D ie Sonne stand in ihrem Nacken, aber die Strahlen wärmten sie nicht mehr. Julia Durant ließ das Smartphone sinken und war heilfroh darüber, dass sie ein paar Meter abseits stand.
Sie ließ den Blick streifen. Wenige Meter entfernt kroch die Nidda an ihr vorbei. Auf einer abgeflachten Böschung, im Ufergestrüpp vom Weg aus praktisch nicht zu sehen, lag die Leiche einer jungen Frau. Einen Arm über den Oberkörper gelegt, als wolle sie ihre Nacktheit verbergen oder sich vor der Kälte schützen. Der zweite war hinabgerutscht. Ein junger, makelloser Körper. Lange, blonde Haare. Die Augen aufgerissen. Sie schienen voller Entsetzen in den Himmel zu starren. Warum, Gott, lässt du das mit mir geschehen? Warum muss ich auf diese Weise sterben?
Doch statt einer Antwort war das leibhaftige Böse über das arme Ding hereingebrochen. Durant schätzte das Mädchen auf höchstens siebzehn, auch wenn dieser erste Eindruck natürlich täuschen konnte. Noch wusste sie kaum etwas, denn sie war erst vor wenigen Minuten eingetroffen.
Durant hatte ihren Wagen in der Denzerstraße abgestellt, die Fahrstrecke von ihrer Wohnung im Nordend hatte über zehn Kilometer betragen. Vorbei am Palmengarten, am Messegelände, ein Stück Autobahn und dann über die Oeserstraße nach Nied, wo sich ein Siedlungshaus ans andere reihte. Noch vor zweihundert Jahren, wusste die Kommissarin, war hier nichts als Wiesen und Felder gewesen. Heute lebten in diesem Frankfurter Stadtteil an die zwanzigtausend Menschen. Viele von ihnen gern. Und es wurden immer mehr. Mit einer Ausnahme.
Kaum dass sie den knallroten Roadster abgeschlossen hatte, erreichte Julia Durant den Radweg am östlichen Nidda-Ufer. Für einige Sekunden schmeckte die Luft nicht nach Abgasen, und die Ohren nahmen das Plätschern des Flusses wahr. Dann überlagerte das monotone Rauschen der Fahrzeuge das Idyll.
Durant hatte den aus rotem Sandstein gemauerten Brückenbogen durchquert, kurz innegehalten und die karminrote Plakette gelesen. Der Text wies darauf hin, dass es sich mit gut hundertsiebzig Betriebsjahren um Hessens älteste noch genutzte Eisenbahnbrücke handelte. Dann tauchte bereits das Flatterband auf, die ersten Markierungen der Spurensicherung und jede Menge Kollegen in Schutzkleidung. In diesem Augenblick hatte die Kommissarin feststellen müssen, dass sie sich auf der verkehrten Uferseite befand.
»Hey, hier rüber!« Ihr Kollege Frank Hellmer war mal wieder als Erster an Ort und Stelle gewesen. Dabei hatte er von Okriftel aus eine deutlich längere Strecke zurückzulegen. Doch er fuhr einen Porsche 911 und hatte, im Gegensatz zu ihr, nur einen Bruchteil an Ampeln gehabt. Hellmer winkte ihr lächelnd zu, und sie hatte sich wieder umgewandt und den Weg über die Brücke genommen. Nun stand sie hier. Und das Lächeln war ihr vergangen. Es war, als habe der Tod mit seiner kalten Hand danach gegriffen und es für immer in die dunkle, eisige Nacht gezogen. Dorthin, wohin so viele Seelen bereits gegangen waren. Angefangen mit ihrer Mutter, Julia Durant war gerade fünfundzwanzig Jahre alt gewesen. Dann, kürzlich, ihr Vater. Und jetzt …
»Was ist denn mit dir los?«, erklang eine Stimme wie aus dem Nichts. Julia fuhr herum. Andrea Sievers, die Rechtsmedizinerin, war lautlos an sie herangetreten. Den Mundschutz unters Kinn gezogen, strahlten ihre wachsamen Augen und ein von Lachfältchen geziertes Gesicht. »Ist doch schön hier. So ein Picknick im Grünen …«
»Bitte. Jetzt nicht.« Durant kannte Andreas schwarzen Humor. Diese drahtige Frau, der man ihre viereinhalb Lebensjahrzehnte wahrlich nicht ansah, begegnete dem Leben mit einem Lächeln, obgleich sie tagtäglich mit den finstersten Varianten des Todes konfrontiert war.
