D rei Tage waren vergangen. Tage, an denen die Zeit raste, in ständiger Erwartung, was als Nächstes geschehen würde. Doch nichts geschah, jedenfalls kein neuer Mord. So erleichternd es auch war, so sehr lähmte die eigene Machtlosigkeit. Besonders Frank Hellmer bekam das zu spüren, als er am Wochenende seinen 911er in der Einfahrt parkte, weil er zu bequem war, ihn in die Tiefgarage zu fahren. Der Wagen hatte keine vier Stunden an dieser Stelle gestanden, als Frank und Nadine sich mit ihm in Richtung Nachtleben aufmachen wollten. Einmal im Monat gönnten die beiden sich einen Besuch in einem Restaurant, diesmal sollte ein neuer Chinese dran sein, von dem man im Internet nur Gutes lesen konnte. Doch kaum hatte Frank seiner Frau die Tür geöffnet, hörte er ein spitzes Quieken.
»Igitt! Frank! Was ist das denn?«
Doppelt schnell, wie sie auf den Sitz gelangt war, fuhr Nadine wieder in die Senkrechte. Etwas Rotes spritzte auf den Lack. Rote, undefinierbare Fetzen regneten auf die Betonfliesen nieder.
Während Hellmers Augen noch ein Puzzle zusammenzusetzen versuchten, das nach wabernden Eingeweiden aussah, registrierten seine Nase und sein Gaumen den süßlichen Duft und das bekannte Aroma.
»Kirschen?!«, rief er entsetzt.
Nun erkannte er das gesamte Ausmaß des Dramas. Das Schiebedach stand zur Hälfte offen. Angetrocknete Spritzer verrieten, dass der unbekannte Vandale sich diesen Umstand zunutze gemacht hatte. Der Innenraum war ruiniert von einem halben Kilogramm glibberiger Früchte inklusive Saft.
Der Chinese an diesem Abend fiel aus, stattdessen dokumentierte der Kommissar den Schaden an seinem Fahrzeug und machte sich auf die Suche nach einem Aufbereiter, der schlimmeres Unheil abwenden sollte.
Er hatte außerdem mit seiner Kollegin Durant telefoniert und erfahren, dass es auch in München einen Vorfall mit Kirschen gegeben hatte.
Kirsche – Cherry – Cherié. War das schon alles, was sich hinter dieser Bildsprache verbarg? Sollten die Adressaten sich erschrecken oder in Sicherheit wähnen? Dem Täter musste doch klar sein, dass die erste Konsequenz daraus sein würde, die Polizeipräsenz zu erhöhen. Doch gab es überhaupt so etwas wie Sicherheit, solange dieses Schwein sich da draußen herumtrieb? Für Tanja Wegner jedenfalls gab es keine mehr, und diese war selbst Polizistin gewesen. Hellmer beschloss, mit seiner Frau Nadine zu reden, um diese davon zu überzeugen, sich mit ihrer Tochter so weit wie möglich von Frankfurt zu entfernen. Die Ferien standen ohnehin unmittelbar bevor.
Julia Durant war am Sonntagabend zurück nach Frankfurt gefahren. Die Durchsuchung ihrer ehemaligen Wohnung hatte zwei weitere Kassetten zum Vorschein gebracht. Eine in einer mit Kirschen bedruckten Butterdose aus Porzellan, die sich im Kühlschrank befunden hatte. Eine im Regal, ziemlich frech platziert, und doch war sie niemandem aufgefallen. Aber wer beachtete an einem Tatort auch schon die CDs, Bücher oder eben auch Kassetten des Opfers? Julia Durant konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob es noch ein viertes oder ein fünftes Band gab. Sie hatte das Schlafzimmer betreten. Widerwillig. Und die Seite des Doppelbetts unter die Lupe genommen, die einmal ihr gehört hatte. Auch wenn es ein anderes Bett war – Gott sei Dank! –, sie hatte sich gegen die wiederkehrenden Flashbacks nicht wehren können.
In der Forensik fand man heraus, dass sämtliche Bänder denselben Inhalt hatten und ansonsten leer waren. Der Täter musste sie neu erworben haben, eine Spur, die sich nur auf den ersten Blick als vielversprechend zeigte. Denn im aufkommenden Retro-Wahn gab es unzählige Händler, die Leerkassetten wieder in ihr Sortiment aufgenommen hatten. Dazu der Onlinehandel. Es war eine Sackgasse.
Ebenfalls untersucht hatte man das Porträt der jungen Kommissarin, das auf Stephans Schreibtisch platziert worden war. Der Rahmen war neu, trug noch das Preisschild auf der Rückseite. Euro, keine Mark. Das Foto hingegen war ein altes. Die Klebespuren auf der Rückseite deuteten darauf hin, dass es in einem Album geklebt hatte. Julia erinnerte sich an den Sommer, in dem es aufgenommen worden war. Doch viel mehr interessierte sie die Frage, welche Abdrücke sich auf dem Glas, dem Rahmen und auch der Fotografie befanden. Tatsächlich war auch hier ein Zehenabdruck zu finden gewesen.
»Was soll das?«, fragte sie sich immer wieder. Die Rechtsmedizin, in Form des zynischen bayerischen Kollegen, wusste darauf natürlich keine Antwort. Allerdings bekräftigte er drei Dinge: Erstens, dass es sich zu hundert Prozent nicht um einen Fingerabdruck handeln konnte, zweitens, dass es sich um einen menschlichen Zeh mittlerer Lage handelte, also weder den großen noch den kleinen, und dass es drittens exakt dasselbe Muster war.
»Selbst wenn das Foto und die Karte auf dem Boden lagen und der drübergelatscht ist«, so der Schluss des Arztes, »ist es sehr unwahrscheinlich, zweimal mit demselben Fuß und demselben Zeh aufzukommen, noch dazu, ohne die Nachbarzehen gleich mit drüberzuschmieren. Das war pure Absicht und grenzt an Fußakrobatik. Vermutlich hat er den mittleren Zeh genommen und ihn mit der Hand auf die Unterlage gedrückt.«
So viel Aufwand, hatte die Kommissarin gedacht.
Wer so viel Aufwand trieb, um Spuren zu hinterlassen, der hatte eine Botschaft. Eine Agenda. Und es stand außer Zweifel, dass sie es war, die der Unbekannte ansprechen wollte. Aber was wollte er ihr mitteilen?
In Frankfurt wiederum hatte Durant sich mit den Details um Mia Emrichs Rückkehr befasst.
Diese hatte ausgesagt, dass es sich um einen Mann gehandelt habe. Heiser. Sein Gesicht lag die meiste Zeit über im Schatten einer Schirmmütze oder hinter einem Halstuch, das er bis zur Unterlippe hochgezogen hatte. Kalte, ins Grau gehende Augen. Die waren ihr aufgefallen. Hatten ihr Angst gemacht.
Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war die Angst, zu ersticken. Er hatte sie mit Klebeband geknebelt. Laut den Ärzten habe der Sauerstoffmangel zu einer Ohnmacht geführt. Verantwortlich dafür war ein unglückliches Zusammenspiel von verstopften Nasenlöchern, die Mia nur schwer atmen ließen, und Panik, die schließlich zur Hyperventilation geführt hatte. Irgendwann schwanden ihr die Sinne. Sie musste gekrampft haben, der Stuhl kippte um, ein paar leichte Blessuren, die aber verheilen würden. Die Narben auf ihrer Seele indes …
Durant hatte die ganze Zeit gebangt, dass der Entführer noch schlimmere Dinge mit dem Mädchen angestellt hatte. Doch offenbar (und Mia war trotz vehementen Verneinens eines Missbrauchs entsprechend untersucht worden) hatte der Mann nichts dergleichen getan. Wenigstens etwas.
Und das Schlimmste dabei war, dass all das in Wirklichkeit Elisa Seidel gegolten hatte. Julia Durants Patenkind.
Die Kommissarin blickte auf die Uhr. Eine gute Viertelstunde, dann die Dienstbesprechung. Sie musste an Alina Cornelius denken. Erst gestern Abend hatten die beiden Freundinnen zusammengesessen. Lachend, weinend. Ganz nah. Natürlich waren diese Treffen keine Therapiegespräche. Doch für Julia waren die Stunden mit Alina mehr, als jede ärztlich verordnete Therapie leisten konnte. Vielleicht lag es daran, dass sie sich geben konnte, wie sie war. Kein Verstellen. Kein Gebaren. Kein Analysieren. Es tat gut, mit jemandem zu plaudern, der genauso tickte wie sie selbst. Oder zumindest mit jemandem, der ihr Ticken verstand. Weil die beiden Frauen etwas miteinander teilten, was sonst niemand hatte. Ein Band, gewachsen aus einem gemeinsamen Trauma. Und für eine einzige Nacht, schon viele Jahre her, hatten die beiden sich geliebt. Eine Erfahrung, die Julia nur dieses eine Mal zugelassen hatte. Wunderschön, völlig anders als erwartet, aber eben auch nur ein Versuch. All diese Dinge, die zwischen ihr und Alina geschehen waren, hatten ihre Seelen miteinander verwoben. Und auch wenn der gestrige Abend viel zu früh vorüber gewesen war: Julia hatte neue Kraft daraus geschöpft.
