie legte sich schockiert eine Hand auf die Brust. »Bist du etwa auch verantwortungsbewusst ?«
Er grinste breit. »Dieser Unglaube in deiner Stimme …«, meinte er kopfschüttelnd. »Und natürlich nicht. Ich hab gestern zu viel getrunken und beinahe den Termin des Fotoshoots verpasst.«
»Nun, ja«, erwiderte sie dümmlich. »Ja, ich weiß, aber …« Sie blinzelte. »Du verwirrst mich.«
»Ich glaub, das ist das Freundlichste, was du je zu mir gesagt hast«, stellte er fest, bevor er ihr den Rücken zuwandte und in den Schlafbereich verschwand, der von einem großen Regal voller Ordner, CDs und weiterer Bücher verborgen wurde.
»Du hast sehr viele … Küchenutensilien«, rief sie ihm hinterher.
»Die braucht man zum Kochen.«
»Jaja, ich weiß, nur … na ja, ich hatte nicht damit gerechnet, dass du kochst.«
Ein Schnauben war die Antwort. »Wie soll ich sonst an Essen kommen?«
»Ich … keine Ahnung. Bestellen?«
»Ist mir auf Dauer zu langweilig, zu fettig und zu ungesund.«
Oh Gott, er war verantwortungsbewusst! »Aber … du bist ein Frauenheld«, stammelte sie. »Du bist bestimmt schon bei Eroberung Nummer siebzig und …«
»Und Frauenhelden dürfen nicht kochen können?«, rief er verwirrt.
»Nun … Nein. Irgendwie nicht. Und warum spülst du von Hand? Und warum weichst du Flecken ein? Und gießt du die Pflanzen selbst?«
»Weißt du, ich habe schon die verrücktesten Fragen von diversen Journalisten gestellt bekommen«, bemerkte er und bog in Jeans und einem weißen T-Shirt um das Regal, während seine nassen Haare ihm noch immer feucht in die Stirn hingen. »Du übertriffst sie trotzdem.«
»Ich bin kein Journalist, du kannst mir also antworten«, sagte sie, denn sie brauchte die Antworten.
Er seufzte schwer. »Ich musste früh kochen lernen, um anderes Essen als Toast mit Erdnussbutter auf dem Tisch zu haben«, sagte er leise. »Und ich mag Essen. Teller zu spülen, beruhigt mich irgendwie, und wenn ich den Fleck nicht einweichen würde, wäre das Hemd ruiniert. Und wer sollte die Pflanzen außer mir sonst gießen? Bist du jetzt zufrieden?«
Nein. Überhaupt nicht. »Haben deine Eltern nicht …?« Sie ließ die Frage ins Leere laufen und schüttelte den Kopf. »Sorry. Es ist nicht normal, dass ich dich danach frage, oder?«
Dax seufzte schwer und rieb sich übers Gesicht. »Nichts an dir ist normal, Lucy.«
Sie lächelte und drehte nervös den Ring an ihrem Finger. »Danke. Normal zu sein, ist schrecklich langweilig. Und …« Sie zögerte, senkte den Blick auf ihre Füße und hob ihn wieder. Unsicher, ob sie das Fass aufmachen wollte. Unsicher, ob sie ihn an den Abend vor einer Woche erinnern wollte.
»Was?«, hakte Dax nach und hob eine Augenbraue.
Sie atmete tief durch. »Du weißt, dass ich es niemals weitererzählen würde, oder?«, wisperte sie. »Egal, wie wütend ich auf dich wäre. Ich würde es für mich behalten. Was du bei der Bar gesagt hast … Was du jetzt sagen würdest.«
Endlose Augenblicke sah er sie an. Ein einzelner Wassertropfen löste sich aus seinen Haaren und floss seine Wange hinab. Wie eine Träne, die ihren Weg verloren hatte. »Ich weiß«, murmelte er schließlich. »Es ist nur einfach kein … erquickendes Thema. Dass meine Mutter nur gearbeitet und mein Vater sich hat bedienen lassen. Noch dazu ihr Geld verspielt hat, sodass wir keine andere Wahl hatten, als günstig zu kochen, weil wir uns nichts anderes leisten konnten.«
Sie schluckte, während die Wärme aus ihrer Brust sich bis in ihre Fingerspitzen ausbreitete. Es war Mitgefühl, redete sie sich ein. Kein Glücksgefühl, weil er ihr die letzten zwei Sätze anvertraut hatte. Weil er sich aus unerfindlichen Gründen offenbar wohl genug in ihrer Gegenwart fühlte, um es ihr zu erzählen.
Was zur Hölle war in den letzten Wochen passiert?
»Eltern sind wohl nie ein erquickendes Thema«, meinte sie leise.
Sein Blick glitt zu dem Ring, den sie noch immer um ihren Finger drehte. »Redest du von deiner Mutter?«
Nein, eigentlich sprach sie von ihrem Vater. Ihr Vater, der die letzte Woche im Bett verbracht und seinen Termin beim Psychotherapeuten verpasst hatte. Der Madison angeschrien hatte, dass sie nicht wisse, wovon sie redete, als sie ihn gebeten hatte, einen neuen zu machen.
