Prolog

D er kalte Abendwind trieb ihn vor sich her. Von überall drang Sprühregen zwischen seine Kleidungsstücke. Er zog die Nase hoch und rückte sich die Schirmmütze mit dem Logo der San Francisco 49ers tiefer in die Stirn.

Im Dämmerlicht der Straßenlaternen erreichte er die Hans-Sachs-Straße. Unauffällige Fassaden, herabgelassene Rollläden. Hinter den Fenstern und Türen der Mehrfamilienhäuser blieb man für sich. Hier und da flimmerte hinter Gardinen das Licht eines Fernsehers.

Er nestelte den Schlüsselbund aus der Manteltasche, fluchend, weil er um ein Haar an einen breiten Wagen gerempelt wäre, der viel zu weit auf dem engen Gehweg stand. Sein Ziel hatte er nicht erreicht. Nicht vollständig. Er hatte sich beruhigen wollen. Ein Tapetenwechsel, eine Brise Sauerstoff. Etwas anderes sehen als die ausgeblichene cremefarbene Tapete mit dem Blumendekor, dem traurigen Mief seiner Wände entkommen, der ihm gleich wieder entgegenschwappen würde.

Er trat sich die Füße ab, energisch, wie immer. Der Schmutz spritzte auf die Kacheln des Treppenhauses. Sollte er doch. Das gesamte Haus war heruntergekommen. Der Eigentümer interessierte sich mehr für die Fassade als für das Innenleben. Hauptsache, er konnte den Bewohnern auch noch das Letzte aus den Rippen pressen. Das Leben in der Stadt war teuer, und es war deprimierend.

Der schwere, süßliche Duft und das Radio, aus dem Schlagermusik an sein Ohr drang, erinnerte ihn, weshalb er das Weite gesucht hatte. Er reihte die Schuhe ins Regal und tappte in die Küche. Griff in die Manteltasche, förderte eine Flasche Bacardi zutage und stellte diese auf den Küchentisch. Breitete den Mantel zum Trocknen über den Lehnen zweier Stühle aus und öffnete den Rum. Der kräftige Geruch schreckte ihn ab, übertünchte aber wenigstens die andere Süße, die sich während seiner Abwesenheit durch die gesamte Wohnung verbreitet hatte. Er nahm eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank, ebenso zwei Gläser aus dem Hängeschrank über der Spüle.

Ein Teil Bacardi, vier Teile Cola. Sein Gesicht verzog sich nach dem ersten Schluck. Mehr Rum, entschied er. Und nachdem er beide Gläser gefüllt hatte – hohe, schlanke Longdrinkgläser –, begab er sich in Richtung Wohnzimmer. Eben wurde eine leiernde Schnulze von Truck Stop abgelöst, und der Mann mit den Drinks in beiden Händen musste lächeln. Manche Songs würde man vermutlich bis zum letzten aller Tage spielen.

Wobei dieser letzte Tag schneller kommen konnte, als es manch einem Menschen lieb war. Doch darüber entschied man ja gottlob nicht selbst.

Die Malerfolie auf dem Sofa waberte unter jeder ihrer Bewegungen. Kalter Schweiß, der in ihren Kleidern saß, machte alles glitschig. Verlaufenes Make-up und Lidschatten verwandelten ihr Gesicht zu einer traurigen Karikatur ihrer selbst.

Sie hatten sich vor drei Stunden kennengelernt. In einer Bar, gar nicht weit von seiner Wohnung entfernt. Er hatte hinter einem grellblauen Cocktail gesessen und das Publikum taxiert. Hauptsächlich Stammgäste, wenige unbekannte Gesichter. Typisch für einen Werktag. Schließlich hatte sie den Raum betreten. Und auch wenn er es überhaupt nicht geplant hatte, stand sie plötzlich, einen Kir Royal in der Hand, vor ihm.

Der Rest war ganz schnell gegangen.

»Ich habe eine Wohnung in der Nähe«, lockte sie.

»Wo denn?«, raunte er zurück, sein Interesse nicht verbergend.

Sie nannte einen Straßennamen. Daraufhin gab er ihr zu verstehen, dass seine deutlich näher läge.

Zwei Drinks später bezahlte er, und die beiden verließen den Keller über die enge Treppe. Ein paar Schritte in der Abendluft, bestimmt fror sie unter ihrem dünnen Mantel. Die langen Beine nur in Strumpfhosen, die Füße in wackelnden Stöckelschuhen. Viel zu wenig Textil für einen kühlen Oktoberabend.

Viele Worte wechselten sie nicht mehr. Er schob sie in das dunkle Stiegenhaus, die Beleuchtung war seit Monaten defekt. Erste Etage, in die Wohnung. Blickte sich kurz um, ob auch niemand ihn gesehen hatte. Dann drückte er die Tür zu und hängte die Kette ein.

Er griff in die Garderobe, wo sein Nudelholz lag.

Bevor sie etwas sagen konnte – eben noch stolperte sie bei dem Versuch, sich halbwegs erotisch aus ihrem Mantel zu schälen –, traf sie die Walze am Hinterkopf. Sie taumelte, benommen nach dem Türrahmen greifend, er stieß mit einem gezielten Handgriff nach, sodass sie der Länge nach auf den Flurteppich fiel.

Der sensible Moment war damit überwunden. Wenn sie erst einmal bewusstlos waren, spielte er stets dasselbe Programm mit ihnen ab. Einzig die Sekunden zwischen Treppenhaus und Wohnungsflur waren von einer unberechenbaren Dynamik.

Der Rest war Routine. Er schleifte den Körper in Richtung Wohnzimmer, wo ein Dreisitzer aus schwarz glänzendem Kunstleder wartete. Er hob sie an. Der Körper wirkte massiver, als man es bei einer schlanken Frau erwartet hätte. Bald waren seine Hände überall, auch dort unten . Ein heißkalter Schauer überlief ihn, dann ließ er von ihr ab.

Die Routine, mahnte er sich.

»Spürst du den Feuersturm?«

Sie wollte schreien. Oh, wie musste es sich in ihrem Inneren wohl anfühlen? Als brächen Lavaströme durch ihren Leib? Als würden Magen und Darm von tausend Glassplittern durchbohrt?

Seine medizinischen Kenntnisse reichten aus, um zu wissen, was das Gift in ihrem Körper anrichtete. Als er es zum ersten Mal erlebt hatte, war er schockiert gewesen. Hatte nicht mit den übermenschlichen Kräften gerechnet, die ein Körper im Todeskampf freisetzen konnte. Ob die Einnahme psychedelischer Drogen das Erlebnis verstärkte? Er neigte den Kopf und dachte kurz nach. Dann leerte er das erste der beiden Gläser, stellte es neben sich auf den Boden, griff das zweite Glas und lehnte sich zurück.

Sie blickte ihn panisch an. Das Klebeband, welches ihr mehrfach um den Kopf geschlungen war, hielt den Gummiball zuverlässig in der Mundhöhle gefangen. Erstickte Schreie, manchmal schrill, manchmal wimmernd, mischten sich unter Michael Holms Mendocino .

Er stand kurz auf, um das Radio ein wenig lauter zu drehen.

Dabei mochte er keine Schlager.

»Bald wirst du die Engel singen hören.« Er schmatzte zufrieden, als er wieder saß.

Und dann lachte er.

Es klang wie der Teufel höchstpersönlich.