Ein nächster Blick in Richtung Uhr. Die Kommissarin nahm einen Schluck Cola und feuerte die Dose in den frisch geleerten Mülleimer, wo sie mit einem wütenden Scheppern zum Liegen kam. Sie hatte keine Lust auf die anstehende Konferenz. Was würde sie bringen? Nichts. Außer einem Wiedersehen mit Andrea Sievers, die es sich nicht hatte nehmen lassen, ihren Besuch anzukündigen. Vielleicht doch ein Lichtblick? Ein neues Indiz? Irgendwas?
Immer noch Zeit. Bevor Durant ihre Sachen griff und sich mit einem Umweg über die Toilette zum Besprechungszimmer aufmachte, tippte sie eine Kurznachricht an Alina.
Hi. Würde Dich gerne noch mal sehen. Der Abend war einfach zu kurz!
Natürlich wusste sie, dass Alina während einer Sitzung nicht an ihr Handy ging.
Dennoch: Es dauerte nur wenige Minuten, schon kam eine Antwort. Leider war die Freude darüber nur von kurzer Dauer.
Sorry, Julia. Liebend gern! Aber heute und morgen sieht es mau aus. Ich melde mich :-*
Julia Durant musste also ohne sie auskommen. Sie lehnte sich für ein paar Sekunden in eine dunkle Ecke des Ganges und schloss die Augen. Nahm ein paar tiefe Atemzüge, dann fühlte sie sich stark genug für die Besprechung.
Jahrelanges Training hatte Alina Cornelius in die Lage versetzt, selbst Krisengespräche punktgenau zu einem Ende zu leiten. Und zwar ohne dass sich ihre Patienten weggedrängt fühlten. Im Gegenteil: Es gelang ihr auf eine so einfühlsame Weise, dass selbst die gequälteste Seele mit neuem Mut aus ihrer Therapie ging. Und wenn es nur für ein paar Stunden war. Sicher einer der Gründe dafür, dass sie restlos ausgebucht war. Der andere Grund war der katastrophale Mangel an guten Therapeuten, selbst hier, inmitten der Großstadt. Kein Wunder, dass aus jeder Ecke Quacksalber auftauchten, die Wunder versprachen und am Ende noch größere Scherbenhaufen hinterließen.
Vor einem Jahr hatte Alina ihre Praxis aufgegeben und sich dort, wo sie wohnte, eine Räumlichkeit geschaffen. Im Stadtteil Dornbusch, unweit des Polizeipräsidiums und in direkter Nachbarschaft zum Rundfunkgelände. Das Parken war hier nicht ganz so katastrophal wie in anderen Teilen der Stadt, und bislang hatte sich keiner ihrer Stammpatienten darüber beschwert. Selbst aus Höchst nahm man die Fahrt zu ihr gerne auf sich.
Sie blickte der geduckten Person noch eine Weile hinterher. Scheu, immer in Habachtstellung und ohne einen Hauch von Selbstbewusstsein schlich sie durch ihr Leben. Fußabtreter für jeden, mit dem sie sich einließ. Immer dieselben Fehler. Alina hatte sogar schon mit ihr geübt, eine aufrechte Haltung einzunehmen. Doch sobald sie die Schwelle ihrer Wohnung übertrat, sackte jeder Erfolg wieder in sich zusammen.
Ein schwerer Seufzer entkam Alina, als sie sich umdrehte. Sie wollte gerade nach der Tür greifen, als ein harter Schlag sie traf. Er trieb ihr die Sterne vor die Augen, dann kam die Dunkelheit.
Von allem, was die Kommissarin an ihrem Job nervte, waren die ständigen Wiederholungen zurzeit das Schlimmste. Sobald sie etwas von ihrer Ermittlung zu berichten hatte, schienen sich Mitleid und Neugier hinter den Mienen der anderen zu regen.
Die arme Julia.
Was war denn genau mit ihrem Ex?
Keins von beidem konnte sie gut ertragen. Das war in München so gewesen und auch hier nicht besser. Doch es lag auf der Hand, wie Hochgräbe eben noch einmal betonte: »Es geht hier um dich. Darüber müssen wir uns im Klaren sein.«
Seufzend hob Durant die Achseln. »Das ist mir schon klar. Aber wieso schlachtet er Tanja derart brutal ab und lässt Mia dann einfach gehen? Weil sie bewusstlos geworden war? Ich finde, diese Sorgsamkeit passt nicht zu ihm.«
»Vermutlich war sie Mittel zum Zweck«, antwortete Doris Seidel. »Jedenfalls ihr Handy, was uns ja zu Tanjas Leiche geführt hat. Wir sind uns mittlerweile ziemlich sicher, dass nicht Mia, sondern Elisa das Ziel war. Dein Patenkind.« Sie hob die Hand vor den Mund und senkte die Stimme, weil das, was sie gerade aussprach, ihr noch immer das kalte Grausen durch die Glieder jagte. »Nicht auszudenken, was er unserer Kleinen angetan hätte, wenn er sie in die Finger bekommen hätte.«
»Und Tanja?«, bohrte Durant weiter. »Was ist mit ihr? «
»Ich habe Samenspuren gefunden.« Andrea Sievers stand auf. »Natürlich ergab die Suche keinen Treffer, aber wir weiten das Ganze jetzt aus.« Sie ging zu einem der Boards und brachte nach und nach eine Handvoll Fotos mit Magneten darauf an. »Tut mir leid, aber ich kann euch die Bilder nicht ersparen.«
»Und deshalb hängst du sie gleich doppelt, ja?«, flachste Frank Hellmer.
Tatsächlich. Die Motive glichen sich, auch wenn es eindeutig nicht zweimal dieselben Fotografien waren. Durant dachte zuerst an zwei unterschiedliche Kameras. Aber da war noch mehr.
»Witzbold«, konterte derweil Dr. Sievers. »Wer möchte noch mal raten?«
»Ein anderer Tatort«, sagte die Kommissarin tonlos. Es waren Aufnahmen von blutigen Laken. Von weiblichen Fortpflanzungsorganen. Von enormer Brutalität. Und auch wenn sie die Bilder nur verschwommen und in weiter Ferne sah, da war etwas in ihrem Gedächtnis …
»Zwischen diesen Aufnahmen liegen an die fünfzehn Jahre«, referierte die Rechtsmedizinerin weiter. »Und soweit ich weiß, sind das nicht gerade Motive für die Pressekonferenz. Also woher stammt das Material, und wer hat diese Kamelle wieder hervorgekramt und aus welchem Grund? Das solltet ihr mal herausfinden, und zwar schnell, wenn ihr mich fragt.« Dann fügte sie, betont pathetisch, hinzu: »Aber mich fragt ja meistens keiner.«
Hochgräbe war anzusehen, dass er ein paar Fragezeichen auf der Stirn trug. Kein Wunder, er war noch nicht lange genug in der Stadt. Umso besser wusste Durant, was damals geschehen war. Und sie wusste auch, dass es sich nicht um denselben Täter handeln konnte. Und im Grunde auch nicht um einen Nachahmer, der dem Inhaftierten nacheiferte und sich zu neuen Morden nach demselben Schema angestachelt fühlte. Viel dramatischer war, wie der Täter damals mit ihr kommuniziert hatte. Per E-Mail. Er hatte diese Fotos selbst geschossen, zumindest einige davon. Und diese Fotos waren durchs Internet in ihren Posteingang gewandert. Wer konnte schon wissen, welche Kreise die Bilder noch gezogen hatten? Es gab Foren, in denen solche Fotos abrufbar waren. Server, die im Ausland standen. Keiner konnte etwas dagegen tun. Aber jeder, der über ein bisschen Spürsinn verfügte, war in der Lage, diese Daten abzurufen.
»Verdammt!« Sie schluckte. »Wir müssen die IT darauf ansetzen. Diese Bilder sind womöglich in irgendwelchen perversen Foren, im Darknet oder sonst wo. Der Täter kann demnach jeder sein, der ein wenig technisches Know-how besitzt.«
»Aber dann mit Kassetten rumhantieren«, kommentierte Hellmer.
Ein guter Einwand. Durant legte den Kopf schief.
»Vielleicht Taktik«, hörte sie Hochgräbe sagen. »Ein Tonband hat keine Metadaten, keinen Ortungsdienst, keinen digitalen Fingerabdruck. Je älter die Technik, desto ungefährlicher für ihn.« Er machte eine vielsagende Pause. »Julia, ich sag’s nicht gerne, aber wir haben es hier mit einem Typen zu tun, der sehr genau steuern kann, was wir von ihm erfahren und was nicht. Du stehst mittendrin in seinem Fadenkreuz, und das Verheerende dabei ist, dass er ganz bewusst Kollateralschäden verursacht.«
Wie die Bomber im Zweiten Weltkrieg, musste die Kommissarin unwillkürlich denken. Das mochte daran liegen, dass praktisch wöchentlich irgendwo im Großraum Rhein-Main alte Fliegerbomben gefunden wurden. Was wiederum mit einer Bauwut zusammenhing, die man hier seit dem Wiederaufbau nicht mehr erlebt hatte. Verhielt sich der Täter wie ein Bomberpilot? Ließ er einen tödlichen Regen über ihr niederprasseln, in der Erwartung, so viele Menschen um sie herum zu treffen, dass unweigerlich auch sie selbst klatschnass wurde?
»Warum reden wir eigentlich die ganze Zeit wie selbstverständlich von einem ›Er‹?«, warf Hellmer ein.