»Meine Mutter ist vor drei Jahren gestorben«, sagte sie und hob die Schulter. »Das ist zwar kein schönes Thema, aber … ich schätze, ich trage es nicht mit mir herum, so wie du es mit deiner Vergangenheit tust.«
Er nickte. »Tut mir leid. Dass sie gestorben ist.«
»Gleichfalls. Aber du hast zumindest deine Schwester, oder?«
»Jup«, meinte er und runzelte die Stirn. »Aber du hast auch eine Schwester, oder? Nein. Zwei Schwestern. Maddie … und noch wer anderes.«
Überrascht hob sie die Augenbrauen. »Woher weißt du das?«
Er hob einen Mundwinkel. »Ich weiß eine Menge über dich, Lucy. Denn seinen Feind sollte man noch besser kennen als seinen Freund. Ich weiß, dass du Kaffee trinkst wie Wasser. Ich weiß, dass du anscheinend keine anderen Schuhe als High Heels besitzt. Ich weiß, dass du die Beste in deinem Jahrgang warst und dir einiges darauf einbildest. Ich weiß, dass du deinen Ring drehst, wenn du nervös bist, dein Kinn reckst, um dich größer zu machen, Spaziergänge für ein Work-out hältst, Matt immer wieder erzählst, was für ein schrecklicher Mensch ich bin, und mich dir vermutlich trotzdem jede zweite Stunde nackt vorstellst.«
Sie biss sich auf die Unterlippe, um sich vom Lächeln abzuhalten. Das war tatsächlich mehr, als sie ihm zugetraut hatte. Auch wenn sie sich ihn jede Stunde nackt vorstellte, nicht jede zweite. »Ich hab mich nie als deinen Feind gesehen, weißt du?«, erklärte sie. »Eher als dein Gewissen.«
»Mein Gewissen, das in mein Loft einbricht, Leute davon überzeugt, dass ich sexsüchtig bin und es für richtig hält, mein Handy zu hacken sowie meine Freunde dafür zu benutzen, mich auszuspionieren?«, fasste er zusammen. »Mann, kein Wunder, dass ich so viele Negativschlagzeilen mache.«
Sie musste lachen, legte den Kopf in den Nacken … und war sich auf einmal furchtbar der Tatsache bewusst, wie nah Dax ihr stand. Wie normal ihre Unterhaltung gewesen war. Wie ihr Nacken kribbelte und dass er nach herber Seife und Eis roch.
Sie räusperte sich und trat hastig einen Schritt zurück. Unterbrach den Moment, bevor er wirklich zu einem werden konnte. »Okay, wir sollten los. Und du musst deinen Schlüssel nicht rauskramen. Ich schließe ab.«
Er zog die Augenbrauen zusammen. »Woher hast du den Schlüssel?«
Sie grinste. »Erinnerst du dich daran, dass dir der Barmann der Ice Lounge mal den Autoschlüssel weggenommen hat, an dem sich auch ein Schlüssel zu deinem Loft befunden hat? Weil du zu betrunken warst? Dreimal darfst du raten, wer diesen Schlüssel abholen und den Barmann bestechen musste, damit niemand die Bilder von deinem betrunkenen Selbst an die Presse verkauft.«
»Und du hast den Schlüssel einfach nachmachen lassen?«, stellte er fest.
Sie zuckte die Schultern. »Ich dachte mir, wenn dich irgendwann mal eine deiner One-Night-Stands aus Rache, weil du sie nie wieder angerufen hast, im Bett umbringt, ist es so leichter, als deine Hochsicherheitstür einzutreten. Denn seien wir ehrlich: Deine Tür kann nichts dafür, dass du deine Hose nicht anbehalten kannst.«
Er schnaubte laut. »Du meinst, falls mich mal jemand umbringt.«
»Oh nein«, sagte sie sachlich. »Ich bin mir sehr sicher, dass du deinen Tod durch fremde Hand finden wirst. Wenn schon nicht durch eine deiner Ladies, dann mit Sicherheit durch mich.«
Er lachte. Ein heiseres, lautes Lachen, bevor er kopfschüttelnd vor ihr in Richtung Ausgang lief. »Es ist nicht okay, Lucy. Dass du den Schlüssel hast nachmachen lassen«, sagte er, doch er klang nicht zornig.
Sie seufzte. »Nein, ich weiß. Aber zu meiner Verteidigung: Damals war ich wieder mal sehr wütend auf dich und hatte diese Idee im Kopf, dass ich nachts reinkomme, deine Möbel umstelle und dir einrede, dass du einen Geist hast. Doch ich bin zu Sinnen gekommen, nachdem ich meinen ersten Kaffee am nächsten Morgen hatte.«
Er warf ihr einen skeptischen Blick über die Schulter zu. »Ich muss dich enttäuschen. Du bist mit Sicherheit nicht zu Sinnen gekommen.«