»Hast ja recht«, kam es zurück, und in der nächsten Sekunde war Sievers’ Gesicht wieder unter dem Mundschutz verschwunden. Sie seufzte: »Armes Ding. Sie dürfte kaum achtzehn sein. Na ja, ich sehe mal zu, was sich rausfinden lässt.«
Die Rechtsmedizinerin stapfte davon, den schweren Lederkoffer in der Linken.
Mach das, dachte Julia Durant. Und schließ ihr bitte die Augen. Sie wusste nicht, weshalb ihr dieser Umstand ausgerechnet heute so zu schaffen machte. Doch was auch immer dieses Mädchen in ihren letzten Lebensstunden durchgemacht hatte, es war an der Zeit, dass sie ein wenig Würde bekam. Und ihren Frieden.
Im selben Moment flatterte auch schon die Decke zur Seite, die den nackten Körper bedeckt hatte. So viel zum Thema Würde.
Erst in diesem Augenblick begriff Julia, dass sie noch immer das Smartphone umklammerte. Als sei es ein Goldbarren und sie Dagobert Duck. Als wäre sie die Erste, die nach dem Verkaufsstart das neueste Modell eines iPhones in den Händen hielt. Dabei hätte sie das Gerät am liebsten im Fluss versenkt. Sie fragte sich, ob das nicht alles ein Traum war. Ob sie im nächsten Augenblick aufwachen würde, den Geruch von Toastbrot und Kaffee in der Nase, ahnend, dass ihr Liebster sie mit einem Frühstück verwöhnen würde.
Doch kein Erwachen, kein Frühstücksduft. Nur der modrige Geruch von Uferschlamm und eine drückende Schwüle, die ihr die Schweißperlen auf die Stirn trieb.
Es war ein Alptraum. Denn abgesehen davon, dass Julia Durant schon viel zu viele Fundorte wie diesen erlebt hatte, war da noch etwas anderes. Etwas Altes, etwas längst Vergangenes. Etwas, das schon so lange her war und ihr doch den Atem raubte.
Wie konnte es sein, dass es noch immer eine solche Kraft auf sie ausübte?
Wie konnte es sein, dass es sie nach all den Jahren noch immer derart aus der Bahn warf?
Der Anruf war von einer unbekannten Nummer eingegangen. Eine Vorwahl, die Julia immer vertraut bleiben würde, aber mit der sie immer weniger verband. München.
Seit dem Tod ihres Vaters und der Vermietung ihres Elternhauses gab es kaum mehr Kontakte in die alte Heimat. Immerhin war es dreißig Jahre her, dass sie der Stadt den Rücken gekehrt hatte. Anfang der Neunzigerjahre, nachdem sie hatte herausfinden müssen, dass ihr Ehemann Stephan, die große Liebe ihres Lebens, sie immer und immer wieder betrogen hatte. Und zwar derart dreist, dass sie sich als Kriminalbeamtin fast schämen musste, es nicht längst bemerkt zu haben. Und derart oft, dass sie jahrelang unter Komplexen gelitten hatte. Dabei war Julia Durant eine attraktive Frau, auch heute noch. Ihr kastanienbraunes Haar, ihr fester Busen, ihre Augen und Lippen – sie war nur wenigen Männern begegnet, denen kein Interesse anzusehen war, und sei es auch noch so unterschwellig. Trotzdem hatte das ihrem Mann nicht gereicht. Vielleicht hatte er ein krankhaftes sexuelles Verlangen? Wie oft hatte sie sich darüber den Kopf zerbrochen. Wie viele Nächte hatte sie geheult oder sich betrunken.
Doch in einer Sache war Julia Durant konsequent gewesen. Sie hatte unmittelbar darauf ihre Koffer gepackt und war nie wieder zu ihm zurückgekehrt. Hatte nie wieder etwas von ihm gehört.
Bis man sie, ausgerechnet am Einsatzort, zu den Füßen eines toten Mädchens, über Stephans Ableben informiert hatte.