»Weil die Mädchen ihn gesehen haben«, kam es wie aus der Pistole von Seidel.
»Trotzdem. Dieser Typ ist dermaßen gut organisiert … Er verfolgt eine Choreografie. Tötet in zwei Großstädten, platziert in beiden Städten Spuren, entführt am selben Tag eine Frau und ein Mädchen, schlachtet eine davon ab und bereitet uns einen Fundort mit Botschaft an der Wand. Das wäre selbst für zwei Personen eine sportliche Aufgabe.«
Durant zupfte sich nachdenklich am rechten Ohrläppchen. Frank hatte recht, zugegeben. Wenn all diese Verbrechen von ein und demselben Täter begangen worden waren …
Als Hellmer nichts weiter sagte, fragte sie: »Hast du denn eine Theorie?«
Frank spreizte die Finger. »Sorry. War nur so dahingedacht. Er oder sie gehen jedenfalls ein verdammt großes Risiko ein. Das spricht dafür, dass da etwas Psychopathisches dahintersteckt. Eine vollkommene Fixierung auf dich – und auf dein Umfeld. Er oder sie wollen dir wehtun. Und dann …«, er machte eine vielsagende Pause, »…daran möchte ich lieber nicht denken.«
»Also muss es Rache sein«, sagte Hochgräbe und erkundigte sich nach den größten Fällen, in denen Durant in ihren Frankfurter Dienstjahren ermittelt hatte. Doch es waren zu viele. Allein neunzehn davon so aufsehenerregend, dass sie sich ins ewige Gedächtnis der Stadt gebrannt hatten. Manche Täter tot, andere noch immer in Haft. Überall in Hessen.
»Jahrelange Haft kann mehrere Effekte haben«, schloss Hochgräbe, nachdem er dem erregten Austausch seiner Kollegen ein Weilchen gelauscht und immer wieder Nachfragen gestellt hatte. »Entweder man bereut seine Taten oder zumindest die dadurch verlorenen Jahre. Man wird entlassen und führt ein beschauliches Leben.«
»Oder man wird begnadigt, weil unser Rechtssystem das eben so vorsieht«, unterbrach Seidel ihn schroff. Ihre Fäuste waren geballt. Der Schock über das, was um ein Haar mit ihrer Tochter geschehen wäre, saß tief.
»Ja. Mag sein«, sagte Durant. »Aber das sind doch Einzelfälle.« Sie vermutete, dass ihre Kollegin auf eine Handvoll Ex-Terroristen anspielte. Menschen, die zum Teil weder Schuld noch Reue zeigten. Einer von ihnen war, kaum dass er auf freiem Fuß gewesen war, kopfüber an einem Galgen hängend aufgefunden worden. Irgendwo im Vogelsberg. Aber führten diese Gedankenspiele sie wirklich weiter?
Andrea Sievers räusperte sich lautstark.
»Ich war eigentlich noch nicht ganz fertig«, sagte sie.
»Entschuldige. Sag doch was«, murmelte Hochgräbe und bedeutete ihr, weiterzumachen.
»War auch mal ganz nett, euch beim Arbeiten zuzuschauen. Normalerweise ist’s ja eher andersrum. Leider kann ich es euch nicht ersparen, noch eine weitere Leiche anzuschauen.«
Julia wechselte einen irritierten Blick mit Claus. Hatte es noch einen Mordfall gegeben, während sie in München gewesen war?
Doch dieser machte ein ebenso erstauntes Gesicht und wippte mit dem Kopf in Richtung der Rechtsmedizinerin, die den Schleier vermutlich jede Sekunde lüften würde.
Tatsächlich waren es drei Großaufnahmen eines blonden Mädchens.
»Laura Schrieber«, bemerkten Seidel und Durant fast gleichzeitig, und auch die Männer kniffen die Augen zusammen.
»Sehr scharfsinnig«, stichelte Sievers und klackte mit einer weiteren Handvoll Magneten. Neben den drei Fotos wieder drei neue. Der Farbstich war anders, wärmer, und die Bilder waren ein ganzes Stück unschärfer. Trotzdem erkannte man das, was zu erkennen war, recht gut.
Zumindest Julia Durant erging es so. Sie betrachtete eingehend die Fotos, die mit einem Mal noch makabrer wirkten als in ihrer Erinnerung. Die sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt hatten. Die erst sechzehnjährige Carola Preusse – auch den Namen würde sie niemals vergessen – war tot in einem Gartenhaus gefunden worden. Auf einer Pritsche liegend, die Augenhöhlen an die Decke starrend. Die Arme lagen über Kreuz, genau wie bei Laura, und auch die Beine waren entsprechend drapiert worden.
»Das … ist …« Ihr Atem stockte, und sie griff sich an die Brust und taumelte.
»Dein allererstes Opfer. Hundert Punkte«, lobte Sievers sie, doch anstatt der Kommissarin einen Preis zu überreichen oder das Publikum zum Applaus zu animieren, schritt sie hastig neben sie, um sie zu stützen. Auch Julia spürte, wie ihre Knie zu zittern begannen.
»Das ist« – sie musste rechnen – »weit über zwanzig Jahre her!«
»Richtig. Und keiner von uns, mich eingeschlossen, war damals beteiligt.«
Die Kommissarin sah sich um. Berger. Koslowski. Schulz. Die alte Riege, wenn man das so nennen konnte. Alle weg. Berger war im Ruhestand, Koslowski sonst wo, und an Schulz wollte sie nicht denken. Sie zwang die Vergangenheit beiseite. Was sie hier um sich herum sah, waren allesamt Kollegen, die nach ihr zur Mordkommission gestoßen waren. Freunde. Vertraute. Aber niemand war so lange dabei wie sie.
»Scheiße, um Himmels willen«, hauchte sie. »Wie hast du …«
»Wie ich das rausgefunden habe? Ich habe genau nach diesen Dingen gesucht, liebe Julia! Seit dieser Sache mit Tanja Wegner. Bei diesem Fall war ich ja schon dabei. Also bin ich die aktuellen Mordfälle durchgegangen und wurde ziemlich schnell fündig. Laura Schrieber wurde genau wie Tanja das Opfer eines Copykillers.«
»Bitte«, die Kommissarin schüttelte langsam den Kopf, »ich hasse dieses Wort.«
»Wenn’s aber so ist«, gab die Rechtsmedizinerin zurück.
Claus Hochgräbe unterbrach den Dialog der beiden und bat um weitere Informationen. Was war damals geschehen? Auch Seidel und Hellmer kannten die Geschichte nur vom Hörensagen. Ein Serienkiller, der junge, blonde Mädchen ermordete. Der sie mit roten Schleifchen in dünnen Zöpfen drapierte, die Rattenschwänze genannt wurden, auch wenn man das heutzutage kaum noch hörte. Carola Preusse war die rechte Brust abgenommen worden. Abgebissen? War das nicht so gewesen? Und weitere Mädchen folgten. Doch dieser Fall war lange abgeschlossen. Er hatte Durants Leben verändert, auf vielen Ebenen. Vor allem aber hatte er sie über Nacht berühmt gemacht – und ihr eine Position bei der Mordkommission verschafft, die ihr niemand streitig machen konnte.
Langsam richtete sie den Zeigefinger auf die Fotografien von Laura Schrieber.
»Laura ist älter«, zählte sie auf. »Sie hatte Geschlechtsverkehr, man fand Sperma-, aber dafür keine Bissspuren, und soweit ich mich erinnere, sind ihre Brüste unversehrt geblieben.«
»Das ist richtig«, bestätigte Sievers, »wobei man den Sex mit ihrem Freund nicht mitzählen sollte. Die fehlenden Spermaspuren des Täters gab es sowohl damals wie auch heute.«
»Und die Augen?«
Carolas Augenhöhlen waren gähnend leer gewesen. Ein Anblick, der Durant auch heute noch eine Gänsehaut verursachte.
»Lauras Augen wurden verletzt. Stiche, vielleicht mit einem Taschenmesser, aber jeweils nur ein-, zweimal. Meine Theorie ist, dass der Täter sich vor sich selbst geekelt hat, als er die Stiche ausführte. Sie sind weder schnell noch hart ausgeführt worden. Wenn du mich fragst …«
»… hatte der Täter das Ziel, eine Kopie von damals zu erschaffen?« Julia Durant nickte langsam. »Und dann hat er die Arme und Beine gekreuzt, dafür aber den Schnitt in die Brust weggelassen?«
»Graue Theorie«, meldete sich Hochgräbe zu Wort, »aber vielleicht kann ich dem Ganzen ein wenig Farbe verleihen. Die Spurensicherung hat das Ufer um den Fundort herum weiträumig abgesucht. Das Problem dabei ist, dass sie mehrere Säcke voll Müll auflesen mussten. Flaschen, Kondome, Windeln, was die Leute nicht alles wegschmeißen. Sogar einen alten Tannenbaum hat man gefunden. Wer schmeißt denn so was in die Nidda? Na ja, wie auch immer. Man hat unweit von Lauras Leiche auch noch etwas anders gefunden, von dem ich glaube, dass es dir, liebe Julia, direkt ins Auge gesprungen wäre.«
»Aha. Und was?«
»Einen Dufflecoat.«
»Einen Dufflecoat?«, wiederholte Durant und rief sich das Bild jener britischen Kapuzenmäntel vor Augen, die meist von drei bis vier Lederschlaufen und den passenden Knebeln vor dem Oberkörper zusammengehalten wurden. Schwerer Wollstoff, viel zu warm für diese Jahreszeit. Sie schluckte. Diesen Gedanken hatte sie damals auch gehabt.
»Ja«, bestätigte Hochgräbe. »Er war ungetragen, vermutlich brandneu, denn laut Spurensicherung roch er wie frisch aus der Fabrik. Sogar die Schilder hingen noch drinnen. Ein Grund mehr, davon auszugehen, dass er absichtlich dort platziert wurde.«
Julia Durant erinnerte sich. Das Foto des Mantels war damals durch die Medien gegangen. Es strahlte, zusammen mit der Aufnahme einer Wasserröhre, in der man eine weitere Leiche gefunden hatte, eine gewisse Trostlosigkeit aus, auch ohne dass man einen toten Körper darauf sehen musste. Seht her, schien das Bild zu rufen, so grausam ist unsere Welt.
Und die Fernseh- und Zeitungsredaktionen hatten sich an dieser Grausamkeit geweidet.
Julia Durant hätte sich auf die Zunge beißen können vor Ärger, allerdings weniger wegen der Medien, sondern vielmehr, weil sie erst jetzt darüber gestolpert war, dass Laura Schrieber keinem Verbrechen im Affekt zum Opfer gefallen war. Der Mörder hatte es nicht auf Laura abgesehen. Er wollte sie selbst, Julia Durant, mit diesem Mord ansprechen. Vermutlich passte Laura einfach nur in das Profil, das er suchte. Jung, blond, hübsch. Und jetzt tot.
Er hatte einen Mord begangen, zeitlich betrachtet war es womöglich der Auftakt in Frankfurt zu seinem perversen Spiel gewesen. Wäre sie vor Ort geblieben, sie hätte die Gemeinsamkeiten in jedem Fall erkannt. Denn auch ihr eigener Auftakt bei der Mordkommission Frankfurt hatte mit einer Leiche begonnen, die wie die drapierte Laura Schrieber ausgesehen hatte. Und danach? Warum Tanja Wegner? Warum einmal eine Fremde nehmen und dann eine Kollegin? Warum all diese Risiken auf sich nehmen, nur um mit ihr in eine Art Kontakt zu treten? Dahinter musste ein immenses Bedürfnis nach Aufmerksamkeit stecken, so viel wusste die Kommissarin über die Psyche von Serienkillern. Aber was wollte er ihr sagen? Sie mahlte die Zähne aufeinander, bis ihr der Unterkiefer wehtat.
»Verdammte Scheiße.« Mehr konnte sie nicht sagen.
Das Schlimmste an ihrer Situation war, dass sie praktisch untätig herumsitzen musste, bis der Täter wieder etwas unternahm. Wieder mit ihr in Kontakt trat. Ihr etwas Neues mitteilte, von dem sie nur hoffen konnte, dass sie die Botschaft dann endlich verstand.
Und was bedeutete das für sie? Machtlos musste sie dahocken. Regungslos.
Wie ein Beutetier, das erstarrt war. Das nicht wusste, in welche Richtung es fliehen sollte. Wo die tödliche Gefahr lauerte.
Ein kleiner Lichtblick in all der Düsternis, als eine Kurznachricht von ihrer besten Freundin auf dem Display erschien.
Wenn Du noch möchtest, kannst Du gegen halb acht vorbeikommen. Gruß, Alina
Natürlich komme ich, dachte die Kommissarin mit einem warmen Gefühl im Unterbauch. Und das schrieb sie ihr auch, unmittelbar auf den Gedanken folgend, zurück.
Als sie ein paar Minuten später mit Claus alleine war, unterrichtete Julia ihn von ihren Abendplänen.
»Soll ich dich rüberbringen?«, war seine erste Frage. Offenbar war ihr anzusehen, dass die Dienstbesprechung sie mitgenommen hatte.
»Nein, lass mal. Ist doch um die Ecke. Ich brauche außerdem ein bisschen frische Luft, ein paar Schritte allein, sonst fliegt mir der Kopf noch auseinander.«
Claus gab sich verständnisvoll, auch wenn Julia wusste, dass sein Schutzinstinkt geweckt war. Dort draußen lauerte jemand auf sie. Hatte es auf sie abgesehen.
»Ich passe auf mich auf«, versicherte sie ihm mit einem Kuss auf die Wange.
Alina würde ihr guttun. Gerade jetzt, mit all den Gedanken, die hinter ihrer Stirn wogten.
Denn auch Julia Durant hatte Angst.
Alina Cornelius blinzelte benommen. Das Licht tat ihr in den Augen weh, der Nacken schmerzte, als bohre sich ein Ellbogen immer fester hinein. Sie erkannte nur sehr langsam, dass es ihre eigene Wohnung war, in der sie sich befand. Registrierte den Druck, der aus all ihren Extremitäten in ihr Gehirn strahlte. Feste Bandagen, aus Klebeband oder Kabelbindern, wie sie es selbst besser kannte, als ihr lieb war.
Im Lauf ihres Berufslebens hatte Alina nicht wenige seltsame Personen angetroffen. Sexuelle Phantasien, die erst dann befriedigt waren, wenn das Gegenüber an ein x-förmiges Andreaskreuz gefesselt war. Einen Gummiball im Mund, einen Gegenstand im Anus. Peitschenhiebe. Heißes Wachs. Den Abartigkeiten der menschlichen Psyche waren keine Grenzen gesetzt. Manches davon hatte sie selbst durchleben müssen. Weiße Folter. Sensorische Deprivation. Sexuelle Gewalt. Noch immer galt es in der Welt der Männer als gesetzte Wahrheit, dass Frauen erobert werden wollten. Dass ihr ablehnendes Gebaren nur ein Spiel war. Dass sie, wenn erst einmal zum Verkehr gezwungen, sich der Lust hingeben und den Akt genießen würden.
Wie vielen Männern hatte sie diesen Zahn im Laufe ihrer Sitzungen ziehen müssen? Wie vielen Frauen hatte sie vermittelt, dass es genauso gut ihr Recht war, eine sexuell erfüllte Partnerschaft zu führen? Einzufordern, falls notwendig?
Und trotzdem. Jetzt, genau in dieser Minute, war sie nichts anderes als ein scheues, verängstigtes Wesen. Verletzlich, schwach, wehrlos. Dem Mann, dessen Konturen sich immer wieder wie ein Schatten durch den Raum bewegten, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
»Was …« Sie wollte etwas sagen, doch dann nahm sie den trockenen, klebrigen Geschmack wahr, der sich in ihrem Mundraum breitmachte. Etwas steckte darin. Ein Stück Stoff? Ein Knebel? Sie atmete heftiger, ihre Nasenflügel bebten.
»Aah«, kam es aus dem Hintergrund, und als das Gesicht des Fremden sich seitlich über ihre Schulter schob, zuckte Alina vor Schreck zusammen. »Da ist ja jemand wach.«
Er trat um den Stuhl herum, auf dem sie saß. Blickte auf seine Armbanduhr und nickte zufrieden. »Sehr gut. Ich dachte schon, ich müsse einen Eimer Eiswasser holen.«
Eiswasser? Noch immer schien ihr Gehirn nur in Zeitlupe funktionieren zu wollen. Doch dann verstand sie. Kaltes Wasser. Zum Aufwecken. Also war es ihm wichtig, dass sie wach war. Dass sie mitbekam, was geschah. Wer er war? Alina verzog das Gesicht. Jeder Gedanke, zu dem sie sich zwang, verursachte neue Schmerzen im Hinterkopf. Nur eines war ihr klar: Sosehr sie auch in ihrem Gehirn grub, sie kannte diesen Mann nicht. Aber war ihr Gehirn in diesem malträtierten Zustand überhaupt zu einer verlässlichen Einschätzung fähig?
So fremd er ihr schien, seine Stimme hatte etwas Vertrautes. Ein warmes Raunen, selbstzufrieden und fast schon fürsorglich. Wie ein Vater, der seinem kleinen Mädchen einen heißen Kakao ans Bett brachte und die Dämonen verscheuchte, die darunter lebten. Dabei entpuppte sich jedes Grinsen, dazu die eiskalten Augen, als das, was er wirklich war. Er war der Dämon. Nur dass er nicht unter dem Bett eines Kindes hauste, sondern hier, in ihrem eigenen Wohnzimmer. Alina blinzelte mehrfach. Eingebildete Mücken tanzten vor ihren Augen. Ein fremdartiger, beißender Geruch, der sie an ihre letzte Haartönung erinnerte, stieg ihr in die Nase. Einbildung? Dann verschob sich ihr Blick wieder ins Unscharfe. Doch schon spürte sie eine Hand, die ihren Kopf unsanft auffing. Ihn in die Senkrechte riss. Es folgten klatschende Handflächen, ein Brennen in ihren Wangen und ein »Hallo! Wach bleiben!«.
Aus dem warmen Raunen wurde ein unheilvolles Flüstern, als er sagte: »Wir wollen doch das Beste nicht verschlafen, oder?«
In Zeiten wie diesen, wo kaum einer mehr an der Unfehlbarkeit seines Smartphones zweifelte, gab es auch für Julia Durant nichts zu diskutieren: Sie war zu spät!
Wie oft war sie den Weg vom Holzhausenpark zum Präsidium gelaufen?
Es war nur ein Steinwurf, der Sprung zu dem Haus, in dem Alina wohnte. Eine Sache von zwei, höchstens drei Minuten. Und trotzdem hatte sie sich verschätzt.
Okay. Gegen halb acht. Das war nicht präzise, das war spontan, das bot ein wenig Raum. Aber trotzdem. Durant hasste es, sich zu verspäten.
Die letzten Meter war sie stramm marschiert, fast in einer Art Dauerlauf, und jetzt wartete sie mit hämmerndem Puls vor der Tür ihrer Freundin.
Und jetzt?
Sie atmete tief durch, pumpte Sauerstoff in die Lungen und wartete, bis der Herzschlag sich normalisierte. Dann legte sie den Daumen auf die Klingel.
Im Inneren erklang dumpf ein Glockenspiel, von dem die Kommissarin wusste, dass es dem Gongschlag des Big Ben nachempfunden war. Ein Spleen von Alina, Kitsch, der überhaupt nicht zu ihr passte, aber andererseits auch eine liebenswürdige Eigenart. Durant wusste außerdem, dass Alina die Klingel während ihrer Therapiegespräche ausschaltete.
Umso mehr fragte sie sich, weshalb dem Klang, der selbst das Surren eines Föhns durchdrang, keine Reaktion folgte. Sie horchte, dann presste sie erneut mit dem Daumen. Fester, als könnte ein größerer Druck den Schallpegel im Inneren erhöhen.
Nichts.
»Alina!« Julia Durant klopfte auf das Türblatt, direkt neben dem Guckloch.
Stille.
Ärger stieg in ihr auf. Hatte Alina sie versetzt? War sie so viel zu spät gewesen, dass sie ohne sie weggegangen war? Nein, das konnte nicht sein. Die paar Minuten. Außerdem war keine Rede davon gewesen, irgendwohin zu gehen.
Die Kommissarin fischte erneut das Handy hervor.
Das Display erhellte sich und verriet: 19 :39 Uhr.
Dann sah sie das Mitteilungssymbol am Bildschirmrand. Sie öffnete die App. Eine Nachricht von Alina Cornelius.
Eine kurzfristige Absage? Sie würde es ihr nachsehen, dachte Durant noch, wenn auch enttäuscht, während sie aufs Display tippte. Wie oft schon hatte sie selbst wegen des Jobs Verabredungen sausen lassen müssen …
Wo bin ich?
Wie bitte? Was sollte denn das? Julias Finger flogen über die Tastatur:
Ich weiß jedenfalls, wo ich bin: vor Deiner Tür!
Um nicht gar zu unfreundlich zu wirken, fügte sie noch einen Zwinkersmiley ein.
Es dauerte einige Sekunden, in denen Julia die Minisymbole verfolgte, die den Weg ihrer Nachricht veranschaulichten.
Zugestellt. Gelesen. Gegenüber tippt.
Dann traf ein Anhang ein, der sich als Audiodatei entpuppte. Zunehmend verärgert, weil sich Alina noch nie derart kindisch verhalten hatte und weil Julia sich – nach dem gestrigen Treffen – etwas mehr Seelenpflege und Rücksicht gewünscht hätte, aber auch neugierig, tippte sie darauf. Vielleicht gab ihre Freundin sich ja auch ganz besonders Mühe. Vielleicht rührte ihr Unmut primär daher, dass sie nicht die Kontrolle hatte. Etwas, mit dem Julia nur sehr schlecht umgehen konnte. Vielleicht ihre größte Schwäche, wie sie sich (höchst ungern) eingestehen musste. Oder war es am Ende nur ein Gefühl, mit dem sie ein anderes überspielte? Besorgnis? Angst?
»Jetzt bist du da, wo ich dich haben will.«
Beim ersten Mal waren ihre Gedanken viel zu weit weg, um zu begreifen, was eben geschah. Also noch mal.
Es war wieder Stephan! Diese gleichermaßen vertraute wie unangenehme Stimme. Dieselben Worte, die sie in München von der Kassette gehört hatte.
»Jetzt bist du da, wo ich dich haben will … Aber wo bin ich?«
Zumindest der erste Teil war gleich.
Aber dann: »Wo bin ich?«
Julias Augen hafteten auf den drei Worten, die Alina ihr unmittelbar vor dem Soundfile geschickt hatte.
Wo war sie? Was passierte hier gerade?
Sie schob das Telefon in ihre Hosentasche und hämmerte mit beiden Fäusten an die Tür. Und es war keine Wut, es war keine Enttäuschung, es war die blanke Panik, die aus ihr schrie: »Alina!«
Julia Durant hatte begriffen, dass etwas unendlich Schreckliches passiert war.
Etwas, an das sie nicht einmal denken wollte.
Frank Hellmer war leidenschaftlicher Schwimmer und Boxer, was oft von den Kollegen belächelt wurde. Nur Bonzen wie er – genau genommen hatte er ja nur eine superreiche Frau geheiratet – würden ein eigenes Schwimmbad und einen Fitnessraum ihr Eigen nennen. Hellmer versuchte zwar, diese Spitzen von sich abprallen zu lassen, aber es gelang ihm nicht immer. Für ihn selbst war der Sport viel mehr als nur ein Ausgleich für sein schlimmstes Laster, das Rauchen. Er lenkte seine Aggressionen und seinen Frust in die richtigen Bahnen. Dort, wo er früher zum Alkohol gegriffen hatte, stählte er nun seinen Körper. Sollten andere doch neidisch sein.
Mit einem zufriedenen Blick betrachtete er die gesplitterte Holzzarge. Die Tür hatte schon beim zweiten Versuch nachgegeben, nachdem er es beim ersten Mal nur zaghaft probiert hatte. Seine Schulter würde ein paar Tage wehtun, aber das machte nichts. Julia Durant hatte ihn zur Eile angetrieben, vor ein paar Minuten erst hatte er seinen Rechner im Präsidium heruntergefahren, um sich auf den Nachhauseweg zu machen. Jetzt stand er in der aufgebrochenen Tür zu Alinas Wohnung. Im Treppenhaus gafften zwei Nachbarn, die Julia mit seinem Dienstausweis in Schach hielt. Sie selbst trug weder den Ausweis noch ihre Waffe bei sich. Warum auch? Sie war privat hier.
»Wollen wir?«
»Aber sicher«, antwortete Durant und schlängelte sich an ihm vorbei.
»Sie warten draußen!«, sagte Hellmer scharf in den Flur hinein.
Julia Durant ließ ihren Blick wandern. Immer noch spürte sie das Pochen des Herzens bis unters Kinn. Alles wirkte unverändert. Kerzen brannten auf dem Couchtisch. Im Hintergrund dudelte softe Rockmusik. Und doch war etwas anders: Es roch nach Parfüm, Haarspray, Shampoo. Eine Mixtur aus Pflegeprodukten, die dominant im Raum stand, als habe man sie soeben erst angewendet.
Nur von Alina Cornelius fehlte jede Spur.
»Kirschen?«, erkundigte sich Hellmer, der neben die Kommissarin getreten war, ohne dass sie es bemerkt hatte. »Zu dieser Jahreszeit?«
Durant fuhr zusammen, dann folgten ihre Augen seinem Zeigefinger.
Auf dem Esstisch stand eine Etagere. Und wie eine Kaskade lagen frische, pralle Kirschen auf allen drei Ebenen. Die Kommissarin machte einen Sprung darauf zu.
Eine Kassette!
Zur Hälfte unter den blutroten Kugeln verborgen, lugte sie hervor. Und wieder der Schriftzug »Chérie«. Und damit die endgültige Gewissheit, dass ihre beste, ihre engste Freundin zum Opfer dieser gottverdammten Drecksau geworden war.
Ihr Herz raste, als sie den Kopf in Richtung Küche reckte und anschließend das Badezimmer musterte, wo die chemischen Gerüche noch intensiver in der Luft hingen. Im Waschbecken ein Karton mit einem Haarfärbemittel. Eine Schere, Haare, aber keine Spur von Alina.
»Julia!«
Hellmers Stimme verhieß nichts Gutes. Sie kam aus dem Raum, der am weitesten vom Wohnzimmer entfernt lag. Im hinteren Bereich, der Parkettboden verengte sich zu einem schmalen Gang, dann eine Tür. Erst ein einziges Mal hatte Julia Durant die Schwelle zu Alinas Schlafzimmer übertreten. In einem anderen Leben, wie es ihr heute vorkam. Aber dennoch. Sie wollte am liebsten zu ihrem Kollegen stürzen, aber etwas hielt sie zurück. Wie an einem Gummiband, das sich immer heftiger dehnte, tappte die Kommissarin durch den Flur. Die weiß glänzende Tür stand offen, aber Hellmer verdeckte die Sicht auf das Innere. Gedämpftes Licht drang zu ihr. Plötzlich wechselte der Farbton. Vermutlich eine dieser Stimmungsleuchten, dachte Julia, denn sie wusste, dass Alina auf derlei Dinge stand.
Der nächste Farbwechsel tauchte das Schlafzimmer von einem leuchtenden Rot in ein blasses Blau. Sie musste die Augen zusammenkneifen, denn nun schien alles viel dunkler.
»Gibt es hier kein richtiges Licht?«, fragte die Kommissarin, als sie sich neben Frank in den Raum drängelte. Doch das, was sie sehen musste, brauchte kein Mehr an Licht.
Wo bin ich, Chérie?
Blutrote Lettern, praktisch im selben Stil wie die Wandschmiererei in dem Raum, wo Tanja Wegner aufgefunden worden war. Die Aufnahmen hatten sich nicht in Durants Gedächtnis brennen müssen, um zu erkennen, dass sie denselben Ursprung hatten.
Nur, dass das Bett unbenutzt schien. Das Laken sauber. Und von Alina Cornelius keine Spur. Gott sei Dank .
»Chérie«, brummte Hellmer. »Das geht dann wohl eindeutig an dich.«
Doch anstatt etwas darauf zu erwidern, traf Durant eine Erkenntnis.
»Die Praxis!«, rief sie.
»In Höchst?«, wunderte sich Hellmer.
»Quatsch, Frank! Alina ist doch hierher gewechselt!«
»Ach, stimmt«, murmelte ihr Kollege, in dessen Hand noch immer die Dienstwaffe lag. Er drehte sich in Richtung Tür. »Wo genau müssen wir hin?«
Durant schritt voran. Im Hinausgehen traf ihr Blick das Schlüsselbrett, an dem sie einen einzelnen Bartschlüssel mit einer kitschigen Hasenpfote daran baumeln sah. Sie wollte danach greifen, dann kam ihr der Gedanke, dass sie Handschuhe tragen sollte. Natürlich hatte sie keine einstecken, doch Frank hatte längst erkannt, was ihr durch den Kopf ging.
»Hier«, sagte er und hielt ihr wedelnd einen Latexhandschuh entgegen.
»Danke.«
»Null Problemo. Eine Tür aufzubrechen reicht meiner alten Schulter erst mal für ein Weilchen.«
Dreißig Sekunden später schwang die Tür zu Alinas Praxis auf. Die Nachbarn hatten sich in ihre Wohnungen zurückgezogen, doch für Julia bestand kaum ein Zweifel daran, dass man hinter den Türspalten lauerte. Es störte sie nicht. Und sie unterdrückte den Gedanken daran, dass die Nachbarn sich womöglich noch als wichtige Zeugen entpuppen konnten. Zeugen für was?
Sie wollte nicht daran denken.
Der Notarzt kniete neben einem der ledernen Sessel, von denen zwei Stück in dem quadratischen Zimmer standen. Zwischen ihnen ein runder, ockerfarbener Teppich, darauf ein Glastisch. Die Oberfläche war blank poliert, alles im Raum war blitzsauber. Der Schreibtisch in der hinteren Ecke. Der Computer. Julia Durant wusste, dass Alina eine Putzfrau dafür bezahlte, die offensichtlich jeden Cent wert war. Doch all das war in diesem Augenblick zweitrangig.
Denn in dem Sessel saß Alina Cornelius. Tot.
Durch einen Tränenschleier registrierte Julia, dass der Arzt aufgestanden war und sich Notizen machte. Ein vorläufiger Totenschein. Personalien, Sterbeort, Sterbezeit. Todesursache. Der Arzt zögerte nicht lange, als er den letzten Punkt als »nicht natürlich« dokumentierte. Die Leichenschau in der Rechtsmedizin würde zu einem endgültigen Ergebnis führen.
»Geht es wieder?«, erklang Franks Stimme, der zuvor dem Arzt die nötigen Informationen gegeben hatte. Um neugierige Blicke brauchte er sich nicht mehr zu kümmern, das erledigten nun zwei Kollegen der Schutzpolizei. Und in jeder Sekunde mussten auch Platzeck und die Spurensicherung eintreffen.
Das Schlimme war: Julia konnte den Kopf nicht ausschalten. Wie gerne wäre sie einfach an Alinas Seite versunken, die Hand ihrer Freundin in der ihren liegend. Schreiend, weinend, im Stillen trauernd. Irgendwas . Doch stattdessen geisterten ihr die alltäglichen Bilder ihrer jahrelangen Berufserfahrung durch den Kopf. Wer von den »Gnadenlosen« würde durch die Tür treten? Der Begriff, mit dem man die Bestatter im Polizeijargon bezeichnete, die ihren Transportsarg mit sich führten. Darin würde Alina nun also bald liegen, dachte die Kommissarin weiter. Dort, wo schon so viele andere Opfer gelegen hatten. Namen, die zu Fallnummern geworden waren. Die man irgendwann vergaß.
Nicht Alina!
»Julia!«, drängte Hellmer erneut.
»Was ist denn?«, zischte sie unwirsch.
»Willst du nicht lieber nach Hause? Ich bring dich …«
»Du hast sie wohl nicht alle! Ich bleibe!«
»War ja nur eine Frage. Dann friss das aber um Himmels willen nicht alles in dich rein! Ich bin für dich da – wir alle.«
Julia umarmte Frank und klammerte sich sekundenlang an ihm fest. An ihrem ältesten Freund, ihrem langjährigen Kollegen. Und sofort beschlich sie eine furchtbare Angst. Die Spirale wurde immer enger. Zuerst ihr Ex, den sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte. Dann ihre Kollegin von damals, als sie frisch nach Frankfurt gekommen war. Außerdem Elisa, ihr Patenkind, wenn man die gescheiterte Entführung mitzählte. Und jetzt Alina. Wie nah wollte er ihr noch kommen? War Frank Hellmer die nächste logische Wahl? Oder sie selbst?
»Verdammt«, schluchzte sie. »Was soll diese ganze Scheiße? Warum kommt er nicht einfach … warum hat er nicht …«
Mit einem Ruck richtete sie sich kerzengerade auf. Wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schaltete um. Von trauernder Freundin auf Mordermittlerin. Von verängstigter Beute zur Jägerin. Nein! Alina Cornelius würde nicht zu einer Nummer werden, nicht in Vergessenheit geraten und kein Mittel zum Zweck für einen psychopathischen Killer werden.
Julia Durant atmete entschlossen ein und aus. Sie würde sich ihm stellen, sie würde ihn jagen, und sie würde ihn zur Strecke bringen. So weit der Plan. Auch wenn sie noch keinerlei Idee hatte, wie sie diesen Plan in die Tat umsetzen sollte.
Zuerst musste sie nach weiteren Details Ausschau halten. Die Sprache des Unbekannten verstehen. Seine Botschaften dekodieren.
Und eine dieser Botschaften saß kaum zwei Meter von ihr entfernt. Es war Alina Cornelius.
Ihre Haare waren kastanienbraun. Der Geruch lag noch in der Luft. Frisch gewaschen, gefärbt, frisiert und geföhnt. Ein Lippenstift in tiefem Rot, den Julia erkannte, weil sie diese Farbe selbst häufig benutzte. Dazu ein mattierender Puder, der den natürlichen Teint nicht verfälschte. Unauffällige Silberohrringe. Dazu eine weiße Bluse und Bluejeans, aus deren Hosenbeinen zwei nackte Füße mit rot lackierten Nägeln lugten.
Alina selbst war die Botschaft.
Sie war eine Kopie von Julia Durant. Wie ein lebloses Spiegelbild, das der Kommissarin einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte.
Andrea Sievers traf nur wenig später am Tatort ein. Sie umarmte Julia schweigend, und die beiden hielten sich eine ganze Weile fest. Dann streifte sie sich einen Schutzanzug über und überflog den Bericht des Notarztes. Ein stummes Nicken ließ darauf schließen, dass sie mit den Eintragungen einverstanden war. Und auch wenn es vollkommen genügt hätte – und auch üblich gewesen wäre –, wenn Andrea die Obduktion Alinas in der Rechtsmedizin vorgenommen hätte, wusste Julia es zu schätzen, dass sie hergekommen war.
»Ist doch klar«, hatte Andrea nur geraunt.
Nein. Es war nicht klar, dachte die Kommissarin, und ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Brannte im Rachen, als sie ihn wegschlucken wollte. Auch Dr. Sievers war eine recht gute Freundin, mit der sie seit geraumer Zeit zusammenarbeitete. War sie ebenfalls in Gefahr?
Oder würde es jemand sein, der ihr noch näher stand als Alina?
Julia Durant blickte sich suchend um. Auch Claus Hochgräbe war eben eingetroffen, Frank Hellmer schien ihn gleich am Eingang abgefangen zu haben, und die beiden wechselten ein paar Sätze. Als die Männer in Durants Richtung sahen und ihre Blicke sich trafen, erstarrten sie, als habe sie die beiden bei etwas Verbotenem ertappt. Dann kam Claus zielstrebig auf Julia zu.
»Ich habe Angst«, flüsterte sie.
»Das ist eine Übersprunghandlung.« Claus war ihr ganz nah, aber das, was er sagte, passte ins Bild. »Was soll denn passieren?«, sprach er weiter. »Wir sind alle zusammen, eine Menge Polizei. Momentan sind wir so sicher wie in Abrahams Schoß.«
»Und nachher? Und morgen?«, widersprach sie gereizt. »Wer sagt mir denn, dass es nicht Frank trifft, oder Andrea«, sie stockte, »oder dich? «
Hochgräbe legte den Arm um sie und zog sie ganz nah zu sich. »Ich passe auf dich auf, Liebste. Und gemeinsam passen wir auf alle anderen auf. Versprochen.«
Seine Worte verhallten, ohne eine große Wirkung zu zeigen.
»Möchtest du nicht nach Hause gehen?«
»Ich hör wohl nicht richtig!«
»Julia!« Er deutete zum Sessel, wo nun Andrea Sievers bei der Toten stand. »Dort drüben sitzt deine beste Freundin. Ermordet. Da ist Trauer, da ist Schuld, da ist wer weiß was für ein Gefühlschaos in dir. Du brauchst Abstand, das steckt keiner so weg, und das weißt du auch. Ich mache mir Sorgen um dich«, und jetzt kam Hochgräbe selbst ins Stocken, »na ja, und außerdem …«
»Außerdem … was? «
»Du bist vermutlich raus aus der Ermittlung«, sagte Claus Hochgräbe mit gedämpfter Stimme.
Beinahe hätte Durant ihre eigene Zunge verschluckt. Mit geballten Fäusten, unfähig zu einer weiteren Reaktion, lauschte sie seiner Erklärung, die wie eine billige Rechtfertigung klang.
»Hör mal. Dein Ex, deine Kollegin, deine Freundin. Schon ein Toter mit persönlicher Beziehung wäre ein Grund, wegen Befangenheit auszuscheiden. Hier sind es gleich drei. Selbst wenn wir die ersten beiden aus der Gleichung nehmen – weil München, weil lange nicht mehr gesehen –, macht dieser Mord das Ganze eindeutig.«
Natürlich hatte Hochgräbe recht. Und er war in der unschönen Position, seiner geliebten Partnerin beistehen und sie gleichzeitig als Chef vor den Kopf stoßen zu müssen. All das tat er, weil die Rechtslage es von ihm verlangte. Weil er sich um sie sorgte. Und dennoch – es fühlte sich falsch an. Hoffnungslos. Als würde die Nacht sich nie wieder durch einen Sonnenaufgang zum Tag verwandeln können.
Hochgräbe hatte vieles erwartet oder befürchtet, die beiden kannten und liebten sich seit Jahren. Doch statt Wutschnauben, Trotz oder Angriffsfunkeln fiel Durant ihm einfach nur in die Arme und ließ ihren Tränen freien Lauf.
»Ich bring dich nach Hause«, raunte er ihr nach einer geraumen Zeit zu.
»Lass mich zu Fuß gehen«, bat sie stattdessen. »Das Auto steht noch im Präsidium, bis dahin sind es doch nur ein paar Meter.«
»Wirklich?« Hochgräbe war sich nicht sicher, ob er sie wirklich allein lassen sollte.
Doch er wusste, dass Julia Durant, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, nur schwer davon abzubringen war. Immerhin hatte sie sich seinem Vorschlag, diesen schrecklichen Ort zu verlassen, nicht widersetzt. Und das Präsidium lag praktisch in Sichtweite, alle paar Minuten kreuzten hier Streifenwagen auf.
»Na gut«, sagte er schließlich, wenn auch immer noch widerwillig, und streichelte ihr ein letztes Mal über die zerzausten Haare. »Aber ich postiere jemanden vor dem Haus.«
Julia Durant nickte. Dann küsste er sie auf die Stirn und blickte ihr lange nach, bis der Kopf am unteren Ende der Treppe verschwunden war.
Rückblickend hätte sie nicht einmal zu sagen vermocht, ob sie zu irgendeinem Zeitpunkt tatsächlich vorgehabt hatte, nach Hause zu gehen. In eine Traumwohnung, zweifelsohne, die mit dem beklemmenden Apartment in Schwabing rein gar nichts gemein hatte. Doch was hätte sie dort tun sollen? Eine Flasche Wein öffnen? Eine heiße Badewanne einlassen? Sich den Verlust, das Blut, auch wenn es nur sinnbildlich an ihr klebte, einfach von knisterndem Badeschaum abspülen zu lassen? Ganz sicher nicht!
Julia Durant war, noch immer auf butterweichen Beinen, die Bertramstraße entlanggegangen. Nach und nach festigte sich ihr Gang. Als sie das Polizeipräsidium über die Polizeimeister-Kaspar-Straße erreichte und in der Tasche nach ihrem Autoschlüssel angelte, fühlte sie sich wieder geerdet. In ihrem Inneren allerdings tobte ein Kampf der Gefühle. Wut, Verzweiflung, Entschlossenheit. Widersprüchliche Impulse, die säuerlich aufstießen und sich stechend in ihrem tiefsten Inneren bemerkbar machten. Ein Königreich für Franks Boxsack, um sich dort abzuarbeiten. Oder in Laufschuhen durch die Natur jagen, so einsam, dass keiner die Schreie hören würde. Doch all das waren keine realistischen Optionen.
Sehr realistisch dagegen erwies sich nach einer kurvenreichen Fahrt in Richtung Bonames eine Tankstelle am Rand des Industriegebiets, in dem es vor Jahren einen tödlichen Schusswechsel mit einem Motorradfahrer gegeben hatte. Solche Punkte gab es überall in der Stadt, im Lauf der Jahre hatte sich praktisch in jeder Ecke ein Verbrechen ereignet, an dessen Aufklärung Julia Durant beteiligt gewesen war. Heute hatte sie sich jedoch nur für die Tankstelle interessiert. Mit fünf Dosen Bier, so viel, wie sie unter den linken Arm klemmen konnte, hatte die Kommissarin an der Kasse gestanden. Es war nicht viel los, nur ein paar Machotypen mit ihren getunten Karren, dazu zwei Fahrzeuge mit schwedischen Kennzeichen, die an den Zapfhähnen hingen.
»Ein Päckchen Gauloises noch«, orderte Durant. Mit der Rechten angelte sie sich ein Feuerzeug aus einem Display. Musterte das offensichtlich überteuerte Objekt. Elektrisch mit USB -Anschluss. Verrückte Welt. Sie steckte es zurück zu den anderen. »Haben Sie vielleicht Streichhölzer?«, fragte sie.
Der Angestellte hinter der Kasse, sie schätzte ihn auf um die dreißig, grinste. »Logo. Aber zuerst müsste ich wohl Ihren Ausweis sehen.«
»Perso oder Dienstausweis?«, erwiderte sie trocken und ließ das Portemonnaie auf den Tresen knallen.
Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie sich womöglich geschmeichelt gefühlt, auch wenn die Masche recht plump rüberkam. Oder sie hätte sich geärgert, denn sie war längst in einem Alter, das eine derartige Schmeichelei ins Lächerliche zog. Heute indes konnte sie nicht einmal den Gesichtsausdruck ihres Gegenübers genießen, mit dem sie ihn zurückließ. Schweigend packte sie das Wechselgeld ein, schob Zigaretten und Streichhölzer – »Die gehen aufs Haus« – in ihre Tasche und schnappte sich die Bierdosen, die mittlerweile so stark angelaufen waren, dass dicke Wassertropfen an den Blechwänden herabrannen.
Der Motor startete, und sofort setzte auch die laute Rockmusik ein, die Julia unterwegs gehört hatte. Begleitet von Bryan Adams’ legendärer Six String und dem Highway to Hell von AC /DC , lenkte sie ihren knallroten Opel Roadster zurück auf die A661 in Richtung Oberursel, und von dort aus ging es hinauf zum Feldberg.
Drei Dosenbier später. Das Wageninnere hatte zunächst dem einer Disco in den Neunzigern geglichen. Nebelschwaden, laute Musik, schattenhafte Bewegungen. Julia hatte geschrien, geweint, die CD zerbrochen und in den Fußraum geworfen, als das Intro von Knockin’ On Heaven’s Door auch ihren Totalzusammenbruch einleitete.
Nun kauerte sie einfach nur da. Das Fahrerfenster ein Stück hinuntergelassen, draußen die friedliche Stille des Waldes. Sie rauchte die achte oder neunte Zigarette, und das nach so vielen Jahren der Standhaftigkeit. Das Bier zeigte Wirkung. Schon nach der zweiten Dose, das wusste sie, war es mit ihrer Verkehrstüchtigkeit dahin gewesen. Doch all das war in diesem Augenblick nicht wichtig. Keine Gedanken. Es zählte nur der nächste Schluck, der nächste Zug am Filter. Das nächste Streichholz. Zum Glück bestand nach dem ergiebigen Regen am Wochenende wenigstens keine Waldbrandgefahr mehr. Denn natürlich stimmte es nicht, dass sie keine Gedanken hatte. Doch es waren nur einzelne, unzusammenhängende Impulse.
Susanne Tomlin. Ehemals beste Freundin, bis sie ihren Lebensmittelpunkt an die Côte d’Azur verlegt hatte. Seitdem bestenfalls auf Rang zwei. Seit knapp zwei Stunden wieder aufgestiegen.
Durant verachtete ihr Gehirn für derartige Schlussfolgerungen.
Sie schnippte die Zigarette, plötzlich angeekelt, aus dem Fenster und spülte den Geschmack mit dem restlichen Bier in der Dose hinunter.
Er stand so nahe, dass er den Glutpunkt sehen konnte. Wie er einen kurzen Bogen in die Höhe beschrieb, dann in Richtung Teerdecke sauste und nach dreimaligem Hüpfen zum Stehen kam und verglomm. Selbst das Zischen auf dem feuchten Untergrund meinte er zu hören. Wartend, im Schutz der Bäume, hätte er selbst nichts lieber getan, als eine Zigarette zu rauchen, doch er wusste, dass er das aus vielerlei Gründen nicht durfte. Der Hauptgrund war, dass er sein Versteck nicht preisgeben wollte.
Andererseits … Warum sollte er nicht einfach zu ihr rübergehen? Rotzfrech an ihr halb geöffnetes Fenster klopfen und nach einer Kippe fragen? Hier oben im Dunkel, fernab von grellen, eng stehenden Straßenleuchten und Autoscheinwerfern, würde sie fast nichts von seinem Gesicht zu sehen bekommen. Es sei denn, er fragte sie nach Feuer.
Warum zum Teufel benutzte sie Streichhölzer?
Hatte der Wagen keinen Zigarettenanzünder?
Und weshalb hatte sie kein Feuerzeug?
Der Mann in der Finsternis kämpfte gegen den aufkommenden Drang, aus der Deckung zu treten. Sie saß da, ungeschützt, verletzlich, wie auf dem Präsentierteller.
So wirst du sie nie wieder vorfinden, wisperte die Stimme in seinem linken Ohr.
Und dein Plan? All deine Mühen? Umsonst?, antwortete es sofort von rechts.
Er musste einfach nur die paar Schritte wagen. Die Hand ins Fenster, so schnell, dass sie nichts dagegen tun konnte. Die Verriegelung der Tür, falls sie überhaupt aktiviert war, lösen. Hinein. Über sie. Neben sie. Bevor sie etwas kapieren würde, wären seine Hände überall. Und sie wäre machtlos. Würde dasitzen und ein letztes Mal sein tödliches Flüstern hören, bevor ihr Lebensfunke erlosch.
»Nein«, sagte er tonlos, aber bestimmt, und es war an beide Stimmen gleichzeitig gerichtet.
Julia Durant würde nicht sterben, ohne etwas zu kapieren.
Sie würde alles kapieren. Und erst nachdem er ihr alles andere genommen hatte, würde er entscheiden, wann auch sie endlich sterben durfte.
Als Claus Hochgräbe um die Ecke bog, hielt er Ausschau nach dem Roadster. Ergebnislos. Die Luft schmeckte frostig, dabei lagen die Temperaturen noch immer deutlich im Plusbereich. Stoßstange an Stoßstange, sagte er sich, während er nach dem Haustürschlüssel griff. Wer konnte schon wissen, wo Julia einen Parkplatz gefunden hatte. Oder ob sie überhaupt den Wagen genommen hatte.
Dem Kommissariatsleiter jedenfalls hatte die Viertelstunde zu Fuß gutgetan, sein Kopf fühlte sich ein wenig freier an, doch es lastete ein schwerer Schatten auf seiner Seele. Zwei Türen und eine Treppe trennten ihn noch von seiner Liebsten. Doch statt eines gemütlichen Abends warteten Trauer, Wut und Verzweiflung auf ihn. Hatte ihre Seele nicht schon genug Narben? Hochgräbe spürte, wie die Wut auch in ihm wieder aufstieg. Wie feige konnte man sein? Doch in Wirklichkeit waren es ganz andere Fragen, denen er auf den Grund gehen musste. Das Warum war wichtig. Das Wer . Nur auf diesem Weg konnte die Identität des Täters ermittelt werden. Er hatte einen Kriminalpsychologen kontaktiert, den er von früher kannte. Spätestens morgen würde er in Frankfurt eintreffen. Bis dahin …
Bis dahin werde ich einfach da sein, dachte er. Ein verlässlicher Partner, ein Freund, eine Schulter zum Ausheulen. Hochgräbe schob den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Haustür. Er zog seine Sohlen über das Gitter, auch wenn sie nicht schmutzig waren. Frau Holdschick, so wusste er, schätzte es nicht, wenn man sich die Füße nicht abtrat, bevor man auf die alten Bodenfliesen trat, die aus dem vorletzten Jahrhundert stammten. Dabei hatte die einst so elegante Dame in den letzten Monaten stark abgebaut. Wann hatte er sie zum letzten Mal gesehen? Wann hatte er zuletzt die Essensgerüche im Treppenhaus riechen dürfen? Er wusste es nicht. Als er an ihrer Wohnungstür vorbeischlenderte, hielt er kurz an. Fast war ihm, als läge ein zarter Geruch nach Soße und Kohl in der Luft. Doch dann schüttelte er den Kopf. Wunschdenken. Im Weitergehen glaubte er, Stimmen aus der Wohnung zu hören. Vermutlich der Fernseher.
Fünf Minuten später wurde Claus Hochgräbe klar, dass Julia Durant weder mit dem Wagen noch zu Fuß hierhergekommen war. Und für einige Sekunden packte ihn die kalte Angst.
Er riss das Telefon aus der Ladestation und drückte eine Kurzwahltaste. Nichts.
Noch mal. Wieder nichts.
Hatte Julia ihr Handy überhaupt mitgenommen? Der Besuch bei Alina wäre immerhin ein privates Treffen gewesen. Doch andererseits: Wer ging heutzutage schon ohne Mobiltelefon aus dem Haus? Julia jedenfalls nicht. Und schon gar nicht, während eine solche Ermittlung lief.
Hochgräbe schritt dennoch die üblichen Plätze ab, an denen Julia ihr Gerät ablegte. Wohnzimmer- und Küchentisch. Ladekabel im Schlafzimmer. Wenn es an keinem dieser Orte war, dann …
Der Badezimmerschrank kam ihm noch in den Sinn. Doch auch hier nichts. Sie musste es bei sich haben.
Erneut wählte er mit zittrigen Fingern die Kurzwahl, anschließend versuchte er es auch noch über sein Smartphone. Sicher ist sicher, dachte er. Als auch dieser Versuch ins Leere lief, verfasste Hochgräbe eine Kurznachricht über seinen Messenger-Dienst.
Bin zu Hause – Wo bist Du?? Bitte melde Dich mal!! Kuss, Claus
Er drückte auf Senden. Doch selbst nach ewig erscheinenden Sekunden verriet ihm die App nur, dass seine Zeilen nicht zur Empfängerin durchdrangen. Julia Durant befand sich entweder in einem Funkloch oder im Flugzeugmodus, oder sie hatte ihren Apparat schlicht und ergreifend ausgeschaltet.
In seinem Kopf begannen die Gedankenschreie. Hätte er sie bloß nicht alleine losgehen lassen! Sollte er zurück zum Präsidium laufen, um nachzusehen, ob der Wagen noch auf dem Parkplatz stand?
Dann hörte er ein Poltern im Treppenaufgang, und vor Schreck wäre ihm um ein Haar das Telefon aus der Hand gefallen. Das Haus war alles andere als hellhörig, also musste es schon ein ordentliches Rumpeln gewesen sein, was sich da zugetragen hatte. Frau Holdschick? Claus stürzte in Richtung Tür, griff nach dem Drücker, aber dann schabte auch schon Metall auf der anderen Seite. Das Knabbern eines Schlüssels, der sich seinen Weg durch die Bolzen des Zylinderschlosses bahnte.
Als er die Tür aufriss, stolperte sie ihm entgegen.
»Julia!«, keuchte er, halb erleichtert, halb empört. Alles an ihr roch, als habe sie stundenlang in einer Kneipe gesessen. Mehr noch, als habe sie sich hinter der Theke auf dem Boden gewälzt. Aber sie war zu Hause, lag kraftlos in seinem Arm.
Hochgräbe hielt sie fest an sich gedrückt, dann nahm er ihre Wangen zwischen die Hände. »Um Himmels willen, wo kommst du denn her?«
»Nur ein bisschen rumgefahren«, war die Antwort. Herausgestoßen von einer schweren Zunge, getragen von einer Woge aus Bier und kaltem Rauch.
Claus Hochgräbe hielt sich den Handrücken vors Gesicht.
»Mei!« In angespannten Situationen kam das Bayerische durch. »Gefahren? Du bist doch betrunken!«
»Na und?«, lachte Durant gackernd und winkte ab. »Ich fahre betrunken besser als du nüchtern!«
Damit stolperte sie zum Badezimmer, wo sie sich lauthals übergab.
Hochgräbe stand noch immer im Flur, unfähig, etwas zu unternehmen. Er war überfordert mit ihr, mit dieser Situation, mit allem. Was sollte er tun? Wie konnte er einer Frau helfen, die keine Hilfe wollte? Die den größten Teil ihres Lebens alleine zurechtgekommen war – und gut zurechtgekommen war …?
Im nächsten Augenblick hörte er ein Poltern. Der Klodeckel knallte runter, dann ein Scheppern, vermutlich der Handtuchständer. Dann ein: »Scheiße!«
Und ein herzzerreißendes Schluchzen.
Claus machte sich entschlossen auf den Weg zum Badezimmer.
Er würde da sein, er würde tun, was immer nötig war. Er würde sich um dieses betrunkene Häufchen Elend kümmern und sie durch die Nacht bringen.
Aber morgen … Morgen, sagte er sich, morgen jage ich den, der das meiner Liebsten angetan hat.
Denn allmählich, nur ganz leise, aber immer wiederkehrend, formte sich ein schrecklicher Verdacht in Hochgräbes Geist. Vielleicht auch ein Bauchgefühl, aber es war eines von jener Sorte, das immer wiederkehrte.
Morgen würde er die anderen darüber informieren und die nötigen Schritte unternehmen. Bloß Julia, entschied er, durfte hiervon nichts erfahren.
Noch nicht.